Protokolle des österreichischen Ministerrats

Titel
Die Protokolle des österreichischen Ministerrats 1848-1867.. Abteilung IV. Das Ministerium Rechberg, Bd. 1


Herausgeber
Österreichisches Komitee für die Veröffentlichung der Ministerratsprotokolle
Anzahl Seiten
1036 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arthur Schlegelmilch, Arbeitsbereich Neuere Geschichte, Fernuniversität Hagen Email:

Der Darstellungszeitraum des nunmehr vorliegenden ersten Bandes der vierten Abteilung der österreichischen Ministerratsprotokolle umfasst die erste Hälfte der bis Februar 1861 andauernden Ministerpräsidentschaft des Grafen Rechberg. Formell trug Rechberg erst ab 21. August 1859 den wiederhergestellten Ministerpräsidententitel, vorher fungierte er lediglich als Vorsitzender der Ministerkonferenz; parallel und über den Februar 1861 hinaus bis Ende Oktober 1864 bekleidete er das Amt des Außenministers. In den hier dokumentierten Zeitabschnitt fielen zwei bedeutsame Wegmarken der Geschichte der k.k. Monarchie: die militärische Niederlage im italienischen Krieg gegen Napoleon III. mit dem Verlust der Lombardei und der habsburgischen Sekondogenituren Toskana und Modena sowie die beginnende Abwendung vom neoabsolutistisch-zentralbürokratischen System, wie es sich unter der Ägide Kübecks (Reichsratspräsident), Buol-Schauensteins (Außenminister, Präsident der Ministerkonferenzen) und Alexander Bachs (Innenminister) nach dem „Sylvesterpatent“ von 1851 etabliert und entfaltet hatte. Die genannten Ereignisse und Tendenzen spiegeln sich in den Protokollen in vielerlei Hinsicht wider, doch liegt der Schwerpunkt eindeutig auf dem zivilen Sektor und insbesondere auf der Frage der Bewältigung der akuten Finanz- und Haushaltskrise des Reichs. Weitere wichtige Themen sind die regionalen Kriegseinwirkungen und die behördlicherseits zu treffenden Maßnahmen, die (prekäre) Stimmungslage in den Ländern, die Rücknahme der gerade erst eingeführten ungarischen evangelischen Kirchenverfassung, die Sprachenfrage (Unterrichtssprache an Gymnasien), die Judenemanzipation und die Wiener Stadterweiterung (Ringstraßenbau). Einen Exkurs widmet der Herausgeber dem Ausbau des Eisenbahn- und Telegrafennetzes im Schatten des Kriegs.

Aufs Ganze gesehen vermitteln die nach den Standards der Gesamtreihe ebenso gewissenhaft wie instruktiv edierten und mit einer qualitätsvollen Einleitung versehenen Konferenzprotokolle den Eindruck von Veränderungswillen und Reformbereitschaft unter massivem Problemdruck. Vor allem in der durch monarchische Autoritätsschwäche und militärischen Einflussverlust gekennzeichneten Phase nach Solferino und Villafranca und ermutigt durch das Laxenburger Manifest fühlte sich die Ministerkonferenz offenkundig aufgerufen, das anfangs der 1850er-Jahre verlorene politische Terrain zurückzugewinnen und den Willen und die Fä-higkeit zur Übernahme von Regierungsverantwortung zu demonstrieren. Die – im Anhang des Bandes wiedergegebenen – Protokolle der (im kleinen Kreis abgehaltenen) außerordentlichen Konferential-Sitzungen vom Sommer 1859 und das so genannte „Ministerprogramm“ vom 21. August 1859 sprechen diesbezüglich eine klare Sprache. Stefan Malfèr spricht in diesem Zusammenhang von einer verfassungspolitischen Zäsur – die Aussichtslosigkeit des seit 1851 beschrittenen Wegs und die Unabdingbarkeit grundlegender Kurskorrekturen sei erkannt worden – folglich habe 1859 als das Jahr zu gelten, „das den Umschwung vom Neoabsolutismus zum Konstitutionalismus einleitete“. (S. LXVIII). Malfèrs Bewertung ist im Hinblick auf das endgültige Scheitern des so genannten Neoabsolutismus, der in Wirklichkeit ein modernisierungsfixierter bürokratischer Absolutismus war, zweifellos zuzustimmen. Sie schlug sich zudem personalpolitisch in der Entlassung Bachs, Polizeiminister Kempens und Generaladjutant Grünnes als den drei noch verbliebenen Hauptprotagonisten des neoabsolutistischen Systems öffentlich nieder. Die spätere Ausbootung des für den adlig-klerikalen Konservatismus stehenden Unterrichtsministers Leo Thun-Hohenstein und die Chancenlosigkeit mehrerer neofeudal-patrimonialstaatlicher Restaurationsvorstöße signalisierten andererseits aber auch, dass eine Rückwendung hinter die staats- und gesellschaftspolitischen Modernisierungserfolge des Neoabsolutismus weder vom Kaiser noch von der Mehrheit der Minister akzeptiert werden würde.

Dennoch bleibt fraglich, ob tatsächlich von einer Kontinuitätslinie zwischen 1859 als Umkehrpunkt, 1860/61 als temporärem bzw. 1867 als endgültigem Durchbruch des Konstitutionalismus ausgegangen werden kann. Malfèr bemerkt dazu einschränkend, das Regierungsprogramm Rechbergs sei zwar nicht der Einführung des Konstitutionalismus gewidmet gewesen, habe durch Korrektur und Untergrabung des zentralistisch-bürokratischen Systems letztlich aber doch entscheidend zur Konstitutionalisierung beigetragen. Und in der Tat besteht ein eigentümlicher Widerspruch zwischen der von allen Ministerratsmitgliedern gebetsmühlenartig beteuerten Absicht, den „modernen Konstitutionalismus“ vermeiden zu wollen, und einer Politik, die mit der Stärkung des Ministeriums gegenüber Krone und Militär und der Einsetzung einer Budgetspar- (11.11.1859) bzw. Staatsschuldenkommission (Weihnachten 1859) bereits Kernelemente des späteren monarchisch-konstitutionellen Verfassungsdualismus auf den Weg brachte. Wie anders als durch die Einführung eines konstitutionellen Systems hätte die im Ministerrat immer wieder angesprochene notwendige Legitimierung weiterer steuerlicher Abschöpfungen und die Erlangung eines neuen Staatskredits erreicht werden sollen?

Den Protokollen ist zu entnehmen, dass offenbar die Idee einer eigenständigen Mischlösung zwischen Bürokratismus, Absolutismus und „modernem“ Konstitutionalismus verfolgt wurde. Ihr konkretes Aussehen zeichnete sich in den Beratungen der Konferenz jedoch noch nicht einmal in groben Zügen ab. Vielmehr wurde die interne Verfassungsdebatte nicht von der Einsicht in die Notwendigkeit und dem Glauben an die positive Gestaltbarkeit des politischen Systemwandels getragen (eine gewisse Ausnahme bildete der im Konferenzgremium zusehends isolierte Finanzminister Bruck), sondern von der Furcht vor dem Zusammenbruch des Finanzsystems bestimmt, so dass Helmut Rumplers früher geäußerte Vermutung, wonach „die Verfassungspolitik nur die Sekundärerscheinung eines sich dahinter vollziehenden Kampfes um die Neuverteilung der für den Staat zu tragenden finanziellen Lasten war“ 1, hier ihre Bestätigung findet. Andererseits bestanden am Ende des untersuchten Zeitabschnitts eine Reihe von Systemkomponenten, die den weiteren konstitutionellen Weg Österreichs maßgeblich prägen sollten. Dies galt insbesondere für die Wiedereinführung des Dualismus von Regierung und Repräsentation (Ministerprogramm, „Verstärkung“ des Reichsrats) sowie die grundsätzliche Akzeptanz des (differenzierten) Länderföderalismus – einschließlich gesonderter Regelung des Verhältnisses zu Ungarn. Die nachfolgenden Ansätze des Oktoberdiploms (1860) respektive Februarpatents (1861) erbrachten freilich weder die erhoffte Beruhigung der inneren Lage noch die Herausbildung eines eigenständigen Verfassungsmodells, wie es der zwischen Absolutismusskepsis und Parlamentarismusangst lavierenden Ministerkonferenz vorgeschwebt hatte. Dazu bedurfte es noch weiterer innerer Zuspitzungen und äußerer Demütigungen bis mit dem „Ausgleich“ und der „Dezemberverfassung“ von 1867 ein relativ stabiler Vereinbarungskonstitutionalismus, nicht unähnlich dem „deutschen Konstitutionalismus“ der Norddeutschen Bundesverfassung bzw. der späteren deutschen Reichsverfassung, gefunden wurde. Seine Grundidee zeichnete sich in den Beratungen der Ministerkonferenz bereits ab, auch wenn sich seine Konturen noch nicht herausgebildet hatten.

Anmerkungen
1 Rumpler, Helmut, Der Kampf um die Kontrolle der österreichischen Staatsfinanzen 1859/60. Ein Beitrag zur Geschichte des parlamentarischen Budgetrechts, in: Ritter, Gerhard A. (Hg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland (Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien), Düsseldorf 1974, S. 165-188, hier S. 166.

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