Diese Monografie beschäftigt sich mit den knapp drei Jahrhunderten, in denen das Frankenreich von der Dynastie der Merowinger beherrscht wurde, als einer Zeit des „Wandels von der antiken zur mittelalterlichen Welt“ (Vorwort), die mit dem heidnischen Kleinkönig von Tournai Childerich I. beginnt († 481/82) und mit Childerich III. (743-751) als dem Schattenkönig der karolingischen Hausmeier endet. Unter dem Titel „Aufbruch ins Mittelalter“ wird das Merowingerreich als eine schon stark von frühmittelalterlichen Strukturen bestimmte Welt dargestellt. Auch wenn das „römische Erbe“ 1 dabei stärker in den Hintergrund tritt, wird in Übereinstimmung mit der neueren Forschung der Eindruck, dass es sich bei der Merowingerzeit um eine Epoche des Niedergangs handelte, die bestenfalls rudimentäre Überreste der antiken Kultur zu bieten hatte, vermieden. Am Deutlichsten wird der Einfluss der Spätantike naturgemäß im Kapitel über Bildung und Kultur herausgestellt, aber auch im Zusammenhang mit der Verwaltungs- und Kirchenorganisation wird auf die Übernahme römischer Strukturen verwiesen.
Zu dem Eindruck einer vor allem auf das Mittelalter gerichteten Perspektive trägt auch die Art der Darstellung in erheblichem Maße bei, denn wie Martina Hartmann im Vorwort betont, fühlt sie sich dem Konzept, mittelalterliche Geschichte quellennah zu erzählen, verpflichtet und wendet sich an einen breiten Leserkreis, speziell an Studienanfänger und historisch Interessierte, denen die Geschichte dieser ersten fränkischen Dynastie ohne wissenschaftlichen Anmerkungsapparat in leicht lesbarer Form und unter Einbeziehung zahlreicher ins Deutsche übersetzter Quellenzitate dargeboten wird.
Abgesehen von einigen Hinweisen im Vorwort beginnt die Geschichte der Merowingerzeit recht unvermittelt mit einem ausführlichen Überblick über die wichtigsten Quellen, die auch quellentypologisch und quellenkritisch in anschaulicher Weise eingeordnet werden. Dabei stehen die großen Gruppen der „chronikalischen“ und hagiografischen Quellen (S. 13-21, 22-32) den für die Merowingerzeit recht spärlich überlieferten, hier unter dem Begriff der „nichtnarrativen“ Quellen zusammengefassten Briefen, Testamenten, Königsurkunden, Volksrechten, Kapitularien und Konzilstexten gegenüber (S. 33-37).
Die so genannte Ereignisgeschichte wird im Wesentlichen als eine Familiengeschichte unter Einbeziehung einiger kirchenpolitischer Maßnahmen geschrieben und bildet die zeitliche Klammer für die übrigen Kapitel, die eine Kulturgeschichte im umfassenden Sinne bieten (Regierung und Rechtsleben, Gesellschaft, Kirche, Bildung und Kultur, Alltag). Die „Außenpolitik“ der Merowinger wird dagegen, wie im Vorwort angekündigt, nur in anderen Kapiteln kurz gestreift, so z.B. im Unterkapitel über das Kriegs- und Heerwesen (S. 105-107). Als Hauptquelle steht Gregor von Tours (573-594) im Mittelpunkt, der nicht nur die meisten Informationen zur politischen Geschichte, sondern auch für die anderen genannten Bereiche liefert. Unter dem Titel „Das Bild der Merowinger in der Geschichte“ wird am Ende der unterschiedliche Umgang in Frankreich und Deutschland mit der Geschichte der Merowingerzeit kurz skizziert, die seit der „Entstehung Deutschlands und Frankreichs [...] im Bewußtsein beider Völker mehr und mehr zum ausschließlichen Bestandteil der französischen Geschichte“ geworden sei. Erst im 20. Jahrhundert habe man in Deutschland begonnen, „die Franken und das Merowingerreich als Teil auch der deutschen Geschichte zu sehen“ und inzwischen gelten sie unter dem Vorzeichen der europäischen Integration als „Wegbereiter Europas“, wie es im Untertitel der großen Franken-Ausstellung von 1997 programmatisch heißt (S. 204).
Vervollständigt wird der durch zahlreiche Abbildungen archäologischer Funde, durch Handschriften, Illuminationen, Stiche des 17. Jahrhunderts (v.a. von Jean Jacques Chiflet) aber auch Werke der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts reich illustrierte Band, der von der Ausstattung her einem Ausstellungskatalog nahe kommt, durch eine Karte „Das Frankenreich um 561“ (wohl zum Abschluss der fränkischen Expansion unter Chlodwigs Söhnen), eine Stammtafel der merowingischen Könige, ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Personen- und ein Ortsregister sowie einen Abbildungsnachweis. Außerdem enthält er ein Glossar, in dem – wohl wieder mit Rücksicht auf die hier speziell angesprochenen Leser – auch gängige Begriffe wie „Abbatiat“, „Handschrift“, „Klerus“, „narrativ“, „Pergament“, „Rex“ und „Vita“ erklärt sind. Die Auswahl (nach Häufigkeit der Erwähnung?) erschließt sich nicht auf den ersten Blick, da weniger geläufige Begriffe, wie z.B. „Antrustionen“, nicht im Glossar, sondern im laufenden Text erläutert werden.
Insgesamt bietet das vorliegende Werk einen instruktiven und umfassenden Einblick in die Merowingerzeit und vor allem dem speziell angesprochenen Leserkreis die Möglichkeit, sich nicht zuletzt mit Hilfe der zahlreichen Quellenzitate den Zugang zur Merowingerzeit und zur Welt der Franken zu erschließen. Jedoch erscheinen einige Aussagen zumindest etwas undifferenziert. So verlangt z.B. die überraschende Feststellung, dass es in der Merowingerzeit noch keine eigene kirchliche Gerichtsbarkeit gegeben habe (S. 107), zumindest eine nähere Erläuterung oder Begründung.2 Die Kategorien der „der Freien, Halbfreien (!) und Unfreien“ (S. 113) als „Klassen“ zu bezeichnen, entspricht wohl nicht ganz den üblichen Definitionen, da hier vor allem, wie Martina Hartmann selbst schreibt, „rechtliche und soziale“ Unterschiede angesprochen werden. Für die Behauptung, das Bistum Arras sei am „Ende des 6. Jahrhunderts mit Cambrai vereinigt“ worden (S. 128), gibt es keine sicheren Belege. In den wesentlich späteren Quellen wird dazu sowohl die Theorie einer Vereinigung der Kirchen von Arras und Cambrai als auch der Verlegung des Bischofssitzes von Arras nach Cambrai vertreten.3 Tours liegt nicht in der Auvergne (S. 16). Zudem stören einige Druckfehler in dem ansonsten sorgfältig redigierten Band, so etwa auf der Karte „Quentoviv“ statt „Quentovic“ und „Terouanne“ statt „Thérouanne“, mit „maîre“ ist wohl „maire“ gemeint (S. 23), „augeschlossen“ statt „ausgeschlossen“ (S. 127). Schwerer wiegt wohl angesichts der fehlenden Fußnoten, dass wichtige Beiträge zum Thema im Literaturverzeichnis nicht genannt werden, wie etwa die „Kulturgeschichte der Merowingerzeit“ von Margarete Weidemann4, das Hartmann selbst im Vorwort als „von großem Nutzen“ für das vorliegende Werk bezeichnet, oder auch der Untersuchung von Jürgen Weitzel über Strafe und Strafverfahren, der dazu ebenfalls die Zehn Bücher Geschichten des Gregor von Tours auswertete.
Anmerkungen:
1 Vgl. Kaiser, Reinhold, Das römische Erbe und das Merowingerreich, München 1993.
2 Vgl. dagegen Weitzel, Jürgen, Strafe und Strafverfahren in der Merowingerzeit, in. ZRG Germ. Abt. 111 (1994), S. 66-147, z.B. S. 133: „Verfahren vor geistlichen Gerichten“; Hartmann, Wilfried, Der Bischof als Richter nach den kirchenrechtlichen Quellen des 4. bis 7. Jahrhunderts, in: La giustizia nell’alto medioevo (secoli V-VIII), Spoleto 1995, S. 805-837, z.B. S. 824: „daß im merowingischen Frankenreich die Bedeutung des bischöflichen Gerichts nicht allein darin bestehen sollte, daß hier der alleinige Gerichtshof für Geistliche zu finden sein sollte“.
3 Vgl. dazu Kéry, Lotte, Die Errichtung des Bistums Arras 1093/1094, Sigmaringen 1994, S. 211-225.
4 Kulturgeschichte der Merowingerzeit nach den Werken des Gregor von Tours, 2 Bde., Mainz 1982.