Die Bedeutung der kulturellen Wortprogramme nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist sicherlich kaum zu überschätzen. Bis heute wird jener „Hunger nach Kultur“ beschworen, der in Deutschland nach dem Sturz des Hitler-Regimes geherrscht haben muss. Ein unbestechlicher und kritischer Augenzeuge, der aus dem Exil zurückkehrende Theodor W. Adorno, zeigte sich 1949/50 überrascht von diesem „geistigen Klima“, das nach der „geistigen Dürre des Dritten Reiches“ herrsche: Überall - so der Remigrant - erlebe man eine „Auferstehung der Kultur in Deutschland“. 1 Die Hörfunkprogramme der Sender in den westlichen Besatzungszonen, die 1948/49 als öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten lizenziert wurden, trugen maßgeblich dazu bei, diesen Hunger zu wecken und zu befriedigen. Das Kulturradio erlebte eine Blütezeit.
Zu einem regelrechten Markenzeichen dieser Kulturradios wurden Ende der 1940er-Jahre die „Nachtprogramme“, „Funk-Universitäten“ und „Abendstudios“. Mit Sendezeiten um 22.00 Uhr und später, also an der Peripherie des Tagesprogramms platziert, entwickelten der NWDR, HR, SWF, BR und der RIAS solche Programmangebote, deren Adressat die geistige „Elite“ des Landes war: Ein Minderheitenprogramm, dessen Zuhörerschaft messbar zwischen einem und vier Prozent lag, was allerdings allein im Sendegebiet des NWDR einer Größenordnung von über 100.000 Personen entsprach. Doch das Kriterium der Quantität und der Quote wurde damals zurückgestellt. Vielmehr sollte das „Nachtprogramm“ einer Selbstreflexion der bundesrepublikanischen Intellektuellen dienen und es konnte - in anderer Weise als der wirtschaftlich organisierte freie Markt der Zeitschriften und Verlage - die maßgeblichen intellektuellen Debatten in Deutschland mitprägen.
Dieses für die Ideengeschichte der Nachkriegszeit wichtige Thema greift die Historikerin Monika Boll in ihrer vorliegenden Arbeit auf, die sie mit Unterstützung der Volkswagen-Stiftung am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte II in Bochum erstellt hat. Dabei platziert Boll ihre Studie in ein interessantes Forschungsfeld. Denn in den letzten Jahren erschienen einige Analysen, die sich zunehmend kritisch mit den abendlich-elitären Programmangeboten auseinandergesetzt haben, etwa Axel Schildts Analyse des „elitären Diskurses zur Nachtzeit“. Die in programmgeschichtlicher Hinsicht grundlegende Studie des Themas diagnostizierte für das „Nachtprogramm“ des NWDR-Hamburg eine Nähe zum kulturkonservativen Krisenbewusstsein der Zeit und zur antimodernistischen Kulturkritik. 2 Vor einem solchen Hintergrund startet Boll ihren Überblick über mehrere „Nachtprogramm“-Angebote in Westdeutschland, das Hamburger „Nachtprogramm“ unter Jürgen Schüddekopf, das Frankfurter „Abendstudio“ von Alfred Andersch sowie die „Aula“ von Herbert Bahlinger beim SWF in Baden-Baden. Weitere Redaktionen werden von ihr zwar gestreift, jedoch weniger was ihr Programmangebot anbelangt, als vielmehr im Hinblick auf die Berufsbiografien ihrer Redakteure Herbert Kundler (RIAS), Gerhard Löwenthal (RIAS/SFB), Gerhard Szczesny (BR) und Carl Linfert (NWDR-Köln/WDR).
Überhaupt gilt Bolls wissenschaftlicher Ansatz nicht der Programmgeschichtsforschung. Ihr wirft sie sogar eine „eigenartige Selbstbezogenheit der Darstellung“ und „das Fehlen eines übergeordneten heuristischen Interesses“ vor (S. 9). Scharf grenzt sie sich davon ab, will die Historikerin doch konkrete Fragestellungen entwickeln, hier im Bereich einer „intellectual history“, die die Geschichte von Intellektuellen und die Transformationsleistung von intellektuellen Diskursen aufzeigen soll (S. 7). Dies unternimmt Boll mit einer zentralen These, die sie gleich mehrfach in der Arbeit entfaltet. Demnach seien die 1950er-Jahre von einem diskursiven Umbruch gekennzeichnet gewesen. Zunächst habe eine „ungebrochene Kultureuphorie“ vorgeherrscht (S. 11), ein traditionelles Kulturverständnis, das alle Phänomene der Kunst, Literatur und der Gesellschaft lediglich in Form eines kulturellen Diskurses aufgegriffen habe. Erst mit dem Auftreten mehrerer Soziologen, sowie deren Wirkungsgeschichte und der Entwicklung der Soziologie zu einer demokratischen Leitwissenschaft in der Bundesrepublik sei ein „neuer Gesellschaftsdiskurs“ aufgekommen, der die „Wahrnehmung für die Unumkehrbarkeit des Vergesellschaftungsprozesses auszubilden“ begonnen habe (S. 10f.).
Unter dieser Prämisse ordnet Boll ihr Material, dessen Darstellung und Interpretation. So gilt der erste Abschnitt ihrer Arbeit dem konservativen Kultur-Verständnis, in dem sie in einem ersten Kapitel die „Flucht aus der Moderne“ u.a. bei der „jungen Generation“ schildert (S. 22-49) und in einem zweiten Kapitel die drei genannten „Nachtprogramm“-Redaktionen vorstellt, die - so Boll - samt und sonders „als verlängerte Kontinuitäten den Zeitgeist der Nachkriegsjahre“ bestimmt haben (S. 130). Mit der Kultur-Emphase hätten viele Redakteure eine „Rhetorik der Bewältigungspublizistik“ gefunden, die es ihnen und großen Teilen ihres Publikums erlaubt habe, ihre intellektuelle Identität über 1945 hinweg aufrechtzuerhalten (S. 12).
In der zweiten Hälfte ihrer Arbeit widmet sich Boll dann ausführlich der Geschichte der Soziologie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik. In den Kapiteln III bis V werden die „westdeutsche Soziologie zwischen Gesellschaftsdiskurs und Kulturkritik“ (S. 132-162) behandelt, die „Medienpräsenz der Soziologie“ (S. 163-201) geschildert und „intellektuelle Ortsbestimmungen Mitte der fünfziger Jahre“ (S. 202-242) vorgenommen. Im Mittelpunkt stehen dabei die wichtigsten Vertreter der westdeutschen Nachkriegssoziologie Theodor W. Adorno, Arnold Gehlen, Max Horkheimer, René König, Helmuth Plessner und Helmut Schelsky. Anhand einzelner soziologischer Tagungen, spektakulärer Buch- und Zeitungsveröffentlichungen sowie einiger Rundfunkgespräche zeichnet Boll die stetige Entwicklung der Soziologie zu einer empirisch-analytischen Wissenschaft nach. Zu Beginn der 1960er-Jahre verstehe sich diese nicht mehr als Kulturkritik, sondern habe neue Methoden entwickelt, um den Vergesellschaftungsprozess kritisch zu begleiten.
Eben diese Anordnung des Materials unter einer bereits in der Einleitung sehr dezidiert vorgetragene These macht die Möglichkeiten und Grenzen der vorliegenden Untersuchung deutlich. Die bestechende Chance liegt in der Darstellung des radiophonen Wirkens der soziologischen Wissenschaftler, die mit ihren Vorträgen, Essays und Diskussionsrunden in den „Nachtprogrammen“ eine größere als die akademisch-universitäre Öffentlichkeit fanden, eine Diffusion soziologischer Grundeinsichten (René König) ermöglichten und einen gesellschaftspolitischen Diskurs entfachen bzw. vorzubereiten halfen - mithin also ein wichtiges Kapitel der Übergangsperiode der 1950er-Jahre nachzeichnen, um die konkret stattfindenden Veränderungen in den 1960er-Jahren zu verstehen.
Die Grenzen der Arbeit treten jedoch dort zutage, wo Boll alle Phänomene als Belege für ihre Behauptung von einer Abfolge zweier Diskurse interpretiert. Das führt notwendigerweise zu einer Vielzahl von Gegenfragen. Etwa der, warum ausgerechnet Carl Linfert als Leiter des Kölner „Nachtprogramms“ zwar biografisch zur Generation der im Dritten Reich sozialisierten Journalisten gehört (S. 120ff.) und seine Arbeit von Boll unter dem Bereich des „Kulturdiskurses“ subsumiert wird; dieser in Soziologie und Kunstgeschichte promovierte kritische Intellektuelle jedoch gleichzeitig zu einem der Wegbereiter des „Gesellschaftsdiskurses“ werden konnte. Ähnlich verhält es sich mit Gerhard Szczesny, dem „Nachtprogramm“-Chef in München: Seine in vielerlei Hinsicht interessante Biografie - Studium im Dritten Reich bei Alfred Six, Arnold Gehlen und Nicolai Hartmann, Sozialdemokrat und Atheist in Bayern in der Nachkriegszeit - wird sehr kurz im ersten Abschnitt über die kulturkritische Phase gestreift, der „Fall Szczesny“ gar - die Kündigung durch den BR 1961 im Zusammenhang mit den Vorwurf der kommunistischen Propaganda und der Gotteslästerung - in eine Fußnote verbannt (S. 125f.). Noch einmal taucht er in der Arbeit auf, als es Boll darum geht, René Königs Kampf gegen den Klerikalismus des öffentlichen Lebens zu schildern, denn Szczesny spielte hierbei mit zwei großen Sendereihen über die „Zukunft des Unglaubens“ (1958) und „Glaube und Unglaube“ eine wichtige Rolle. So fällt es immer wieder auf, dass zwar eine „intellectual history“ angekündigt wurde, die Porträts der „Nachtprogramm“-Redakteure aber sehr oberflächlich bleiben. Über ihre intellektuellen Dispositionen und Netzwerke, ihre redaktionellen Absichten und Strategien innerhalb der Rundfunkanstalten hätte man gern Näheres erfahren.
Es ist die grundsätzliche Schwierigkeit, einen Prozess zu fassen, der vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende der Adenauer-Ära reicht und mit der These von einem grundlegenden Diskurs-Wechsel die in der Forschungsliteratur mittlerweile oft beschriebene Janusköpfigkeit der 1950er-Jahre noch einmal fokussiert. Diese Schwierigkeit spiegelt sich in der Arbeit wider, gerade deshalb, weil die These von der Abfolge zweier Diskurse so dezidiert vorgetragen wird und eher wenige Hinweise auf das prozessuale Geschehen, auf schrittweise Etappen und etwaige Phasenverzögerungen erfolgen. Gerade die Interpretation einzelner Schlüsseldokumente greift hier recht kurz, wie etwa die in einem offenen Brief vorgetragene Kritik von Peter Coulmas am Hamburger Nachtprogramm von Jürgen Schüddekopf als hellsichtige Vorwegnahme einer später stattfindenden Entwicklung. Coulmas richtete am 6. Juli 1948 - zu einem äußerst frühen Zeitpunkt also - seine Warnung vor einer „dünkelhaften Überschätzung der Kultur“ und sein Plädoyer für eine „neue synthetische Sichtweise“ von Kunst und Wissenschaft, von Kunst und Gesellschaft an den Redakteur. Die Kritik von Peter Coulmas, zu dieser Zeit selbst „Nachtprogramm“-Autor und später einflussreicher Rundfunkredakteur, wurde von Jürgen Schüddekopf offensichtlich problemlos in die Ausgabe der 100. „Nachtprogramm“-Sendung integriert. 3 Ähnliches gilt für den Essay von Theodor W. Adorno, der im Frühjahr 1950 unter der Überschrift „Die Auferstehung der Kultur in Deutschland?“ für das „Abendstudio“ des HR entstand und im Mai 1950 in den „Frankfurter Heften“ gedruckt wurde. Vieles von dessen kritisch spiegelnder Funktion geht Boll verloren, die diesen Titel übrigens bis in die Bibliografie hinein fälschlich auf den apodiktischen Slogan „Die auferstandene Kultur“ reduziert.
Gleichwohl bietet Bolls essayistisch geschriebene und auf 270 Seiten komprimierte Darstellung eine anregende Lektüre für Zeit- ebenso wie für Rundfunkprogrammhistoriker. Vielleicht führt eine solche durch eine Forschungsstiftung ermöglichte Arbeit sogar dazu, den von Monika Boll geschilderten Gegensatz der beiden Zugänge in Zukunft nicht so unversöhnlich stehen zu lassen. Die beiden wissenschaftlich am selben Objekt arbeitenden Disziplinen könnten manches voneinander lernen.
Anmerkungen:
1 Adorno, Theodor W., Auferstehung der Kultur in Deutschland?, in: Frankfurter Hefte 5,5 (1950), Mai 1950, S. 469-477; Zitate, S. 469f.
2 Schildt, Axel, Elitäre Diskurse zur Nachtzeit – „Zeitgeist“-Tendenzen im Nachtprogramm und im Dritten Programm des Nordwestdeutschen und Norddeutschen Rundfunks, in: Ders., Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999, S. 83-110.
3 Brief von Peter Coulmas an Jürgen Schüddekopf und gleichzeitig Teil eines viele Stellungnahmen umfassenden Typoskripts der 100. „Nachtprogramm“-Sendung des NWDR-Hamburg am 6. Juli 1948. Staatsarchiv Hamburg. NDR-Depositum. Nr. 2005.