Aus Sicht der Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie stellt die Besprechung von Eva Kormanns literaturwissenschaftlicher Habilitationsschrift eine erfreuliche Aufgabe dar. Die Studie ist im Kontext der Reihe „Selbstzeugnisse der Neuzeit“ veröffentlicht, die sich der Dokumentation und Erforschung der „popularen Autobiografik“ widmet. Lebensgeschichten der Mittel- und Unterschichten als Schlüssel zu zentralen Aspekten der Alltagskultur sind längst nicht mehr das ausschließliche Betätigungsfeld volkskundlichen/kulturanthropologischen Forschens, sondern haben sich im Zuge des „cultural turn“ zu einem interdisziplinären Forschungsfeld entwickelt.
Mit der Erforschung von autobiografischen Texten des 17. Jahrhunderts leistet Eva Kormann im Rahmen der Literaturwissenschaft wichtige Pionierarbeit. Mit Blick auf die vermeintlich erst im 18. Jahrhundert auf breiter Basis einsetzende Selbstthematisierung wurde diese Zeit bislang weitgehend aus der einschlägigen Forschung ausgeklammert. Dies gilt umso mehr für Texte von Frauen, die auch von der literaturwissenschaftlichen Geschlechterforschung vornehmlich erst für die spätere Zeit untersucht wurden. Kormann interessiert sich für die in den autobiografischen Texten formulierte Selbstkonzeption und den Einfluss, den zeitliche, geschlechtsspezifische, soziale und religiöse Faktoren auf diese haben. Dabei vermag Kormann in ihrer Analyse nicht nur fachspezifische Ordnungssysteme zu konkretisieren, indem sie die kulturelle Bestimmtheit des literaturwissenschaftlichen Gattungsbegriffes Autobiografie thematisiert. Sie erarbeitet darüber hinaus auch zentrale Aspekte zum Verständnis der Charakteristiken lebensgeschichtlichen Erzählens im 17. Jahrhundert, die weit über die Literaturwissenschaft hinaus bedeutsam sind. Hier trägt die Arbeit zu der derzeit vor allem im Kontext historisch-anthropologischen Forschens geführten Diskussion um Personenkonzepte jenseits eurozentrischer, evolutionistischer und linearer Deutungsmuster 1 zentrale Aspekte bei.
Grundlegend für Kormanns Untersuchung ist ein offener Gattungsbegriff. Unter dem Oberbegriff Autobiografik nimmt die Autorin unterschiedliche Arten von Selbstzeugnissen wie Chroniken, Briefe, Haus- und Gedächtnisbücher in den Blick. Allen Texten ist gemeinsam, dass sich die Schreibenden darin auf sich selbst beziehen und ihr Leben darstellen (S. 99, 299). Die Texte lassen sich drei verschiedenen Lebens- und Schreibzusammenhängen zuordnen: Autobiografien aus dem protestantisch-pietistischen Umfeld, Kloster- und Familienchroniken. Konkret untersucht werden insgesamt 17 Texte aus dem deutschsprachigen Raum, vier Texte davon wurden von Männern geschrieben, ein Text ist die gemeinsame Chronik eines Ehepaars. Mit dem Vergleich der von Frauen verfassten Texte mit denen aus der Feder männlicher Autoren löst Kormann den Anspruch der Geschlechterforschung ein, Geschlecht im umfassenden Sinne als eine zentrale Analysekategorie zu betrachten. Was die soziale Herkunft der Schreibenden betrifft, so zeigt sich – wie Kormann auch selbst einräumt (S. 308f.) –, dass die Berücksichtigung von Texten aus den unteren Schichten für die behandelte Zeit ein schwer zu erfüllender Anspruch bleibt. Ein einziger Text stammt aus der Feder einer Unterschichtsfrau, nämlich der Ansberger Näherin Anna Vetters. Die anderen Selbstzeugnisse stammen aus der Feder adeliger bzw. bürgerlicher Frauen und Männer, die in wohlhabenden, mindestens aber gesicherten ökonomischen Verhältnissen lebten. Einige von ihnen waren als Klostervorsteherinnen Entscheidungsträgerinnen bzw. Ehefrauen von politischen Entscheidungsträgern.
Die Texte werden einzeln oder summarisch einer vergleichenden formalen und inhaltlichen Analyse unterzogen. Ein zentrales Kriterium ist dabei das von Philippe Lejeune übernommene Modell des „autobiografischen Pakts“. Der von der Autorin bzw. dem Autor vorgeschlagene referentielle Pakt scheidet aus der Perspektive der Literaturwissenschaft Fiktion von Realität. Aus kulturanthropologischer Sicht wirkt diese Unterscheidung insofern formal, als dass sie nur sehr grob, d.h. im ersten Schritt, die Spreu vom Weizen trennt. Denn bei der auf das eigene Leben bezogenen Erzählung stellt die Unterscheidung von Fiktion und Realität nachgerade ein unlösbares Problem dar. 2 Lebensgeschichten erhalten oft erst aus späterer Perspektive ihren Sinn, und die Erzählung wird diesem Sinn untergeordnet, wobei Erinnertes als tatsächlich Geschehenes, Gewünschtes oder Gewolltes verschmelzen. Hinzu kommt der permanente Wandel, dem die Selbstdarstellung im Lebenslauf unterliegt, was jede Darstellung zu einer Situationsbeschreibung macht. Insofern wäre es aus kulturanthropologischer Sicht spannend gewesen, mehr über die Schreibumstände, etwa über den Zeitpunkt und die Dauer der Niederschrift, über eventuell vorliegende Vorschriften sowie Abweichungen zwischen Vorschrift und späteren Text zu erfahren.
Die vergleichende Analyse von Texten aus verschieden Umfeldern macht vor allen Dingen eines deutlich: die Multifunktionalität der autobiografischen Texte. So nehmen die Texte nicht nur formal eine vollkommen unterschiedliche Gestalt an, sie verfolgen auch im Einzelnen ganz verschiedene Zwecke. Im protestantisch-pietistischen Kontext eröffnet das Nachdenken über Religion den Frauen einen neuen Handlungsraum. Über Religion werden gesellschaftliche und häusliche Machtverhältnisse verhandelt, wird wie im Falle der freiwillig unter ihrem adeligen Stand verheirateten Johanna Eleonora Petersen Adelskritik geäußert, und das religiöse Bekenntnis erlaubt der Näherin Anna Vetter Ungehorsam gegenüber ihrem Ehemann und der Obrigkeit. Die Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges prägt vor allem die Schriften von weiblichen Klosterangehörigen. Hier wird das Schreiben „zu einem Mittel des Überlebens“ (S. 218) und des Behauptens weiblicher Ehre in einer von Gewalt und Übergriffen geprägten Umwelt. In der Familienchronik bestimmen der Sieg über Krankheit und – ebenso wie im Klosterleben – das Wirtschaften und Haushalten die Darstellung.
Die Kernaussage von Kormanns Studie ist, dass die Selbstentwürfe der Menschen in der Frühen Neuzeit heterolog waren, d.h. dass sie über die Beziehungen zu den sie umgebenden Menschen und zu Gott bestimmt wurden. Die Subjektivität zeigte sich „nicht in einer ausschweifenden Darstellung der eigenen Person und des eigenen Innenlebens, sondern dadurch, dass in erster Linie nicht eigenes, sondern anderes dargestellt wird. Sie entsteht, wenn die eigene Person bezogen wird auf eine Gruppe, der zugehörig man sich beschreibt, oder auf Dinge und Ereignisse in der Welt, mit denen man sich verbunden sieht“ (S. 300). Heterolog sind sowohl die Selbstkonzepte von Frauen als auch die von Männern. Die im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Geschlechterforschung herausgestellte Beziehungsorientiertheit in den Texten von Autorinnen erweist sich damit nicht als ein typisches Kennzeichen weiblichen Schreibens, sondern für die Frühe Neuzeit als eine von Frauen und Männern gleichermaßen geübte Darstellungsweise. Allerdings gibt es sehr wohl bemerkenswerte geschlechtspezifische Unterschiede: Männer gestalteten ihr Selbst nämlich auch aus anderen Bezügen, etwa ihren eigenen Leistungen; sie schrieben stärker auf die eigene Person bezogen und ihre Schilderungen nehmen auch ganz konkret mehr Raum ein. Anschaulich sind in diesem Zusammenhang die Autobiografien des Ehepaars Petersen: Er schrieb 400 Seiten, sie gerade einmal 70 Seiten. In den Autobiografien von Männern kündigt sich zudem eine auf sich selbst bezogene Darstellung an, wie sie um 1800 vorherrschend wurde.
Die kulturanthropologische Leserin wird immer dann besonders angesprochen, wenn die Literaturwissenschaftlerin Kormann über ihren engeren Untersuchungsgegenstand hinaus weitere Informationen über den Alltag der Menschen Preis gibt, wenn sie über Sorgen, Ängste, Nöte berichtet. Was Letzteres betrifft, so wird die Neugierde nicht vollends gestillt, man möchte noch so vieles mehr über den Alltag und die Lebensumstände der SchreiberInnen erfahren. Andererseits lädt gerade Kormanns klare Verfolgung ihres Untersuchungsgegenstandes aus literaturwissenschaftlicher Sicht zu einem interdisziplinären Dialog ein. Inwiefern stellen etwa die von Kormann in Anlehnung an Peter Sloterdeijk so benannten Störerfahrungen wie der Dreißigjährige Krieg Leitlinien des Erzählens im Sinne des Volkskundlers Albrecht Lehmann dar und welche Leitlinien ließen sich außerdem festmachen? Inwieweit lassen sich überhaupt die vor allem an gegenwärtigen Gesellschaften entwickelten Erkenntnisse über lebensgeschichtliches Erzählen aus dem Kontext der volkskundlichen Erzähl- und Bewusstseinsforschung für kulturhistorische Studien im weitesten Sinne fruchtbar machen? Einen besonderen Genuss stellen Kormanns im engeren Fachkontext geschulten differenzierten Sprachanalysen dar, etwa wenn sie zeigt, wie die klugen Äbtissinnen sich strategisch Bescheidenheits- und Unterwerfungstopoi bedienten, um ihre Position zu festigen, wie der Topos der Unsagbarkeit den Schrecken von Krieg und Gewalt einfängt und zugleich bannt oder wie sich die Näherin Anna Vetter einer auffällig pragmatischen, nämlich kurzen, drastischen, prägnanten, mithin aus heutiger Sicht eher männlichen Sprache, bedient.
So entwickelt Eva Kormann ebenso beeindruckend wie überzeugend ihre Kernthese vom heterologen Selbstentwurf der Menschen im 17. Jahrhundert, und sie zeigt, wie dieser Entwurf durch kulturelle Faktoren wie Geschlecht, Religion und soziale Herkunft bestimmt wurde. Kormann entwickelt diese Aussagen primär aus literaturwissenschaftlicher Perspektive und mit literaturwissenschaftlichen Instrumentarien, sie bietet aber zugleich anderen an der Alltagskultur interessierten Kulturwissenschaften wesentliche Anknüpfungspunkte und regt weitere Fragen an.
Anmerkungen:
1 Vgl. z. B. Ulbrich, Claudia, Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive, in: http://www.fu-berlin.de/selbstzeugnisse, letztes Update Oktober 2004, zuletzt eingesehen am 27.10.04.
2 Vgl. z. B. Lehmann, Albrecht, Bewußtseinsanalyse. in: Göttsch, Silke; Lehmann, Albrecht (Hgg.), Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, Berlin 2001, S. 233-249, hier S. 235; sowie Lehmann, Albrecht, Lebensgeschichte, in: Enzyklopädie des Märchens 8. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Berlin 1996, Sp. 825-833, hier Sp. 827.