L. Gall u.a. (Hgg.): Wissenskommunikation

Titel
Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert.


Herausgeber
Gall, Lothar; Schulz, Andreas
Reihe
Nassauer Gespräche 6
Erschienen
Stuttgart 2003: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
241 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Flemming Schock, Institut für Geschichte, Universität Essen

Dass das Etikett „Jahrhundert des Wissens“ gerade auch für das 19. Jahrhundert heuristisch Sinn macht, verdeutlicht bereits die explosive Zunahme empirischen Wissens in den Naturwissenschaften. Sie erschütterten tradierte Muster der Weltaneignung, gespeichert im Gewohnheitswissen und gebunden an spezifische Formen der Weitergabe. Die dynamisch-prozessuale „Wissensrevolution“ veränderte Zeit und Gesellschaft nachhaltiger als je zuvor. Das ist bekannt. Der vorliegende Sammelband fragt hingegen nicht nach (technologischem) Eliten- und Gelehrtenwissen, sondern legt einen möglichst weiten Wissensbegriff zugrunde: den des primären Kultur- und Orientierungswissens. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den jeweiligen gesellschaftlichen Formationen und der Bedeutung des Wissens in ihnen. Wie wurde Bildungs- und Kulturwissen durch die „Sozialisationsagenturen“ Familie, Schule und öffentliche Institution gedeutet, normiert und kommunikativ vermittelt? Nach der alltagspraktischen Regulierung der Wissenskultur des 19. Jahrhunderts fragen acht Referate.

Die Familie als Ort „kultureller Reproduktion“ und primärer Weltaneignung durch Sozialisation untersucht Andreas Schulz für den Zeitraum vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Anschaulich entwickelt der Autor, wie sich die traditionelle Kindererziehung schichtenübergreifend durch ein externes anthropologisches Wissen um die Kindheit herausgefordert sah. Die gängige These von der „Entdeckung der Kindheit“ könne, so Schulz, insofern Gültigkeit beanspruchen, als das 18. Jahrhundert einen enormen Interessenzuwachs für die einzelnen Entwicklungsschritte der Imagination von Kindheit erlebte. Jedoch sei die gesellschaftliche Praxis bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine gegenläufige gewesen: Überkommenes Erfahrungswissen beharrte gegenüber einer Aufklärungspädagogik mit gesellschaftsreformerischer Zielrichtung. Schulze plädiert für eine Dynamisierung der stereotypen Kindheitsvorstellungen und bringt dafür die überzeugende These an, dass die Kindheit bis zum 19. Jahrhundert hin aufgewertet und zu einer den pädagogischen Maßnahmen zugänglichen Lebensphase geworden sei. Zu einem Paradigmenwechsel habe ausgangs des Jahrhunderts schließlich eine naturwissenschaftliche Überformung der Kindheitsbetrachtung geführt. „Kindheit“ wurde durch Messmethoden konstruiert. Wie in wissenschaftlicher Erforschung und pädagogischer Gebrauchsliteratur der optimistische Perfektibilitätsgedanke der Aufklärung einer Utopie einer ‚gesunden Normalentwicklung’ wich, zeichnet Schulz insgesamt anregend nach.

Auch Jürgen Schlumbohm verlässt das „Jahrhundert des Kindes“ nicht, legt jedoch eine schichtenspezifischere Perspektive an. Er fragt nach der Rolle der nonverbalen Sozialisation von Landkindern im 19. Jahrhundert und nach der Rolle des Wissensmediums Buch. Schlumbohm arbeitet die Kontrastfolie der ‚schriftlichen’ Großstadtkindheit heraus und sieht die Dominanz eines pädagogisch nicht angeleiteten Lernens auf dem Lande bestätigt. Durch autobiografische Zeugnisse illustriert der Autor lebendig den kindlich-ländlichen Lernprozess als Wissenstransfer aus lebenspraktischer Notwendigkeit. Als „in die Welt des Wortes und Buches hineingeboren“ interpretiert er demgegenüber die bürgerliche Kindheit, die, abgeschottet von der Erwachsenenwelt, weit deutlicher als auf dem Lande distinktive Geschlechts- und Rollenerwartungen nuanciert habe. Die verbreitete Forschungsannahme, dass bürgerliche Väter keine emotionale Bindung zu ihren Kindern pflegten, widerlegt Schlumbohm mit sinnfälligen Quellenzitaten. Zwar wirkt das entworfene Modell einer Sozialisation des Bürgerkindes durch das gedruckte Wort und das des Landkindes durch das verbale etwas überspitzt. Aber die Erkenntnis, dass in der familiären Sozialisationsagentur schon die Form des Wissens Standes- und Klassenunterschiede permanent reproduzierte, wird damit fruchtbar vermittelt.

Statt der Familie als ersten Ort des Weltwissens thematisierte Notker Hammerstein die „Elementarschulen als Träger von Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert“. Der staatliche Einbruch in diesen vormals den Kirchen reservierten Sektor der Wissensvermittlung wertet Hammerstein als ein zähes Ringen um den Anspruch auf Alleinzuständigkeit in Erziehung und Ausbildung. Gegen konfessionspolitische Auseinandersetzungen habe sich der Staat erst gegen Ende des Jahrhunderts restlos durchsetzen können. Anhand der Fallbeispiele der konfessionell heterogenen Staaten Nassau und Hessen-Darmstadt entfaltet der Autor, nach welchen Zwecksetzungen schulreformerische Ansätze konzipiert wurden und auf welche Hindernisse sie stießen. Staatlich regulierte Lehrerausbildung sei in Konflikt mit kirchlich traditionellem Anspruch geraten. Unter den Elementarschulen habe die Volksschule, Sittlichkeit und Religiosität vermittelnd, als wissenskanonisierende Instanz zunehmend an Bedeutung gewonnen. Hammerstein konzentriert sich allerdings eher auf die institutionelle Entwicklung der Volksschule im Zug der Modernisierung und die Nöte des Volksschullehrers als auf die Frage, was die einzelnen Schultypen als Träger von „Wissenskommunikation“ denn en detail qualifizierte. Sehr deutlich wird jedoch, dass in der Entwicklung der Bildungsanstalten im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche altbekannte pädagogische Forderungen gegen traditionelle Kräfte lange das Nachsehen hatten.

Diesen Blick erweitert der Beitrag von Barbara Wolbring am Beispiel der Frankfurter Elementarschulen im Kaiserreich. Die Volksschule wird in der Forschung, so Wolbring, fälschlicherweise noch immer als Instrument der Bildungsverhinderung gewertet. Ihr Fallbeispiel wertet die Jahresberichte der Schulen als Quellen aus, stellt den Unterricht der Schulen und die Frage, welches Wissen vermittelt wurde, in den Mittelpunkt. Die Einleitung liefert einen gedrängten, aber wertvollen Entwicklungsabriss des Frankfurter Schulwesens und eine Differenzierungsgeschichte des Unterrichtsprogramms. Daran schließt sich die standes- und schichtenspezifische Untersuchung der Klientel. Nicht individuelle Begabung, sondern finanzielle Situierung der Eltern hätten die Zukunftsperspektiven eines Kindes und dessen Zugang zu grundlegenden Kulturtechniken determiniert. Auf die Frage, welches Welt- und Orientierungswissen vermittelt wurde, antwortet die Autorin mit einem anschaulichen Einblick in den Unterrichtsalltag. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung kommt Wolbring zu dem Schluss, dass auch die Volksschulen an dem Bemühen partizipierten, untere Bevölkerungsschichten an umfassender Bildung und Verwissenschaftlichung des Weltbildes teilhaben zu lassen. Aus wissenskommunikativem Blickwinkel sei damit eine Schulpolitik, verstanden auch als Sozialpolitik, erfolgreicher gewesen als bislang angenommen.

Wie sehr auch christliches Glaubenswissen durch den gesellschaftlichen Wandel mit neuen Wegen der Verteilung reagieren musste, macht Hennig Pahl deutlich. Kritisch grenzt er sich zu den Haupttheoremen der Forschung ab: vom älteren der Säkularisierung und vom neueren des „zweiten konfessionellen Zeitalters“ (Olaf Blaschke), dass die Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts als Erfolgsmodell soziokultureller Einflusserhöhung deutet. Durch die Analyse des gesellschaftlichen Umbruchs durch evangelische Landpfarrer im Kirchbezirk Esslingen erprobt Pahl exemplarisch die Tragfähigkeit beider Modelle. Besonders greifbar wird, wie entrüstet die Geistlichen eine Relativierung christlicher Normen im ländlichen Milieu erlebten und ‚modernisierte’, andere Frömmigkeitsformen innerhalb der Kirche auf starke Resonanz stießen. Klar arbeitet Pahl das Weltbild der Amtskirche heraus, das gegen verändertes Konsum- und Freizeitverhalten zuerst eine statisch-patriarchalische Gesellschaftsauffassung restituieren wollte. Reduktionistische Deutungsmuster der Pfarrer seien der gesellschaftlichen Wirklichkeit letztlich aber kaum gewachsen gewesen. Erst spät habe die Amtskirche die Herausforderungen des industriellen Zeitalters erkannt und die Bereitschaft entwickelt, Weltbild und Wege des Wissenstransfers zu modulieren. Einleuchtend resümiert der Autor, dass die Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts zwischen Säkularisierungs- und Konfessionalisierungsparadigma zu finden sei.

Ein gänzlich säkulares Phänomen greift Dieter Hein in „Formen der gesellschaftlichen Wissensvermittlung“ auf und skizziert die Entwicklung der bürgerlichen Vereinskultur im 19. Jahrhundert. Weit mehr als jede andere Sozialisationsagentur habe der Verein weit gefasste Wissensbestände ins Gespräch gebracht und diese popularisiert. Der Autor erkennt drei Typen der Assoziation: die der Selbstbildung der Mitglieder, die von Bürgern inszenierten Volksbildung sowie Vereine mit besonderer inhaltlicher Spezialisierung. Eindrucksvolle Belege erbringt Hein für die Relevanz der vereinseigenen Bibliotheken im Kontext der Wissensvermittlung. Durch die Untersuchung von Verkaufsausstellungen ermittelt er zudem konkrete Formen der Wissensvermittlung. Dessen Adressatenkreis wird ebenso klar konturiert wie der Überblick über die normierten Wissensinhalte des gehobenen Dilettantentums, das sozial integrativ gleichwohl nur für die Bürger wirkte. Liberaler Fortschrittsglaube und Wissensideale gingen hier, so Hein, eine Synthese ein, die sich zunehmend eine Schlüsselrolle in der Distribution von Wissen sichern konnte. Ein vorzüglich geschriebener Beitrag.

Wie Wissen institutionell popularisiert wurde, darum geht es auch Carsten Kretschmann. Am Beispiel des Museums versucht er dessen Charakteristika als Bildungsanstalt zu erfassen. Allerdings trage die bisherige Forschungslage, die Kretschmann in einem gewaltigen Anmerkungsapparat auflistet, auch aufgrund des Mangels sozialgeschichtlicher Perspektiven nichts Wesentliches zur Klärung der Frage bei, wie das Museum als Wissenssystem funktionierte. Das Ziel Kretschmanns ist es, dessen Vielschichtigkeit adäquat zu erfassen. Einleitend streicht er markant Entwicklungsschritte der Geschichte jener „Kirchen des Bürgertums“ heraus, deren Attraktivität zu großen Teil durch eine „rituelle Distanz“ zum Alltag ausgezeichnet gewesen sei. Nach der anschaulichen Einleitung verengt Kretschmann den Blick auf das Frankfurter Senckenberg-Museum, erläutertet die sozialen Profile der naturforschenden Trägergesellschaft, erklärt Zustandekommen des Sammlungsfundus und Gliederungssystematik des Museums, beeinflusst von Darwinismus und Kolonialismus. Über der Untersuchung museumseigener Literatur liefert Kretschmann eine gute Illustration der Vermittlung des Wissens. Dieses sei letztlich jedoch nicht ‚demokratisiert’ worden, da die Institution des Museums weiterhin auch bürgerlichen Abschottungsmechanismen gedient habe.

Dieter Langewiesches deutet die Volksbildungsarbeit im Kaiserreich im Kontext des Bandes auf originelle Weise als „ethnologische Feldforschung“, die ‚unteren Schichten’ an die „Kulturspitze“ heranzuführen und zu homogenisieren versucht habe. Langewiesche identifiziert Trennlinien zwischen bürgerlich-liberaler und sozialdemokratischer Volksbildung. Gleichwohl sei - so ein Teil des Fazits - eine angesichts der weltanschaulichen Unterschiede erstaunliche Homogenität von Wissen und dessen Vermittlung in Bürgertum und Sozialdemokratie auszumachen. Die Feststellung, dass Volksbildung ungeachtet politischer Bekenntnisse eine zweifache Abgrenzungsfunktion in literarischer Hinsicht – gegen „Schund“ und gleichzeitig gegen die Avantgarde – erfüllte, arbeitet der Autor durch die Untersuchung des Angebots schichtenspezifischer Bibliotheken eindrucksvoll heraus. Obwohl eine als ‚wissenschaftlich’ deklarierte sozialistische Klassenkampfschulung zuallererst auf das Kollektiv abgezielt habe, sei letztlich, wie im Bürgertum auch, durch Kultivierungsabsichten der Volksbildungsarbeit auch die Wahrnehmung für das Differenzierte, für das Individuum geweckt worden.

Langwiesches Beitrag rundet den Band ab. Schon dessen Einleitung ist eine Empfehlung wert. Begriffe wie „Wissenskommunikation“, „Wissenskultur“ oder „Informationskultur“ erweisen sich in der neueren Forschung als Interpretamente geschichtlicher Prozesse als besonders fruchtbar und markieren eine Perspektive, in der noch viele Chancen liegen. Wie sehr gerade das 19. Jahrhundert im Hinblick auf Produktion, Distribution und Normierung von Wissensbeständen auf allen gesellschaftlichen und institutionellen Ebenen in Bewegung geriet, zeigt das Buch auf gelungene Weise.