Die Geschichte Berlins ist auch die Geschichte einer Stadt, in die sich die Erfahrung von Migration und die Begegnung von ansässiger und hinzukommender Bevölkerung eingeschrieben haben. Dies gilt auf besondere Weise für die kurze Ära der Weimarer Republik. In einer Zeit, als die Stadt zur „Hauptstadt Russlands jenseits der Grenzen“ (Karl Schlögel) avancierte, wurde die Spreemetropole auch für eine Vielzahl von Jüdinnen und Juden aus Ostmitteleuropa zum „Nachtasyl“, aber auch zur neuen Heimat. Bereits die von Eike Geisel herausgegebene und kommentierte Bilder-, Text- und Dokumentensammlung Im Scheunenviertel (Berlin 1981) legt davon Zeugnis ab. Später wurde der „Transitraum“ Berlin aber auch zum Gegenstand der akademischen Forschung.1 Mit der 2020 im Göttinger Wallstein-Verlag erschienenen Habilitationsschrift von Tamara Or ist diese Geschichte nun um eine bislang vernachlässigte Dimension reicher. Denn in Heimat im Exil. Eine hebräische Diasporakultur in Berlin 1897–1933 richtet Or den Blick erstmals in monographischem Umfang auf die hebräische Kultur im Berlin der Zwischenkriegszeit und gibt die Stadt damit als das pulsierende Zentrum einer jüdischen Nationalbewegung zu erkennen, dem fern von Palästina und jenseits der jüdischen Lebenswelten in Ostmitteleuropa ein hebräisch-kultureller wie nationaler Charakter eigen war. Damit lieferte sie nicht nur einen innovativen Beitrag zur Geschichte Berlins als „Raum der Begegnung und des Austauschs“ (S. 11) zwischen osteuropäisch-jüdischen Migrantinnen und Migranten einerseits und ihrer Wirkung auf die vorgefundene jüdische Bevölkerung – mithin einer Geschichte des „Kulturtransfers“ und „wechselseitigen Austauschprozesse[s]“ (S. 27/29). Ihr neuer Blick auf „Berlin als hebräisches Kulturzentrum“ (S. 22) und „Knotenpunkt der hebräischen Jugendkultur“ versteht sich auch als kritische Auseinandersetzung mit dem teleologischen Charakter einer zionistischen Historiographie, die den jüdischen Staat als Ziel und Zentrum jüdischer Geschichte begriff: „Hier entwickelte sich ein neuartiges Verständnis von einer jüdischen Diaspora“, schreibt Or demgegenüber, „die nicht länger als Peripherie des Landes Israels, sondern als gleichberechtigter Partner im Aufbau einer nationalen hebräischen Kultur wahrgenommen werden wollte.“ (S. 25)
Doch wenngleich das Weimarer Berlin die Blütezeit der hebräischen Kultur und damit auch das Zentrum von Ors Darstellung bildet: Das erste der drei Hauptkapitel, das unter der Überschrift „Zwei Nationen am Sinai? Transkulturelle Identitätskonstruktionen und die Migration der Ideen“ steht, widmet sich dem Zeitraum von 1909 bis 1917. Von der „Konferenz für hebräische Sprache und Kultur“ ausgehend, zu der am 19. Dezember 1909 etwa 150 Personen in den Berliner Sophiensälen zusammenkamen, zeichnet sie ein detailliertes Profil der ersten Bemühungen, die hebräische Nationalbewegung auch in das Berlin des Kaiserreichs zu exportieren. Über ihre gesamte Darstellung hinweg wird dabei deutlich, dass die Modernisierung der hebräischen Sprache wie die Entstehung des jüdischen Nationalgedankens dem deutschen Judentum weitestgehend fremd waren und sich stattdessen der Säkularisierung des osteuropäischen und russländischen Judentums verdankten. Das war auch auf der Konferenz im Dezember 1909 sichtbar geworden, die fast ausschließlich Repräsentanten der jüdischen Nationalbewegung Ostmitteleuropas – Achad Haam, Leo Motzkin oder Martin Buber – versammelt hatte. Als Gegensatz zur ein Jahr vorausgehenden Czernowitzer Sprachkonferenz, die die nationale Bedeutung des Jiddischen als jüdischer Volkssprache Ostmitteleuropas hervorgehoben hatte (S. 35), wollte sich die Berliner Konferenz indes nicht verstehen. Wohl aber unterstreicht Or entlang der Schriften von Shai Hurwitz und Micha Josef Berdyczewski die „fundamentale Ablehnung der Galut“, also einer Existenz im Zustand des Exils, die der hebräischen Nationalbewegung zu eigen war. „Nur derjenige, der die Galut hasst“, heißt es in scharfen Worten bei Hurewitz, „hat Hoffnung auf Erlösung.“ (S. 85) Und doch war damit nicht ausschließlich oder gar vorrangig eine territoriale Abwendung von der Diaspora und eine zionistisch motivierte Hinwendung nach Palästina verbunden. Shlilat haGalut – die Verneinung des Exils, auch das macht Or deutlich, war im Wesentlichen eine „innere Galut-Verneinung“ (S. 89), die auf die Ausbildung einer selbstbewussten jüdischen Kollektivität zielte. Aus diesem Geist waren bereits unmittelbar nach der Berliner Konferenz erste Organisationen und Vereinigungen entstanden, allen voran der Hebräische Klub. In ihrer Reichweite blieben sie dennoch begrenzt. Viel eher hing über der zarten Pflanze der hebräischen Bewegung in Berlin jener Schatten, der bereits ihrer Gründungskonferenz innewohnte. Eine Resonanz unter den mehrheitlich assimilierten deutschen Juden war – selbst innerhalb der Zionistischen Bewegung Deutschlands – kaum zu vernehmen. Eindrücklich bezeugt Or damit die parallele Existenz unterschiedlicher jüdischer Selbstverständnisse am selben Ort.
Zu einer wirklichen Blüte war die hebräische Bewegung in Berlin erst einige Jahre später, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und in der Frühphase der Weimarer Republik gekommen, die Or im zweiten Kapitel „Nachtasyl Berlin und Bialiks Weimar – ein jüdisch-nationales Stiftzelt in der deutschen Wüste? (1918–1924)“ thematisiert. Die großen Migrationsbewegungen aus dem zerbrechenden zaristischen Russland und die Unterbindung der hebräischen Kultur unter kommunistischer Herrschaft, verwandelten Berlin zusehends in das Zentrum osteuropäisch-jüdischer und hebräisch-nationaler Kultur. Ihren vielleicht sichtbarsten Ausdruck fand diese demographische und kulturellen Verschiebung in der Verwandlung Berlins in eine „Metropole hebräischer Verlage“ (S. 195). Immerhin hatte nicht nur der bereits seit 1902 bestehende Jüdische Verlag 1919 auch eine hebräische Abteilung gegründet. Vielmehr zeichnet Or eine ganze Topographie des hebräischen Buchwesens in Berlin, die von Verlagsgründung wie dem Rimon-, dem Klal und dem Eschkol-Verlag über die Ansiedlung des Warschauer Stybel-Verlags und die Eröffnung von Buchhandlungen wie Kedem, Jalkut und Moses Gonzer bis zur Anfertigung hebräischer Drucke durch die Soncino-Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches reichten (S. 171). Allein auf die aus Osteuropa eintreffenden jüdischen Migrantinnen und Migranten war dieses hebräische Buchwesen indes nicht ausgerichtet. Bis ins Detail rekonstruiert Or zugleich die Entstehung von Hebräischen Sprachschulen und der Hebräischen Lesehalle, die auch unter der jüdischen Jugend in Deutschland zur Verbreitung der hebräischen Sprache beitragen sollten. Die Gründung des Verbands der hebräischen Lehrer und Lehrerinnen (1919) ebenso wie die Anfertigung neuer Lehrmaterialien für den Sprachunterricht fallen in diese Zeit. Über den Erwerb des Sprachvermögens zielte dieses Bemühen um eine „Hebraisierung der deutschen Juden“ (S. 158) indes weit hinaus. Gegenüber dem vorrangig konfessionellen Charakter ihrer jüdischen Zugehörigkeit, meinte Hebraisierung zugleich „Nationalisierung“ und die Stärkung eines jüdisch-nationalen Selbstverständnisses.
Niemand verlieh diesem Zusammenhang von Sprache und Nation eine stärkere Aura als der hebräische Nationaldichter Chaim Nachman Bialik, dessen Poesie dem Historiker Simon Dubnow als „nationale Weltanschauung more poetico“ galt (S. 194). Von 1921 bis 1924 hielt sich Bialik in Berlin auf und bildet gleichsam das Zentrum der städtischen hebräischen Kultur. Auch in den öffentlichen Feierlichkeiten anlässlich seines 50. Geburtstags war dies zum Ausdruck gekommen. Die eindringliche Beschreibung von dessen Berliner Wirkung bilden indes nur eine Seite von Ors Portrait über Bialik. Die andere kreist um den fortgesetzten Diskurs über die Negation der Diaspora, den Or detailliert und hellsichtig entlang dessen Werk, vor allem aber entlang der Texte von Joseph Klausner und Jecheskel Kaufmann analysiert. Die Balfour-Deklaration des Jahres 1917 und die britische Zusicherung der Unterstützung für eine jüdisch-nationale Heimstätte in Palästina verschafften dem zionistischen Projekt einer territorialen Verneinung der jüdischen Diasporaexistenz und einer physischen Rückkehr aus dem Exil neue Geltung und erlangten deshalb auch im hebräischen Berlin zusehends Gehör. „Es gibt zwar unter uns viele Helden des Wortes. […] Aber unsere Chaluzim in Eretz Israel […], nur sie allein verwirklichen diese Worte“, hatte Bialik im Februar 1923 freimütig bekannt (S. 243). Ein Jahr später siedelte er selbst von Berlin in den Jischuw über.
Daran anschließend, bildet der Aufbruch von Bialik nach Palästina im Jahre 1924 den Anfang des dritten Kapitels, „Mahanaim – Doppelte Galut – Doppelte Heimat (1925–1932)“. Die Krise, für die Bialiks Fortgang aus Berlin, aber auch das Schwinden des Hebräischen Verlagswesen seit den Jahren 1924/25 stehen, war indes nicht der Anfang vom Ende der hebräischen Kultur in Berlin und Deutschland. Or weist mit ihrer Darstellung in eine andere Richtung: „Nachdem die bekannten hebräischen Schriftsteller Berlin verlassen hatten, schien für kurze Zeit auch das Ende aller hebräischen Aktivitäten in der Stadt besiegelt zu sein“, schreibt Or und schließt an: „Die Saat, die die Schriftsteller in Berlin ausgebracht hatten, ging jedoch Mitte der zwanziger Jahre auf.“ (S. 253)
Auch das dritte Kapitel ist deshalb zum Teil von organisationsgeschichtlichen Anteilen getragen, die die breite Auffächerung von Einrichtungen und Institutionen sichtbar werden lässt, die hebräisch-kulturelles und hebräisch-nationales Selbstverständnis unter den Jüdinnen und Juden in Deutschland zu fördern beanspruchten. Sie reichen von der Fortdauer des Hebräischen Klubs und der Gründung des Hebräischen Volksheims als eines Veranstaltungszentrums für Choraufführungen oder Vorträge in hebräischer Sprache bis zur Geburt der nationalen Jüdischen Volkspartei. Sein pulsierendes Herz hat das Kapitel sodann in der Beschreibung von Geschichte und Wirkung des Habimah-Theaters, das von Moskau ausgehend als „Europas hebräisches Theater“ (S. 303) erst in Polen, Galizien und Wien Erfolge feierte, bis es seit dem 1. Oktober 1926 seinen „Triumphzug“ auch in Berlin antrat, bevor es sich 1931 schließlich in Tel Aviv niederließ. Aus einer Vielzahl von Zeitungsartikeln und Tagebucheinträgen rekonstruiert Or die Begeisterung, auf die die Aufführungen des hebräischsprachigen Theaters in den Berliner Häusern stießen, so, als ob die „Hebräische Nation auf der Berliner Bühne“ einem „säkularen Altar“ entsprach (S. 302–310). Im Anschluss an frühere Studien unterstreicht sie zudem die Bedeutung, die Habimah für die Nationalisierung des jüdischen Selbstverständnisses auch unter einer jungen Generation deutscher Juden zukam. Deren sachte Hebraisierung war mit dem Selbstbewusstsein der Zugehörigkeit zur Diaspora einhergegangen, der auch jenseits von Palästina ein eigenes Recht zukam. Damit aber schließt sich ein Kreis in Ors impliziter Diskussion über das Verhältnis von Israel und der Golah. An die Stelle der Verneinung der Diaspora trat nun die Betonung eines „Zweiheimatgedanken“ (Adolf Leschnitzer) und die Verbindung von Zionismus und Diasporanationalismus (S. 279). Sie mündeten im Dezember 1932 in die Pläne zur Gründung eines Hebräischen Weltbundes und die Einberufung eines Hebräischen Weltkongresses.
Zur Umsetzung der Pläne von 1932 kam es im Jahr darauf nicht mehr. „Finis Germaniae!“ – so lautet das letzte Unterkapitel von Ors Arbeit. Es steht im Zeichen der Zerstörung der hebräischen Diasporakultur in Berlin, deren Protagonisten angesichts von Hitler und dem Aufstieg des Nationalsozialismus nur noch ein Ausweichen nach Palästina blieb. Nachdem der Hebräische Weltbund 1933 zuerst nach Warschau übersiedelte, ließ er sich 1935 schließlich in Tel Aviv nieder. Gegenüber der Territorialisierung, die das Hebräische im Gefolge von Krieg und Massenvernichtung erfahren hat, hat Tamara Or aber nicht nur einen Teil von dessen diasporischer Vergangenheit wieder sichtbar gemacht und vor dem Vergessen bewahrt. Ihr Buch ist damit ein bedeutender Beitrag zu einer modernen jüdischen Geschichte und ein Einblick in die Heterogenität jüdischer Lebenswelten in der Diaspora. Zugleich ist es aber auch eine Geschichte Berlins, die die Stadt zu einer Zeit an ihr hebräisch-jüdisches Erbe erinnert, in der sie ein Zentrum der israelischen Diaspora geworden ist.
Anmerkung:
1 „Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939“ lautete etwa ein von Gertrud Pickhan und Verna Dohrn herausgegebener Sammelband aus dem Jahr 2010. Zwei Jahre später folgte Anne Christin Saß’ umfassende monographische Studie „Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik“ (Göttingen 2012), während im Jüdischen Museum Berlin die Ausstellung „Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er-Jahren“ zu besichtigen war.