M. Gilbert u.a. (Hrsg.): Euroscepticisms

Cover
Titel
Euroscepticisms. The Historical Roots of a Political Challenge


Herausgeber
Gilbert, Mark; Pasquinucci, Daniele
Reihe
European Studies (36)
Erschienen
Anzahl Seiten
235 S.
Preis
€ 116,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Massimiliano Livi, Forschungszentrum Europa, Universität Trier

„Euroscepticism is on the march. Millions of Europeans appear to have lost faith in Brussels and the institutions of the European Union.“ Mit dieser Feststellung eröffnen Mark Gilbert und Daniele Pasquinucci ihre Einleitung zu dem Sammelband „Euroscepticism“, den sie zu Beginn des Jahres 2020 herausgegeben haben.

Die fünf Jahre vor der Publikation waren durch einen regelrechten Ansturm europakritischer Kräfte unterschiedlicher Natur geprägt, die inmitten von Finanz-, Flüchtlings- und Brexitkrise die Grundfesten der Europäischen Integration zu erschüttern schienen. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt erahnen, dass der Beginn der Pandemie 2020 sowie das durch den Krieg geprägte Jahr 2022 dem europäischen Projekt noch eine ganze Reihe weiterer Herausforderungen bescheren würden.

Gerade diese Unvorhersehbarkeit und das merkwürdige Timing der Krisen verleiht der Definition von Paul Taggart, die dem Buch als roter Faden dient, besondere Kraft: Euroskeptizismus ist gleichzeitig „contingent and conditional“, d.h. er erlebt unterschiedliche Phasen der Sichtbarkeit und der Politisierung sowie der Relevanz im öffentlichen Diskurs.1 Und in der Tat haben die letzten zwei Jahre, mit der Bewältigung der Pandemie, den Konflikten um das Konjunkturpaket NextGenerationEU sowie dem Krieg in der Ukraine, gezeigt, wie kontingent Euroskeptizismus sein kann.

Dass der Sammelband „Euroscepticism“ keine obligatorische Publikation von Tagungsakten ist, merkt man sowohl an der Struktur als auch an der systematischen Herangehensweise. Es geht den Herausgerbern darum, systematisch zu hinterfragen, was Euroskeptizismus ist und wie er sich historisieren lässt. Der Gefahr trotzend, in eine Art „Gegenwarthaftigkeit” zu geraten (S. 5), versuchen die Herausgeber des Bandes das Thema Kritik und Opposition gegenüber der Europäischen Integration zu historisieren. Ihr Versuch substantiiert sich in dem Bemühen, Kritik und Opposition jenseits ihrer Dimension als „a counter-claim made futile by the extraordinary developments of the EC/EU“ bzw. als „expressions constantly reducible to an anachronistic attachment to national sovereignty“ (S. 5) zu untersuchen. Dies wird als Versuch betrachtet, „sich in die Lage derjenigen [zu] versetzen, die sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten gegen die politischen Entscheidungen oder die institutionelle Stärkung der EG/EU gewehrt haben, und heraus[zu]finden, warum“ (S. 5).

In erster Linie geht es in dem Band darum, zu überprüfen, ob die Kategorie Euroscepticism, jenseits politologischer Definitionen und Einordnungen, auch als geschichtswissenschaftliche Kategorie nutzbar ist. Die Periodisierung für eine langfristige Analyse wird im ersten Kapitel von Antonio Varsori, als ausgewiesenem Experten für die Geschichte der europäischen Integration, vorgegeben. Varsori markiert in seinem Beitrag die drei wichtigsten transnationalen Etappen, auf die sich alle Autor:innen beziehen: Eine erste von 1947–1957, in der zahlreiche nationale politische Parteien ideologische Skepsis bis hin zur Ablehnung der europäischen Integration äußerten. Eine zweite Periode stellt laut Varsori die Zeit zwischen Ende der 1950er- bis etwa Ende der 1990er-Jahre dar, in der ein pro-europäischer Konsens der nationalen Eliten und der öffentlichen Meinung für die Entwicklung der europäischen Institutionen wachsen konnte. Als letzte und aktuelle Etappe benennt er die Phase seit den frühen 2000er-Jahren, in der immer größere Teile der öffentlichen Meinung und der Politik den Europäischen Integrationsprozess in Frage stellten.

Neben dieser – zumindest in ihrer Tendenz durchaus überzeugenden – Periodisierung versucht Varsori in seinem Beitrag eine langfristige historische Kontextualisierung des Phänomens Euroskepsis vorzunehmen. Obwohl Varsoris Periodisierung sicherlich einen nachvollziehbaren Ansatz darstellt, bleibt sie nicht unproblematisch, da er Opposition und Kritik immer in einem kausalen Zusammenhang mit dem unaufhaltsamen Prozess der Europäischen Integration einfügt und somit Formen der Gegenläufigkeit von Integration und Des-Integration zu stark ausblendet. Diese notwendige Ausdifferenzierung wird aber, meist implizit, in den einzelnen Kapiteln mit nationalen Fallstudien verhandelt.

Seit 2001 wird der Euroskeptizismus, d.h. insbesondere die Desillusionierung und das Gefühl der Distanz zwischen der EU und ihren Bürgern, von Varsori als eine „steigende Flut“ definiert (S. 24), welche als Ergebnis einer Krisenphase in einem ansonsten als Erfolgsgeschichte betrachteten europäischen Integrationsprozesses (S. 26) zu verstehen sei. Genau zu diesem Punkt merkt Daniele Pasquinucci in seinem Beitrag zu Italien an, dass die Unterschätzung der dialektischen und gegenläufigen Dimension des Anti-Europäismus eine häufige Fehlwahrnehmung unter Historiker:innen der europäischen Integration sei: „European integration fits perfectly into the direction of history and […] the progress of the latter has been due to a dialectical tension between Europeanism – embodying ‘modernity’ – and anti-Europeanism – Representing a ‘regression’” (S. 57). Es sind die nationalen Fallstudien in dem vorliegenden Band selbst, die zeigen (oder zumindest andeuten), dass „Opposition to Europe is an integral part of European integration and, indeed, in some ways has been essential to its success” (S. 5). Sie unterstreichen zudem, dass es sich dabei zumeist nicht um eine kausale Reaktion, sondern um Wechselbeziehungen zwischen dem Prozess der Integration und der Des-Integration handelt.

Insgesamt besteht das Buch aus elf Kapiteln einschließlich der Einleitung und eines letzten zusammenfassenden Kapitels (Paul Taggart). Die neun nationalen Fallstudien (Frankreich, Italien, Deutschland, die Niederlande, Großbritannien, Dänemark, Griechenland, Polen und die Tschechische Republik), beziehen sich aufeinander und stellen das Thema des Buches ins Zentrum ihrer Analysen.

In der Einleitung fragen die Herausgeber, alles andere als rhetorisch, ob eine Gliederung des Buches nach nationalen Kapiteln nicht ein (methodischer) Rückschritt sei, und prüfen die Brauchbarkeit dieses Modells (S. 8). In einem gewissen Sinne lässt sich diese Frage mit einem Ja beantworten, da ein an sich gesamteuropäisches Phänomen auf eine Reihe nationaler Besonderheiten, „Sonderwege“ und Bedingungen reduziert wird. In der Anlage des Bandes stellen die neun Kapitel aber nicht neun parallele Versuche dar, den Euroskeptizismus zu historisieren, sondern setzen sich grundsätzlich vor allem mit der heuristischen Nutzbarkeit des Begriffes Euroskeptizismus für Historiker:innen des 20. Jahrhunderts auseinander.

In der Tat erweisen sich die angebotenen nationalen Perspektiven, spätestens nach der dritten Case Study (Gabriele D’Ottavio über Deutschland), als besonders ergiebig, weil dadurch mehrere – und nicht selten doch transnationale – Facetten des Euroskeptizismus in den Vordergrund treten. Diese sind bisher in der Literatur zur Europäischen Integration oft im Schatten geblieben, da sie durch die (durchaus legitime) Emphase auf die Entwicklung der europäischen Institutionen und die Etablierung einer supranationalen Politik ein gewisses „Europa-Bias“ (S. 6) erlebt haben.2 Zweifellos trägt in diesem Sinne vor allem die Übernahme von Varsoris Periodisierung dazu bei, ein allzu einheitliches Narrativ zu hinterfragen. So ermöglicht die „nationale“ Perspektive bereits in der ersten Fallstudie (Emmanuelle Reungoat über Frankreich) zu verstehen, dass der Euroskeptizismus kein Prozess ist, der sich gesamteuropäisch historisieren lässt. Stattdessen wird gezeigt, dass der Begriff eher eine transnationale politologische Kategorie ist, die sehr unterschiedliche Formen der Kritik und der Opposition während der Phasen vor dem sogenannten „Post-Maastricht-Blues“3 verbindet.

Insgesamt unterstreichen alle Autor:innen, dass Opposition und Kritik neutrale Begriffe seien, die auch auf jene frühen Phasen des Integrationsprozesses angewendet werden können, in denen die europäische Integration viel stärker umstritten und politisiert war, als oft angenommen wird (S. 76). So zeigen die Kapitel über Frankreich (Emmanuelle Reungoat), Italien (Daniele Pasquinucci) und Deutschland (Gabriele D’Ottavio) sehr deutlich, wie sich Kritik und Opposition durch die gesamte Geschichte des europäischen Projekts (hin-)durchgezogen haben und zu einer Konstante in der europäischen Debatte geworden sind. Vor allem die italienischen, deutschen und griechischen (Kira Gartzou-Katsouyanni) Fallbeispiele zeigen darüber hinaus, wie Kritik und Opposition sogar Teil eines (eher pragmatischen) pro-europäischen Diskurses waren (und sind). Insbesondere das Beispiel der Niederlande (Hans Vollaard) unterstreicht, wie Opposition und „Europhilie“ sich in einer Anti-Establishment-Kritik bzw. in einer pragmatischen Verteidigungs- und Überlebensstrategie auf der Grundlage internationaler Allianzen vermengen können (S.117).

Eine der Stärken (und gleichzeitig das Hauptziel) des Bandes besteht darin, zu zeigen, dass die historischen Wurzeln des gegenwärtigen Euroskeptizismus das Ergebnis einer zeitlichen Sedimentierung von Themen und Diskursen aus der früheren Phase des europäischen Integrationsprozesses sind (S. 72). Es wird argumentiert, dass dies dann in der durch den pro-europäischen Pragmatismus der nationalen Eliten gekennzeichneten Phase (1960er- bis 1990er-Jahren) weitgehend ausgeblendet wurde, um seit den frühen 2000er-Jahren in einer euroskeptischen Tonart wieder aufzutauchen. Das beste Beispiel in diesem Sinne wird von Mark Gilbert über Großbritannien eingebracht. Obwohl das Kapitel vielleicht ein wenig zu umgangssprachlich und manchmal recht ironisch geschrieben ist, erklärt er in seinem Beitrag sehr überzeugend, wie und mit welcher Qualität kritische Positionen, die bereits in den 1960er-Jahren von Intellektuellen und Politikern wie Enoch Powel und Douglas Jay vertreten wurden, im Moment des Brexits mit entscheidender Kraft wieder auftauchten.

Neben der Schilderung einer transnationalen Wechselwirkung von Opposition und Kritik mit dem pro-europäischen Pragmatismus der nationalen Eliten zählt zu den weiteren Verdiensten des Bandes sicherlich auch die Sichtbarmachung in einer Perspektive langer Dauer von mindestens zwei weiteren transnationalen Aspekten des Euroskeptizismus: Der erste Aspekt betrifft die Tatsache, dass Euro-kritische Diskurse keine konservative bzw. rechte Besonderheit sind. Im Gegenteil waren sie zumindest bis Mitte der 1960er-Jahre in der kommunistischen und sozialdemokratischen Linken des Westblocks dominant, obwohl die Fälle Frankreichs, Italiens, Deutschlands und Griechenlands sehr unterschiedliche Motive bezeugen. Sie reichen von einer Verteidigung des Nationalstaates als Bollwerk des Wohlfahrtsstaates (PCF) über die „nationale“ Positionen der SPD Kurt Schumachers (hier diente vor allem die angestrebte deutsche Wiedervereinigung als Argument), über einen Aufruf zur Wahrung der institutionellen Integrität des italienischen Parlaments durch die PCI, bis hin zu den „antikolonialen“ Argumenten von Andreas Papandreou und der griechischen Linken.

Der zweite Aspekt, der leider im vorliegenden Band nicht umfassend genug erörtert wird, betrifft die in mehreren Beiträgen angedeutete „konfessionelle“ Dimension der (in diesem Fall) pro-europäischen Skepsis. Jenseits der Besonderheit Polens (Simona Guerra), wo zwischen 2001 und 2008 der ultra-konservative Katholizismus von Radio Maryja und der Liga Polskich Rodzin (LPR) gegen die EU als säkulare Gefahr beworben wurde, weisen Gabriele D'Ottavio und Hans Vollaard auf eine konfessionelle Kluft zwischen katholischen und protestantischen Ländern hin, die ihrerseits unterschiedliche Visionen von Integration vertreten. Während die Konservativen in den katholischen Mehrheitsländern eher ein harmonisches supranationales Modell bevorzugen, werben die Konservativen in den protestantischen Ländern für die weitgehende Erhaltung nationaler Souveränität, aus Angst vor der Schaffung eines ,,monistischen Superstaates“ (S. 109).

Als Fazit lässt sich das besprochene Buch als ein sehr willkommenes und originelles Handbuch zur Ausdifferenzierung der europäischen Integrationsgeschichte begreifen. Es wäre durchaus wünschenswert gewesen, in der Einleitung mehr über die Entstehungsgeschichte und über den epistemologischen Beweggrund des Bandes zu erfahren. Dies tut seinem Gebrauchswert allerdings keinerlei Abbruch. Neben seinem Nutzen für Fachdebatten und universitäre Lehre gleichermaßen sollte zudem nicht unerwähnt bleiben, dass das Buch durchaus auch für ein interessiertes Laien-Publikum gewinnbringend und lesenswert sein dürfte.

Anmerkungen:
1 Paul Taggart, A Touchstone of dissent. Euroscepticism in contemporary Western European party systems, in: European Journal of Political Research 3 (1998), S. 363–388.
2 Unter den wenigen Ausnahmen: Annegret Eppler / Henrik Scheller (Hrsg.), Zur Konzeptionalisierung europäischer Desintegration. Zug- und Gegenkräfte im europäischen Integrationsprozess (Schriftenreihe des Arbeitskreises Europäische Integration e.V. 78), Baden-Baden 2013.
3 Richard C. Eichenberg / Russel J. Dalton, Post-Maastricht Blues. The Transformation of Citizen Support for European Integration, 1973–2004, in: Acta Politica 2–3 (2007), S. 128–152.