Titel
Die List der Gene. Strategeme eines neuen Menschen


Herausgeber
Kleeberg, Bernhard; Metzger, Stefan; Rapp, Wolfgang; Walter, Tilmann
Reihe
Literatur und Anthropologie 11
Erschienen
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Stefan Sperling, Department of Anthropology, Princeton

Die Biowissenschaften, die seit der so genannten Entschlüsselung des menschlichen Genoms fast wöchentlich Erkenntnisse vermelden, die unsere Verhaltensformen für genetisch begründet und so für dekodierbar erklären stellen in alter Tradition wieder einmal die vollständige Deutung der menschlichen „Natur“ in Aussicht. Die Aufbruchsstimmung erinnert an die frühen Tage der Soziobiologie, in denen einer ihrer Gründungstexte, das Buch „Sociobiology: The New Synthesis“1 von E.O. Wilson, die amerikanische Fach- und Laienwelt gleichermaßen erschütterte und bis heute nicht beigelegte internationale und interdisziplinäre Kontroversen auslöste.

Durch die Synthese von Evolutionstheorie und molekularer Genetik entwickelten Soziobiologen eine Art soziologischen Utilitarismus, dessen Kalkül im biologischen Nutzen besteht, den Menschen aus sozialen Beziehungen ziehen und der letztendlich im biologischen Determinismus menschlichen Verhaltens mündet. 2 Im Zuge der Übersetzung des Biologischen ins Soziale wird die Bedeutung menschlicher Handlungen ausgeblendet und werden diese mit ihrer Motivation gleichgesetzt. Da Wilson und seine Anhänger immer noch nachdrücklich die Umorientierung des gesamten sozialwissenschaftlichen Denkens von kulturellen auf biologische Ansätze fordern, stellt sich für Geistes- und Sozialwissenschaftler erneut die existenzielle Frage, welche Verluste bei einem solchen Paradigmenwechsel zu beklagen sind und wie es der Soziobiologie so schnell gelingen konnte, soziale Werte und Wirklichkeiten derartig mit biologischen Erkenntnissen zu verknüpfen, dass sie für den größten Teil der Bevölkerung den Anschein von tieferer Bedeutung und schicksalhafter Wahrheit angenommen haben.

Die elf Autoren des zu besprechenden Bandes, der auf einen Workshop im Oktober 2000 zurückgeht, haben es sich zum Ziel gesetzt, die Monokultur der Biologie mit kulturwissenschaftlichen Perspektiven anzureichern und durch Sichtbarmachung ihrer kulturellen Einbettung zu relativieren. Sie stammen aus verschiedenen Fachbereichen, namentlich der Genetik, Germanistik, Geschichte, Psychologie und Religionswissenschaft. Die Beiträge analysieren neben der Semantik der Argumentationsstrategien der Rede von Mensch und Natur auch die Geschichte der Innovationsrhetorik naturwissenschaftlichen Denkens und die mediale Darstellung wissen(schaft)spolitischer, ökonomischer und meinungsbildender Interessen. (S.9) Das erklärte Ziel ist es, einen kritischer Dialog mit den Biowissenschaften zu etablieren, der zugleich die methodische Autonomie der Kulturwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften betont.

Dieser Dialog wird von dem Genetiker Wolfgang Enard mit einem kurzen Beitrag zum aktuellen Stand der Humangenetik eingeleitet. Den Wunsch zu vermitteln erkennt man in dem Versuch, die Erwartungen zu mindern, welche die Fertigstellung des Humangenomprojekts bei vielen geweckt habe. Enard räumt eine „Unschärferelation der Biologie“ ein, durch die gerade eine eindeutige Zuordnung von menschlichem Verhalten und genetischer Evolution ausgeschlossen werden könnte, und betont, dass genetische Erklärungen menschlichen Verhaltens wohl noch komplexer ausfallen müssten als die bisher von den Sozialwissenschaften gelieferten.

Da diese umsichtige und konziliante humangenetische Perspektive kaum zu dem biologischen Reduktionismus passt, den die Herausgeber ihren „Gegnern“ in der ‚Bio-Culture‘-Debatte im Vorwort zuschreiben, fragt man sich, inwieweit der hier inszenierte Dialog die tatsächliche Beziehung zwischen den „zwei Kulturen“ widerspiegelt. Unklar bleibt dabei, ob die Biowissenschaften am Ende nicht doch vielschichtiger und differenzierter arbeiten als oft angenommen wird.

Der Aufsatz von Kleeberg und Walter ist eine beeindruckende Analyse existierender naturwissenschaftlicher Vereinfachungen und Ansprüche auf Eindeutigkeit. Mit wissenschaftstheoretischen, wissenschaftshistorischen und sprachphilosophischen Methoden focussieren sie ein umfangreiches naturwissenschaftliches Datenmaterial und zeigen, dass dieses keineswegs nur eindeutige Schlüsse zulässt, sondern sich auf vielfältige Weise interpretieren lässt. Sie konfrontieren prominente reduktionistische Zuordnungen von Evolution und Verhalten mit alternativen Modellen und zeigen, dass Ansprüche auf Eindeutigkeit und Einheitlichkeit schon innerhalb ihrer jeweiligen Disziplinen unhaltbar sind.

Die in diesem überzeugenden Plädoyer für einen konstitutiven Pluralismus angerissenen Diskussionen werden durch einen ausführlichen Fußnotenapparat komplettiert und kommentiert. Der Anspruch, die methodische Eigenständigkeit der Kulturwissenschaften gerade damit unter Beweis zu stellen, wirkt vor diesem Hintergrund etwas befremdlich. Denn nirgends scheinen die Kulturwissenschaften so erfolgreich, so vielfältig und so interessant zu sein wie in ihrer Kritik an den Naturwissenschaften. Ist es nicht gerade die Auseinandersetzung, die gegenseitige Herausforderung, die beide „Kulturen“ kräftigt? Und ist es nicht so, dass die Konjunktur der Lebenswissenschaften auch den Kulturwissenschaften neue Bedeutung verleiht?

Stefan Metzgers Beitrag nimmt die „biologistische[n] Diskursstrategien im Feuilleton 2000“ zum Anlass, sich intensiv mit Genese, Geschichte und Funktion dieses Genres zu befassen und die ästhetischen Aspekte seiner publizistischen Darstellung zu untersuchen. Das Feuilleton betrachtet er als entscheidenden Ort der kritischen Bewusstseinsbildung in der massenmedialen Kommunikation. Anhand ausgewählter Lektüren zeigt Metzger die Schritte auf, durch die das Massenmedium zum Diskursproduzenten avanciert ist. Er exemplifiziert dies am Biodiskurs im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, indem er die hohe Anschlussfähigkeit an Nachbardiskurse aufzeigt und den dort üblichen Assoziationsreichtum als eine publizistische Durchsetzungsstrategie kennzeichnet. Im Rahmen der Kritik an der „dritten Kultur“ der feuilletonistischen Wissenschaft wäre es nun interessant gewesen, auch das Verhältnis von Journalisten zu Wissenschaftlern zu hinterfragen. Die Form der medialen Darstellung wissenschaftlicher Neuerungen scheint zunehmend von der Mitteilungsbereitschaft und -fähigkeit der Naturwissenschaftler abzuhängen. Hier wäre vielleicht die Frage nach den Strategien der Selbstinszenierung von Wissenschaftlern und des zähen Festhaltens an der Deutungsmacht vermittels Herrschaftswissen durch diese zu stellen gewesen. Statt dessen liefert der Artikel ein einseitig wertendes Bild des Journalismus und vernachlässigt andere Perspektiven, durch die ein komplexeres Bild von der Funktion der Medien im gegenwärtigen Biodiskurs hätte entstehen können.

Crivellari befasst sich mit der Feuilletondebatte zur Verortung des Menschen zwischen Natur und Technik. In einem „Gang durch die Motivgeschichte des künstlichen Menschen“ beschreibt er die historischen Wechselbeziehungen zwischen den sich wandelnden technischen Möglichkeiten und dem Diskurs über künstliche Wesen. Als dauerhafte Aspekte dieses Diskurses identifiziert er die gleichbleibenden Parameter von Mensch, Natur, und Maschine oder Technik innerhalb derer sich die Diskussion abspielt, sowie ein Menschenbild der Insuffizienz, welches mit Hilfe technischer Mittel aufgehoben werden soll. In einem Anhang illustriert Crivellari anhand eines symptomatischen Beispiels aus dem Feuilleton, wie wissenschaftlicher Inhalt durch fragwürdige Analogien, Metaphern und Anthropomorphisierungen so verzerrt werden kann, dass am Ende so substanzlose Thesen wie die der künstlichen Evolution oder der imminenten Übernahme der Weltherrschaft durch Maschinen plausibel erscheinen.

Die Beiträge von Kempe und von John/van Zantwijk analysieren Aspekte der Debatte, die der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk mit seiner Elmauer Rede „Regeln für den Menschenpark“ ausgelöst hat. Durch eine Exegese dieser Rede vor dem Hintergrund seiner anderen Schriften kommt Kempe zu dem Ergebnis, dass Sloterdijk ein Menschenbild zu entwerfen suche, welches die Technik als Katalysator der Menschwerdung betrachtet und den Menschen zur Steuerung dieses Prozesses auffordert. Kempe schließt mit dem wohl berechtigten Fazit, dass der „Ertrag aus Sloterdijks Texten zum Thema Gentechnik und Ethik“ mager und seine neueren Ausführungen zum Thema „fast gänzlich belanglos“ (S. 169) seien. Daher stellt sich die Frage, womit der Philosoph die Aufmerksamkeit verdient hat, die ihm im Anschluss an seine Rede zuteil wurde.

Für John und van Zantwijk dagegen sind die eigentlichen Themen der Elmauer Rede die Beziehung zwischen Humanismus und Wissenschaft sowie die dahinter verborgenen Prämissen. Mit Beispielen empirischer Erforschung der Vernunft- und Moralfähigkeit des Menschen durch namhafte Humanisten des 18. Jahrhunderts wollen die Autoren Sloterdijks pessimistische Einschätzung der Anthropologie humanistischer Tradition relativieren. Die Autoren schließen mit der Behauptung, dass der Humanismus nicht der Wissenslegitimation diene, sondern „den normativen Rahmen [bilde], den die empirische Forschung nicht verlassen“ dürfe. (S. 188) Die Frage, ob die empirische Forschung wirklich so frei von Vorurteilen, Werten und Ideologie ist, wie hier vorausgesetzt wird, ist äußerst umstritten, und es scheint simpel zu glauben, dass man alle Ideologie hinter sich ließe, sobald man mit der Empirie beginne. Da man die Vernunft eines jeden Wissenschaftlers schon voraussetzt, wenn man ihm zutraut, die Vernunft zu erforschen, haben John und van Zantwijk in ihrem Versuch, die Vernunft zu retten und den Humanismus zu rehabilitieren, den Philosophen vielleicht mehr missverstanden als dieser den Humanismus.

Die folgenden drei Aufsätze üben Kritik an den Gefahren soziobiologischen Denkens und seiner Übersetzung in biopolitisches Handeln. Besonders interessant ist Strubes Beitrag über die „Zwei Kulturen der Rede von ‚Biopolitik‘“, der die Beziehung zwischen Biologie und Politik expliziert, indem er die Genese der ‚Biopolitik‘ (sowohl des Begriffs als auch des damit Bezeichneten) in übersichtliche und plausible Kategorien unterteilt und durch historische Aufarbeitung der gegenseitigen Begriffsanleihen von Biologie und Politik einen notorischen blinden Fleck der Soziobiologie erhellt. Ein faszinierender Aspekt der ‚Bio-Culture‘-Debatte ist das Ausmaß, in dem Soziobiologen die politischen Dimensionen ihres Denkens vernachlässigen. Das Grundmodell der Soziobiologie ist der Markt und ihr Erklärungsmechanismus als ein Wechselspiel zwischen sozial(isiert)em Darwinismus und naturalisiertem Kapitalismus. Indem Strube die Verletzungen der Grenzen zwischen Biologie und Politik von innen heraus versteht, kann er beschreiben, wie soziale Ungleichheit durch die Biopolitik ‚realistisch‘ biologistisch erklärt und somit naturalisiert wird. Am Beispiel der biopolitischen Theoretisierung des Sozialstaats zeigt Strube, wie die Demokratie in Gefahr gerät, wenn soziale Missstände biologisch begründet und der menschlichen Natur zugerechnet werden.

Auch Walter analysiert in seinem Beitrag „Konjunkturen und mögliche Folgen einer ‚Einheit des Wissens‘ anläßlich von Edward O. Wilsons gleichnamigem Buch“ die Gefahren eines direkten Schlusses vom Ameisen- auf den Menschenstaat. Durch eine tiefgehende Lektüre des Wilsonschen Oevres entlarvt Walter den Soziobiologen als einen Gralsuchenden, für den die Wissenseinheit einer religiösen Offenbarung gleichkommt. Er zeigt glaubhaft, dass Wilsons Bemühungen um die Herstellung dieser Einheit „Kompensationsversuche angesichts eines als Sinnverlust erlebten lebensweltlichen Wirklichkeitsdrucks“ (S. 236) darstellen, mit denen in Zukunft die „verlorene Sicherheit des Wissens und des Gewissens“ (S. 239) wieder hergestellt werden solle.

Der Beitrag von Baudy geht schließlich davon aus, dass die ‚Bio-Culture‘-Debatte lediglich eine Neuauflage der antiken ‚Physis-Nomos‘-Diskussion sei. Deren kulturwissenschaftliche Fortsetzung sei nun deswegen problematisch, weil die implizite Konzeption einer ‚Sonderstellung des Menschen‘ keine wissenschaftliche, sondern eine religiöse Position ist. (S. 189) Die Autorin, die als ausgewiesene Religionswissenschaftlerin ideale Voraussetzungen gehabt hätte, außerhalb der einfachen und stark stilisierten Dichotomien von biologischem Wissen und mythischem Glauben oder von Wissenschaft und Religion zu denken, bleibt resistent gegen die Unterwanderung dieses tradierten Gegensatzes. Obwohl sie für einen Ansatz eintritt, der durch die Überbrückung der Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften den Menschen in seiner Komplexität verstehen will, öffnet sie diese paradoxerweise zunächst selbst. Der Beitrag bleibt vor allem deshalb unbefriedigend (und im Kontext der anderen Aufsätze merkwürdig fremd), weil er von der Soziobiologie vereinnahmt zu sein scheint. Er zieht zudem nicht in Betracht, dass dieser Ansatz kein echter Kompromiss zwischen den ‚zwei Kulturen‘ ist, da er kulturelle Formen lediglich als Derivate biologischer Gegebenheiten und als menschliche Antworten auf äußere Zwänge bzw. als „brauchbare Strategien zur Bewältigung menschlicher Lebensprobleme“ (S. 197) darstellt.

Die Lektüre des Bandes wird durch die zahlreichen und substanzhaltigen Fußnoten erleichtert; das Fehlen einer Bibliographie macht jedoch den Zugang zur verwendeten Literatur schwer und unübersichtlich. Ein Sachregister wäre eine willkommene Ergänzung zum Personenregister gewesen. Zudem gewinnt man den Eindruck, dass die einzelnen Beiträge dieses Bandes recht unterschiedlich konzipiert sind, sich auf disparate Debatten beziehen und in einigen Fällen in nur schwer erkennbarem Zusammenhang miteinander stehen. Sicherlich hätte eine Kritik der Soziobiologie auch von der empirischen Erdung einer kulturanthropologischen Perspektive profitiert, da gerade diese Disziplin durch das Ethnographieren verschiedener sozialer Formen und Verhalten deren Unabhängigkeit von genetischer Evolution nachweist. Insgesamt reflektiert der Band mit exemplarischen Methoden und Strategien den aktuellen Stand der laufenden ‚Bio-Culture‘-Debatte aus Sicht der Kulturwissenschaften und ist besonders für jene Leser relevant, die an deren Feinheiten interessiert sind. Einige fächerübergreifende Beiträge werden auch eine breitere Leserschaft ansprechen.

Anmerkungen:
1 Wilson, Edward O.(1975): Sociobiology: The New Synthesis. Cambridge, MA: Harvard University Press.
2 Siehe Marshall Sahlins (1976): The Use and Abuse of Biology: An Anthropological Critique of Sociobiology. Ann Arbor: University of Michigan Press für eine frühe symbolanthropologische reductio ad absurdum des soziobiologischen Reduktionismus.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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