J. Fohrmann u.a. (Hgg.): 1848 und das Versprechen der Moderne

Titel
1848 und das Versprechen der Moderne.


Herausgeber
Fohrmann, Jürgen; Schneider, Helmut J.
Erschienen
Anzahl Seiten
191 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Hachtmann, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Forschungskommission der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur Erforschung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Dritten Reich

1848 bleibt eines der wichtigen Themen der Forschungen zur jüngeren deutschen Geschichte. Dies scheint auch der vorliegende Aufsatzband zu signalisieren, den der Rezensent zunächst erwartungsvoll aufgeschlagen hat. Schon bald freilich stellte sich Enttäuschung ein, die schließlich ziemlichem Ärger wich.

Mit begrenztem Gewinn liest man immerhin noch die Beiträge von Rainer Kolk und Jürgen Fohrmann. Kolks zentrale These: Seit Mitte des 18. Jahrhunderts (Rousseau), in Deutschland verstärkt seit Anfang des 19. Jahrhunderts sei „mit der Jugendsemantik die Futurisierung einer geschichtsphilosophischen Konstellation inszeniert [worden]: Jugend als Trägerin des Neuen, als innovatives, zukunftsträchtiges Potential für eine Veränderung jenseits der beteiligten Einzelnen. Die psychosoziale Krise tritt in Analogie zur gesellschaftlichen.“ (S.21.) Jugend als Metapher wie als sehr konkreter quasi-sozialer Träger namentlich der demokratischen Revolutionsbewegungen von 1848/49 – das wäre in der Tat ein hochinteressantes, von der Forschung bisher kaum beachtetes Thema.1 Der hoffnungsfrohe Leser wendet sich jedoch schon bald enttäuscht ab: Statt des konkreten Blicks auf 1848 versucht sich Kolk in einem Parforce-Ritt durch zwei Jahrhunderte: von Rousseau über das vormärzliche Junge Deutschland bis zum Opfertod für das Vaterland 1914 2 und schließlich Helmut Schelskys Jugendstudie von 1957.

Fohrmann wiederum stellt in seinem Beitrag die gleichfalls spannende These auf, dass der „Intellektuelle“ nicht erst um die Wende zum 20. Jahrhundert, sondern bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren wurde, vor dem Hintergrund einer zunehmend „entgrenzten“, marktförmigen medialen Öffentlichkeit, die „professionelle Agenten für ihre Operationen benötigt habe“, und dass diesen Intellektuellen relativ rasch die Intellektuellenfeindlichkeit folgte, die „Persönlichkeit und Kunst gegen Intellektualismus [und] Verflachung“ auszuspielen suchte (S. 113, 116, 123). Der Mühe, dies genauer nachzuweisen, enthebt sich Fohrmann freilich.

Auch in anderen Beiträgen werden interessante Thesen aufgeworfen, jedoch nicht wirklich diskutiert bzw. am empirischen Material ‚erprobt‘: Fritz Breithaupt stellt die spannende, eigentlich nahe liegende (und von der historischen Forschung für 1848 bisher kaum thematisierte) Behauptung auf, „daß es vor und um 1848 zu einem grundsätzlichen Wandel von ‚Individualität‘“ gekommen sei und merkt völlig zu recht kritisch an, dass man sich fragen müsse, „ob nicht schon der Begriff ‚Individualität‘ eine Kontinuität vorspiegelt, die sachlich nicht gegeben ist.“ Statt unter dieser Fragestellung jedoch die zahlreichen Schriften, die die Revolution hervorgebracht hat, einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, behauptet er apodiktisch, dass sich „ähnlich wie bei den Angelsachsen“ auch „in den deutschen Diskursen von Individualität um 1848 eine grundsätzliche Umstellung auf Selbst-Interesse als Grundkonstitution des Menschen“ (S. 89, 91) durchgesetzt habe, und verweist dann lediglich auf einen Aufsatz zur „angelsächsischen Kultur“ und zwei knappe Handbuchartikel zur deutschen Literatur im 19. Jahrhundert. Anschließend fabuliert Breithaupt in längeren Passagen über „Währungen der Psyche“ u.ä.m. und missversteht u.a. die feine Ironie Heinrich Heines, etwa wenn der formuliert: „In unruhiger Zeit ist das Geld ängstlich [...]. In ruhiger Zeit wird das Geld wieder sorglos [und] sehr herablassend. So ein alter Louisdor hat mehr Verstand als ein Mensch, und weiß am besten, ob es Krieg und Frieden gibt.“ (S. 103) Oder er verballhornt Marx, wenn er dessen Begriff des Geldfetischs zum „verselbsteten Geld“ und „verselbstenden Geld“ macht und überdies unterschlägt, dass der Geldfetisch bei Marx lediglich abgeleitet ist, aus dem sehr viel allgemeineren Warenfetisch (S. 104f.). Dass Bourdieu (mit seiner die klassischen Kategorien erweiternden Kapitaltheorie) von Breithaupt in seinem Beitrag mit dem Titel „Homo Oeconomicus“ nicht einmal der Erwähnung für wert befunden wird, sei nur am Rande vermerkt.

Stehen schon in den diesen Beiträgen, die man immerhin mit einem gewissen Gewinn lesen kann, wenigen Lichtblicken zahlreiche Schattenseiten gegenüber, so gilt dies noch mehr für den gesamten Band: Die Herausgeber halten es nicht für nötig, den in den Titel gestellten, mithin für sie offenbar zentralen Terminus der „Moderne“ zu definieren bzw. in seiner Ambivalenz wenigstens zu diskutieren (lediglich in einem Aufsatz wird in einer Anmerkung auf einige der wichtigeren Arbeiten zu diesem schillernden Begriff hingewiesen: S. 34, Anm. 3.). Gewiss gibt es gute Gründe, die „Moderne“ in Deutschland mit 1848/49 beginnen zu lassen. Warum dies der Fall sein könnte, wieso und von wem die „Moderne“ während der Revolution „versprochen“ worden ist/sein könnte, lassen die Herausgeber jedoch ebenfalls offen. Bleibt einzig ihre „Hypothese“, dass Vormärz und Revolution „die Geschichte von ‚Bewegung‘“ (S. 9) gewesen ist. Dies ist nun wahrlich nicht neu, sondern gerade auch in der neueren historischen Forschung seit 1997/98 ausführlich thematisiert worden. Davon haben die beiden Herausgeber offenbar jedoch nichts zur Kenntnis genommen. Stattdessen fabulieren sie mit der Geste des ‚Entdeckers‘ vorgeblich unbekannter Zusammenhänge über das in den letzten Jahren unter dem Begriff der „Kommunikationsrevolution“ intensiv diskutierte neue Verhältnis der Zeitgenossen zu Zeit und Raum, dass diese angesichts der Eisenbahn und anderer revolutionärer technologischer Innovationen entwickelten – und das das Denken über die Geschichte wie die Erwartungen an die Zukunft fundamental verändert hat.3 Nicht einmal die inzwischen klassische Arbeit von Schivelbusch wird auch nur erwähnt.4

Auch in den meisten anderen Beiträgen (so sie die Revolution überhaupt thematisieren) werden weder die bekanntlich zumindest quantitativ immensen Forschungen der letzten Jahre zu 1848/49 zur Kenntnis genommen noch viele der älteren Standardwerke überhaupt erwähnt. Dies gilt etwa für Norbert Oellers, der im Namensregister der Protokolle des Paulskirchen-Parlaments acht „Dichter“ gefunden hat, deren Redebeiträge er in groben und ungenauen Umrissen referiert. Weder das biografische Handbuch noch die kollektivbiografischen Aufsätze von Heinrich Best (und Wilhelm Weege) 5 oder weitere der zahlreichen biografischen Beiträge zu den Abgeordneten der Deutschen Nationalversammlung sind ihm bekannt. Zwar wird die berühmt-berüchtigte Rede Wilhelm Jordans, eines der acht „Dichter“, die sich Oellers herausgepickt hat, auszugsweise zitiert, die ‚pikanten‘ Passagen jedoch ausgelassen; ein Hinweis auf die immer noch fundamentale Arbeit von Günther Wollstein zum Thema fehlt.6

Ärgerlich ist weiter, dass mehrere Autoren in ihren Beiträgen „1848“ nicht einmal erwähnen, geschweige denn die von ihnen diskutierten Aspekte irgendwie auf die Revolution beziehen. Das gilt etwa für die Beträge von Kenneth S. Calhoon oder von Bernd Fischer. Letzterer hat sich des spannenden Themas „Jüdische Emanzipation und deutsche Nation“ angenommen, die Revolution spart er jedoch systematisch aus. Lediglich in einer Anmerkung (S. 163, Anm. 19) erklärt Fischer lakonisch, dass Berthold Auerbach – einer der wichtigsten jüdischen Schriftsteller um die Mitte des 19. Jahrhunderts – sich zwar in einem Roman („Neues Leben“, 1851) mit der Revolution 1848/49 und ihrem Scheitern beschäftigt, jedoch „auf nicht überzeugende Weise“. Mehr erfährt man nicht; da, wo es spannend wird, lässt Fischer den Leser mit einem nicht weiter begründeten Statement zurück. Besonders ärgerlich ist schließlich der Beitrag von Barbara Hahn, nicht nur weil „1848“ oder der Vormärz (und die inzwischen reichhaltige Literatur zur Frauenbewegung – und ihren Grenzen - in dieser Epoche) nicht erwähnt werden und sich die Verfasserin ungeachtet des ‚eigentlichen‘ Themas des Bandes auf das 20. Jahrhundert beschränkt. Hahn lässt darüber hinaus in einem verquasten Text kaum kaschiert ihrem Hass auf Simone de Bouveoir und deren (trotz aller Grenzen epochales) Werk „Le Deuxième Sexe“ die Zügel schießen („harmlos“, „schlicht“, „uninteressant“, B. „inszeniert sich als Intellektuelle“ usw.; S. 180, 184). Was haben sich die Herausgeber dabei gedacht, solch einen Text zu publizieren? Es drängt sich der Verdacht auf, als hätten die Herausgeber den positiven Reizbegriff „1848“ nur in den Titel aufgenommen, um von der Stadt Bonn Gelder für ihre Konferenz vom März 1999 zu erhalten, aus der der Band hervorgegangen ist – und ansonsten ihre persönlichen ‚Steckenpferde‘ geritten. Wie dem auch sei: Hier liegt trotz vereinzelter Lichtblicke ein insgesamt ärgerlicher Band vor, der nichts hält von dem, was er im Titel zu versprechen scheint.

Anmerkungen:
1 Hinweise zu 1848/49 als „antiautoritärer Jugendrevolte“ (auch auf die wenigen Bemerkungen in der neueren Revolutionsforschung seit 1997 dazu) finden sich in: Hachtmann, Rüdiger , Epochenschwelle zur Moderne. Einführung in die Revolution von 1848/49, Tübingen 2002, S.162-167.
2 Dass auch und gerade der italienische und der deutsche „Bewegungs“-Faschismus zumindest phasenweise den Charakter einer Jugendbewegung besessen hat, entgeht Kolk freilich. Vgl. die grundlegende Arbeit von Reichardt, Sven, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002, bes. S.346-389. Zum spezifisch generationellen Charakter wichtiger Segmente der NS-Bewegung wie des NS-Regimes vgl. die bekannten Arbeiten von Peukert, Herbert u.a.
3 Zum Thema Kommunikationsrevolution vgl. z.B. Langewiesche, Dieter, Kommunikationsraum Europa. Revolution und Gegenrevolution, in: Ders. (Hg.), Demokratiebewegung und Revolution 1847-1849, Karlsruhe 1998, S.11-35; Gall, Lothar ; Roth, Ralf, 1848/49. Die Eisenbahn und die Revolution, Berlin 1999.
4 Schivelbusch, Wolfgang, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1979.
5 Best, Heinrich; Weege, Wilhelm (Hgg.), Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, Düsseldorf 1996, sowie zahlreiche Aufsätze Bests zum Thema.
6 Vgl. Wollstein, Günther, Das „Großdeutschland“ der Paulskirche. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49, Düsseldorf 1977, zu Jordans antipolnischer Polemik in der Paulskirche, S.146-149.