E. Hüls: Johann Georg August Wirth

Titel
Johann Georg August Wirth 1798-1848. Ein politisches Leben im Vormärz


Autor(en)
Hüls, Elisabeth
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 139
Erschienen
Düsseldorf 2004: Droste Verlag
Anzahl Seiten
609 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Gerber, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Auch mehr als zwanzig Jahre nachdem erste moderne biografische Studien entscheidende Breschen in die Skepsis gegenüber einer historiografischen Darstellungsform geschlagen haben, durch die angeblich weniger „Komplexität“ einfangen werden könne, als durch eine „theoretisch orientierte Prozeß- und Strukturanalyse“ 1, sind historische Biografien unvermindert gefragt. Und das ist gut so. Jenseits aller falschen Antagonismen, die seinerzeit die Diskussion über das Verhältnis von gesellschaftlichen Strukturen und individuellem Handeln bestimmten, war es nicht unwesentlich die Wiederentdeckung der historischen Biografik, die der Geschichtswissenschaft zu neuen Einsichten in die Ungleichzeitigkeiten, Gegenläufigkeiten und Widersprüche sozialer, politischer und kultureller Entwicklungen verholfen und ihren Blick tatsächlich auf den vergangenen Menschen gelenkt hat: Er durfte jetzt wieder ein – in welchen Formen, mit welchen Zielsetzungen und Ergebnissen auch immer – Einfluss nehmender, dynamisierender oder bremsender Akteur, nicht nur ein determinierter oder manipulierter Einzelner und damit ein letztlich vernachlässigbarer Faktor sein. Unter den verschiedenen Leitvorstellungen historischer Biografik ist es wohl am ehesten die „regulative Idee“ der „biografischen Totalität“, die auch scheinbar altbekannte Geschichten neu erzählen und Allerpersönlichstes mit allgemeinen Aussagen zur jeweiligen Lebenswelt, den umgebenden Strukturen sowie ihren spezifischen Erscheinungsformen und Auswirkungen verknüpfen hilft.

Die Münchener Historikerin Elisabeth Hüls geht in ihrer auf der Auswertung wohl aller verfügbaren Quellen fußenden Biografie des vormärzlichen Publizisten Johann Georg August Wirth von einer solchen Grundlage aus. Gerade aber was die theoretische Basis der Studie anbetrifft, derer sich Hüls in der Einleitung zu versichern sucht, ergeben sich eine Reihe von Fragen. Die Bemerkung, Pierre Bourdieus Mahnungen vor der „biografischen Illusion“ seien ein Orientierungspunkt für die vorgelegte Wirth-Biografie gewesen, lässt aufhorchen (S. 13). Warum Hüls den Text des französischen Soziologen lediglich als Warnung vor der Gefahr liest, in einer Biografie „künstliche Stringenz und Folgerichtigkeit“ zu erzeugen und nicht wie ihre in der Biografieforschung ausgewiesene Gesprächspartnerin Margit Szöllösi-Janze als Frontalangriff auf die „Lebensbeschreibung“ an sich versteht, wird nicht ersichtlich. Denn in der Tat sind Bourdieus Anmerkungen eine solche radikale Kritik der Biografik, fußend auf der Annahme, nur der „Eigenname“ konstituiere in einem arbiträren Akt das, was dem Biografen retrospektiv als Person mit einem durchgängigen Lebenslauf erscheine und verknüpft mit dem Vorwurf, jeder Biograf mache sich zum „Komplizen“ der Selbstdeutungs- und Stilisierungsstrategien seines „Gegenstandes“. 2 Dieser grundsätzlichen Herausforderung kann man weder mit dem Verzicht auf eine „pauschalisierende Gesamtwürdigung“ (S. 14) genügen, die Hüls unter Verweis auf die Fritz-Haber-Biografie Szöllösi-Janzes und besonders die Studie Friedrich Lengers zu Werner Sombart empfiehlt, noch mit dem „dritten Weg“, den sie skizziert, um sich aus der gegebenen „Zwangslage“ (S. 14) zu befreien. „Brüche“ im Leben des Protagonisten deutlich zu machen, ihn innerhalb der „Spannungen zwischen Strukturen und Individuum“, innerhalb der „Grenzen und Möglichkeiten des Einzelnen, eine Entwicklung zu beeinflussen“ zu verorten (S. 14), sind tatsächlich unerlässliche und – mit Verlaub gesagt – heute wohl nahezu selbstverständliche Voraussetzungen einer ernstzunehmenden historischen Biografie, aber kein Weg den Vorwürfen Bourdieus zu entrinnen: Für ihn mussten all das Verbrämungen einer nicht nur bedauerlichen, sondern sogar gefährlichen, weil „ideologischen“ Sackgasse sein. Warum also, so fragt man sich angesichts der gelungenen Biografie von Hüls unwillkürlich, den aussichtslosen Versuch unternehmen, einer Prämisse gerecht zu werden, deren einzige wirkliche Konsequenz sein könnte, auf das Verfassen einer historischen Biografie zu verzichten? Warum nicht mit methodischem Selbstbewusstsein all die von Hüls selbst problematisierten Zweifel an der kritischen Urteilskraft des historischen Biografen und die daraus abgeleiteten, in fast jeder neuen Biografie erneut nachzulesenden Apologien beiseite lassen? Warum nicht ausgehend von der durch Hüls gleich zu Beginn hervorgehobenen Tatsache, „daß es sich bei allen historischen Arbeiten stärker um Konstruktion als um Rekonstruktion handelt“ (S. 11) betonen, was alle historische Forschung und ihre Darstellung für sich reklamiert und was auch für die historische Biografie gelten muss: Dass es sich um Konstruktionen handelt , die aus einem „geregelten“, also im historischen Sinne „Objektivität“ beanspruchenden Forschungsprozess und der Reflexion eigener Perspektivität hervorgehen und deshalb mehr sind, als irgendeine „Geschichte“. Der Beweis des Kuchens liegt auch hier im Essen.

Und diesen Beweis kann Hüls mit ihrer Beschreibung eines „politischen Lebens im Vormärz“ erbringen: In der durchgängigen und ertragreichen Auseinandersetzung mit Wirths autobiografischen Schriften, im vorsichtigen aber beharrlichen Fragen nach den Motiven seiner Lebensentscheidungen, in der sachlichen, quellengestützten Kritik der Wirth-Biografik bis hin zu aktuellen Veröffentlichungen, in den aufschlussreichen Hinweisen zur zeitgenössischen politischen Instrumentalisierung Wirths im Zusammenhang mit seinem unerwarteten Tod wenige Wochen nach der Wahl in die Frankfurter Nationalversammlung, in Seitenblicken auf die Rolle des Hambacher Festes und seines Hauptredners Wirth in der Geschichtspolitik der beiden deutschen Staaten, schließlich in der Ablehnung vorschneller politischer Einordnungen Wirths. Am letztgenannten Punkt kann Hüls das Paradigmatische im heterogenen Lebenslauf ihres Protagonisten besonders plastisch machen: Gerade das lebenslange Changieren der politischen Stellungnahmen Wirths zwischen Liberalismus und Demokratie, Konstitutionalismus und Republikanismus, Nationalismus und Kosmopolitismus „bietet [...] wie in einem Mikroskop ein vielschichtiges Bild auf die Zeit des deutschen Vormärz“ (S. 560) und muss für die Forschung zur Genese der Parteien, die in neuerer Zeit vom Trend zur chronologischen „Vorverlagerung“ parteipolitischer Differenzierungen fast bis an den Beginn des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet ist, zu denken geben. Deutlich wird gerade hier aber auch ein Dilemma des auf die Vermeidung falscher Folgerichtigkeiten in der „konstruierten“ Biografie ausgerichteten Historikers: Je mehr er von einer historischen Persönlichkeit in Erfahrung bringen kann, je mehr er von seinem Standpunkt in der Zeit von diesem Vergangenen zu verstehen meint, desto mehr scheint ihm eben jene „Person“ tatsächlich unter den Händen zu zerrinnen, desto größer wird, nicht zuletzt aus darstellerischen Erwägungen heraus, der Wunsch, Deutungsformeln zu formulieren, die dieses Leben für den historischen Betrachter zu einer – wenn auch noch so disparaten – Einheit formen könnten. Ringt sich der „kritische“ Biograf zu einer solchen Formel durch, muss ihr naturgemäß eine gewisse Vagheit eignen.

Elisabeth Hüls führt das mit ihrer Charakteristik Wirths als eines „Mannes des frühen 19. Jahrhunderts“ vor. In Anlehnung an den 1999 von Ute Frevert und Heinz-Gerhard Haupt herausgegebenen Sammelband „Der Mensch des 19. Jahrhunderts“ will Hüls diese Kategorisierung gewissermaßen als ein „Abprüfen“ verschiedener, durch sozialgeschichtliche Forschungen herauspräparierter „Typen“ der Zeit an der Person Wirths verstehen (S. 19f.). Tatsächlich kann Hüls, die Wirths Sozialisation in einer Zeit krisenhafter gesellschaftlicher und politischer Umbrüche hervorhebt, Beispiele zusammentragen, die sein Handeln als ein von Mustern des frühen 19. Jahrhunderts geprägtes Agieren erscheinen lassen, so z.B. die Planung der nach dem Scheitern der wissenschaftlichen Laufbahn angestrebten Karriere als Beamter. Hier schien Wirth trotz der sich in den 1820er-Jahren mehr und mehr durchsetzenden Professionalisierung der staatlichen Verwaltungsbeamten ein „Quereinstieg“ auch ohne das Erfüllen der formalen Voraussetzungen möglich – eine Auffassung, die der Bayreuther Magistrat als „Wahn“ bezeichnete (S. 77). Dass die Charakterisierung Wirths als „Mann des frühen 19. Jahrhunderts“ dennoch nicht ganz einleuchtet, liegt an der Vorsicht der Biografin Hüls: Sie handhabt ihre Formel mit einer Offenheit, die immer wieder Zweifel daran aufkommen lässt, ob durch diese für das Gesamtverständnis Wirths wirklich etwas gewonnen ist. So meint Hüls resümierend, Wirths Leben sei nicht als das eines festen Typus zu bezeichnen, jedoch präsentiere er sich „hinsichtlich der vielfältigen Aktivitäten und seiner Ansiedlung im Schnittpunkt verschiedenster Bereiche durchaus“ als „ein typischer Vertreter eines gebildeten Mannes im deutschen Vormärz“ und könne in diesem Sinne als „‚Mann des frühen 19. Jahrhunderts‘ verstanden werden“. Warum der in der Biografie herausgearbeitete Aspekt der Bildungsbürgerlichkeit Wirths hier mit der alles und nichts sagenden Globalformel untermauert werden muss, ist nicht recht einzusehen.

Auch wenn der Untertitel der Biografie „Ein politisches Leben im Vormärz“ signalisiert, dass das Politische als entscheidendes Deutungskriterium des vorgestellten Lebens erscheint, blickt Elisabeth Hüls immer wieder auf das Familienleben Wirths, ohne dessen Berücksichtigung der Anspruch der „Biografie“ unerfüllt bleiben muss. Erschwert wird die Konturierung dieses Lebensbereiches durch den Quellenmangel, auf den Hüls immer wieder verweisen muss. Dennoch gelingt es ihr – nicht selten durch begründete Vermutungen, die sich auf die Rezeption einer Vielzahl einschlägiger Forschungen stützen – die Rolle von Ehe und Familie in Wirths Leben zu skizzieren. Besonders die Bedeutung der Ehefrau Regina Wirth, die während der Gefängniszeit als aktiver Partner in Erscheinung tritt, ohne dass in der Beziehung die wohl von beiden Ehepartnern akzeptierte Position Wirths als gegebenenfalls allein entscheidendes Familienoberhaupt grundsätzlich in Frage gestellt wurde, wird deutlich.

Für den politischen Publizisten Wirth – eine Beobachtung von Hüls, die sich auch beim Blick auf andere bürgerliche Familien des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts bestätigt – war privat-familiärer und öffentlicher Raum keineswegs strikt getrennt, beide „Sphären“ durchdrangen und bedingten einander stärker, als es für diese Zeit oft angenommen wird. Vor allem zu diesem Schwerpunkt ihrer Darstellung, der publizistischen Tätigkeit Johann Georg August Wirths, kann Hüls, neben einer Vielzahl von Detailkorrekturen und -kritiken in allen Abschnitten der Studie, Unbekanntes und bisher wenig Beachtetes beibringen. Sie hebt die Publizistik als entscheidenden Entwicklungsraum von Wirths politischen Anschauungen hervor: Der Publizist entwickelte sich schnell vom reformorientierten Juristen zum konstitutionellen Redakteur, der zunehmend demokratische Positionen vertrat.

Als Stärke der Biografie erweist sich hier, wie auch in den Ausführungen über die juristischen Fachpublikationen Wirths, Elisabeth Hüls‘ eingehende Analyse der vorliegenden Schriften und Zeitungsprojekte und ihres organisatorischen und personellen Umfeldes vor dem Hambacher Fest ebenso wie während der Haft und des Exils in Frankreich und der Schweiz. All diese Details verbinden sich mit der Leistung einer durchdachten, zu keinem Zeitpunkt in die befürchtete biografische „Einbahnstraße“ führenden Gesamtschau des Lebens und Wirkens von Johann Georg August Wirth zu einer Biografie, die trotz bisweilen schmaler Quellenbasis, der Präsentation vieler bereits bekannter Fakten und einigen zu ausführlich geratenen Passagen einmal mehr erweist, wie ein Zeitabschnitt – hier der deutsche Vormärz – aus der Perspektive eines gelebten Lebens betrachtet, eingehender und in weiteren Dimensionen, komplexer und zugleich differenzierter erfasst werden kann.

Anmerkungen:
1 Wehler, Hans-Ulrich, Anwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft, in: Ders., Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Studien zu Aufgaben und Traditionen deutscher Geschichtswissenschaft, Göttingen 1980, S. 206-223, hier Anm. 21 zu S. 223, 374-377, hier S. 376.
2 Vgl. Bourdieu, Pierre, Die biographische Illusion, in: BIOS 3 (1990), S. 75-81. (Zuerst: Ders. L’illusion biographique, in: Actes de la recherche en sciences sociales 62/63, 1986, 69-72). Aus Sicht des Historikers vgl. die Entgegnung Lutz Niethammer, Kommentar zu Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion, in: BIOS 3 (1990), S. 91-93.

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