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Titel
Beschreiben und Vermessen. Raumwissen in der östlichen Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert


Herausgeber
Johler, Reinhard; Wolf, Josef
Reihe
Geschichtswissenschaft 16
Erschienen
Berlin 2020: Frank & Timme
Anzahl Seiten
732 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Landais, Centre Norbert Elias (UMR 8562), Avignon Université

Mit der Explosion der Kartenproduktion im 18. Jahrhundert tritt das Raumwissen in eine neue Phase.1 Im Gegensatz zu den Welt- und Kolonialmächten des 18. und 19. Jahrhunderts steht jedoch die Habsburgermonarchie, vor allem ihr östlicher Teil, zumeist nicht im Zentrum der Forschungsagenda. Vor diesem Hintergrund leisten Reinhard Johler und Josef Wolf einen wertvollen Forschungsbeitrag. Die 20 Beiträge des Werkes, die von deutschen, ungarischen, rumänischen und kroatischen Forscherinnen und Forschern geschrieben wurden, machen für das wissenschaftliche und deutschsprachige Publikum eine repräsentative Übersicht dieser wenig bekannten Geschichte verfügbar. Der Sammelband vermittelt nicht nur die lokale Version eines Gesamtprozesses. Denn er begrenzt sich eben nicht auf das Kartenobjekt an sich, sondern richtet seine Aufmerksamkeit auch auf andere Wissensformate, wie Landesbeschreibungen, Kataster, Grundbücher und statistische Tafeln. Die Problematik des Buchs ist eng mit der Schaffung eines einheitlichen bzw. homogenen Raums des habsburgischen Staates verbunden. Die Steuerungs- wie auch die Wissenspraxis wird im regionalen, territorialgeschichtlichen und machtpolitischen Kontext analysiert.

Die Einführung der beiden Herausgeber legt – gemeinsam mit dem ersten Artikel von Peter Becker – die theoretischen Leitlinien des Forschungsprojekts. Die Untersuchung des Raumwissens im Zusammenhang mit Formen der modernen Staatlichkeit ist stark von den erkenntnistheoretischen – und nicht immer kompatiblen – Perspektiven von Henri Lefebvre, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Bruno Latour und James Scott geprägt. Die Standardisierungstendenzen der Bevölkerungsbeschreibung und der Raumwahrnehmung im Dienst der frühneuzeitlichen Regierung stehen im Vordergrund. Im habsburgischen Kontext sollte es hier aber keinen entscheidenden Bruch mit der traditionellen kartographischen Praxis geben; es lassen sich allerdings mehrere Wendepunkte im Band identifizieren: Die Eroberung und die Neuordnung des osmanischen Ungarns ab dem Ende des 17. Jahrhunderts, die Neugestaltung und Disziplinierung der Militärgrenze Mitte des 18. Jahrhunderts sowie Herrschaftsexperimente und Urbarien-Reformen unter Maria-Theresia (1740–1780) stellen derartige Neuerungen dar. Ebenso sind die josephinischen Regierungsexperimente (1780–1790), die Institutionalisierung der Staaten- und Volkskunde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie die in Bezug auf den Staat wie auch die internationalen Wissenschaftskongresse zentralisierte Konzeption der statistischen Wahrnehmungsmittel ab den 1860er-Jahren weitere Wendepunkte. Die Beiträge sind thematisch in drei Teile gegliedert und chronologisch innerhalb eines Teiles geordnet.

Der erste Teil ist der „Verwaltungskommunikation und Landesbeschreibung“ gewidmet. Im 18. Jahrhundert entspricht dieses Wissensformat vor allem einem wirtschaftlichen und fiskalischen Bedürfnis; die Dokumente sind üblicherweise von den Verwaltungsräten der lokalen Finanzbehörde verfasst. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei die Kameralistik. Es handelt sich aber nicht nur um eine systematische Darstellung eines Landes und einer Bevölkerung. Wichtig sind auch die ausgearbeiteten Pläne bezüglich einer Verwaltungsreform sowie einer Erhöhung der Abgaben an den jeweiligen Herrscher/innen (Josef Wolf). Karten, Pläne und Formulare sind zuweilen als Anhang in die Beschreibungen eingebunden. Diese stützen jeweils die Argumentation der verfassenden Finanzräte oder auch der Bergwerks- und Befestigungsinspektoren. Des Weiteren zeigen die fünf Artikel des ersten Teils eine Verwurzelung der Landesbeschreibung im Späthumanismus (Livia Ardelean und Wolfgang Zimmermann). Hier ist die Landesbeschreibung eng an die Konstruktion einer andauernden regionalen Identität geknüpft. Dieser Prozess setzt sich übrigens im 19. Jahrhundert fort: So ist es genau jenes Wissensformat, das zu einem bevorzugten Medium der Vaterlandskunde avanciert. Auch wenn die Landesbeschreibung von Privatpersonen oder Verbänden verfasst wird, vermittelt sie eine besondere Form von Patriotismus – gebunden an einen jeweiligen Souverän. (W. Zimmermann und Lioba Keller-Drescher). Im besonderen Fall des Banater Montangebiets nach 1854 werden die Dokumentation wie auch die Praktiken der Gebietsbeschreibung durch ein Privatunternehmen übernommen. Und diese Aneignung schließt eben auch die symbolische Dimension des Prozesses ein, die letztlich eine Disziplinierung der lokalen Bevölkerung zum Ziel hat (Rudolf Gräf).

Der zweite Teil ist der kartographischen Produktion in engerem Sinne gewidmet. Dennoch verfolgen die neun Beiträge zwei verschiedene Ansätze: Vier der Autoren präsentieren eine klassische Abhandlung militärischer Kartengeschichte. Die Ergebnisse dieser Beiträge sind von großem Interesse; denn sie ermöglichen ein grundlegendes Verständnis der weitergehenden Entwicklung der Kartenproduktion. Dabei fokussieren sie deren Benutzung und Rahmenbedingungen im Bereich der Pannonischen Tiefebene vom 16. bis zum 20. Jahrhundert: Robert Born zeigt, dass die österreichisch-osmanischen Auseinandersetzungen den Antrieb der kartographischen Entwicklung auf diesem Gebiet darstellen. Seine umfassende Studie konzentriert sich auf fundierte wie tiefgehende Erläuterungen der Quellen. Antal András Deák zeigt anschließend auf, wie die lokale Kartographie sich im befriedeten Ungarn des 18. Jahrhunderts entwickeln konnte. Eine weitere Etappe der Geländevermessung wird unter der Herrschaft von Joseph II. erreicht – Antal Szantáy beschreibt diese Entwicklung in seinem Aufsatz. Und letztlich schließt Peter Jordan diese historische Sequenz durch seine Studie des Militärgeographischen Instituts an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ab.

Vier weitere Beiträge des ersten Teils sind auf den Aspekt der Flurkarten ausgerichtet. Diese Dokumente sind nicht nur fiskalische Instrumente. Sie schreiben sich auch in eine weitergehende Entwicklung der Ordnung und Zivilisierung lokaler Bevölkerung ein. Xénia Havadi-Nagy betrachtet die Flurkarten hier im Rahmen einer Neustrukturierung der Militärgrenzen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Im selben geographischen Raum beschreibt Erik Roth die Tragweite der Veränderungen des sozialwirtschaftlichen Lebens, die von der Verwaltung umgesetzt wurden. Im herrschaftlichen Kontext betont Karl-Peter Krauss den Versuchscharakter dieser neuen ländlichen Raumordnung. Die geometrische Anlage der Dörfer wird von agronomischen Theorien wie der Samuel Tessediks getragen und von Gebietsverwaltern umgesetzt wie es beispielsweise in Bóly der Fall ist. Kurt Sharr behandelt schließlich die längerfristigen Konsequenzen der Katasterumsetzungen in der Bukowina. Er versteht diese vor allem als ein Instrument zur Homogenisierung der Verwaltungspraktiken, die letztlich einer andauernden Integration der Provinz in die Habsburger-Monarchie dient. Alexander Buczynski liefert auf der Basis eines abwechslungsreichen Quellenkorpus einen Beitrag über die Beschreibung der kroatisch-slawonischen Militärgrenze.

Der dritte Teil ist kürzer. Die ersten drei Artikel dieses Teils bilden ein kohärentes Ensemble, das sich der Darstellung eines multiethnischen Raumes widmet. Borbála Zsuzsanna Török behandelt die Aufnahme des Prinzips der deutschen Staatenkunde in Ungarn am Ende des 18. Jahrhunderts; hierbei fokussiert sie das Werk Martin Schwartners. Obwohl dieser als Meister seiner Disziplin gelten darf, entwirft er letztlich seine eigenen Identifikationskategorien, um der Diversität der in Ungarn lebenden Völker gerecht zu werden. Reinhard Johler konzentriert seinerseits das Augenmerk auf eine später in Erscheinung tretende Persönlichkeit, die des österreichischen Ethnographen Arthur Haberlandt (1889–1964). Dessen Arbeiten erlauben es, die Verbindungen zwischen der habsburgischen Tradition der ethnographischen Kartographie – von Karl von Czoernig Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt – und den ethnographischen Atlanten zu sehen, die nach dem zweiten Weltkrieg in Ost wie West publiziert wurden. In einem weiteren Beitrag kommt Róbert Keményfi auf die Disziplingenese der Volkskunde in Ungarn zu sprechen. Er betont dabei – aufgezeigt an einigen Schlüsselmomenten – die Tendenz einer Instrumentalisierung von Geographie und Statistik zur Stützung politischer Argumentationen. Die letzten beiden Aufsätze treten aus dem thematischen Rahmen heraus; hierbei handelt es sich um die Studien György Pápays mit dem Schwerpunkt militärischer Kartographie sowie derjenigen Sebastian Kinders, die sich länderkundlichen Narrationen widmet.

Der großen Qualität der Beiträge des Werks zum Trotz leidet es an den üblichen und beinah unvermeidbaren Schwerfälligkeiten eines Sammelbandes. Manche Ungleichgewichte sind offensichtlich, wie die übermäßig vertretende Thematik von militärischer Kartographie oder Verwaltungsstatistik. Der Staat wird hier gewiss nicht als „Blackbox“ betrachtet; sein Handeln ist immer in den Kontext gesetzt, seine internen Konflikte werden nicht verschwiegen. Dahingegen werden die nichtstaatlichen Akteur/innen der Produktion von Raumwissen wenig behandelt oder sie sind es eben lediglich aufgrund ihrer Verbindungen zu Staat oder Herrscher/in. Die Archive der Kirchen, der Herrschaftsgebiete, der umfangreichen Welt der lokalen Verbände am Ende des 19. Jahrhunderts sind vergleichsweise wenig benutzt. Auch die Gebiete werden ungleichmäßig abgehandelt. Das Banat wie auch die Grenzgebiete – Máramaros, Bukowina, Militärgrenzen – werden ausführlich untersucht. Die Studien zum ungarischen Kerngebiet oder zu Siebenbürgen sind dahingegen unterrepräsentiert. Des Weiteren wird sich der/die Leser/in gewiss über die Beiträge zu württembergischen Gebieten verwundern – trotz ihres eindeutigen wissenschaftlichen Interesses.

Schließlich existiert ein Graben zwischen der – mittels einer Soziologie des Raums sowie einer historischen Epistemologie – stark aufgeladenen Problematisierung einerseits und den Schwierigkeiten eine kohärente Perspektive in der Annäherung an den Raum zum Vorschein zu bringen andererseits. Nahm der östliche Teil der Habsburger Monarchie tatsächlich eine Sonderstellung ein, in diesem Europa der Verwalter, der Kartographen und Statistiker? Kann diese Besonderheit in der Spannung der nationalen Fliehkräfte und der uniformierenden Tendenzen innerhalb der Monarchie zusammengefasst werden? Ist diese an eine späte Integration des Gebiets gebunden, an administrative Experimente oder an Zivilisierungsprojekte, die sich mit kartographischen Unternehmen assoziierten? Diese Fragen bleiben noch offen.

Anmerkung:
1 Matthew Edney / Mary Pedley (Hrsg.), The History of Cartography, Bd. 4: Cartography in the European Enlightenment, Chicago 2020.

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