Der von Franz-Werner Kersting herausgegebene Sammelband „Psychiatriereform als Gesellschaftsreform“ ist aus einer gleichnamigen Tagung hervorgegangen, die vom Westfälischen Institut für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe im September 2001 in Münster durchgeführt wurde. Wie zuvor auch die Tagung, verfolgt der Band eine Reihe von weitgesteckten Zielen. Das Hauptziel ist die gesellschaftsgeschichtliche Kontextualisierung der Psychiatriereformbewegung in Deutschland. Dementsprechend liegt der Schwerpunkt des Bandes temporal bei den ‘68er-Jahren’ und konzeptionell bei der Aufarbeitung der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Reformbewegung. Es soll vor allem das „dynamische Ineinandergreifen“ von drei „Kräftefeldern“ analysiert werden: der Psychiatrie (als Institution und Profession), ihres allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Umfeld sowie der antiautoritären Programme und Aktionen der Studentenbewegung. Dabei wird nach den unterschiedlichen Trägergruppen, Interessenlagen und Generationskonflikten, die die psychiatrische Reformbewegung prägten, gefragt. Beabsichtigt ist aber auch, eine “nach vorn und hinten“ verlängerte Perspektive auf diese Kräftefelder zu bieten. Wie der Untertitel des Bandes schon andeutet, soll eine explizite Rückbindung an die NS-Medizinverbrechen und die schwierigen Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegsjahre hergestellt und deren Bedeutung für die Entstehung und den Gang des Reformprozesses untersucht werden. Inwiefern haben also einerseits die historischen Ausgangsbedingungen der so genannten ‘Zusammenbruchgesellschaft’ (1943-1949) die Reformen der 1960er und 1970er-Jahre geprägt, und welchen fortwirkenden Einfluss hat andererseits die politisch-ideologische Aufladung des Reformprozesses auf die spätere Umsetzung der Vorschläge der Psychiatrie-Enquete und auf die Diskussionskultur im Fachmilieu gehabt? Um die historische Standortbestimmung der westdeutschen Psychiatriereformbewegung präziser zu fassen, sollen schließlich auch vergleichende deutsch-deutsche und internationale Perspektiven geboten werden.
Hinter diesen anspruchsvollen Zielen stehen eine Reihe von Motivationen. Kersting verweist insbesondere auf das steigende Interesse an der Zeitgeschichte nach 1945 und die Historisierung der 68er-Bewegung. Darüberhinaus spielten die wissenschaftlichen Forschungsschwerpunkte des Westfälischen Institutes für Regionalgeschichte im Bereich der Fürsorge- und Wohlfahrtspolitik sowie die langfristigen Auswirkungen der 1971 berufenen Psychiatrie-Enquete für das gegenwärtige regionale und kommunale Behandlungsangebot des Landschaftsverbandes eine maßgebliche Rolle bei der Konzeptionalisierung des Bandes. Insofern hebt Kersting die Kontinuität der Reformdiskusion und ihre anhaltende Aktualität für die psychiatrische Praxis von heute als einen wesentlichen Antrieb zur historischen Reflexion hervor.
Zur Verwirklichung dieser Ziele wurden die sonst sehr heterogenen Einzelbeiträge in vier übergeordnete Abschnitte eingeteilt. Im ersten Abschnitt über “Die Anstalt zwischen ‚Euthanasie’ und Reform” findet sich ein Beitrag von Heinz Faulstich über die Belegungs- und Sterberaten in den Anstalten vor und nach 1945 sowie ein Beitrag von Sabine Hanrath, die eine wichtige und differenzierte Analyse deutsch-deutscher Anstaltsstrukturen bis in die frühen 1960er-Jahre vorlegt. Der Herausgeber selbst fügt diesen dann einen Beitrag “Vor Ernst Klee: Die Hypothek der NS-Medizinverbrechen als Reformimpuls” hinzu, in dem er die z.T. in Vergessenheit geratenen Vorboten der Reformbewegung (Manfred in der Beeck, Gerhardt Schmidt, Walter von Baeyer, Heinz Häfner, Karl Peter Kisker, Walter Schulte) vorstellt.
Vier weitere Beiträge werden unter der Rubrik “Psychiatrie-Enquete” zusammengeschnürt. Dazu gehört eine Abhandlung von Jörg Schulz über die Entstehung und Auswirkung der Rodewischer Thesen von 1963. Anschließend beschreibt Alexander Veltin anhand der Vorträge auf den Gütersloher Fortbildungwochen die Geschichte der Gruppentherapie als eine Geschichte der Rollenwechsel des psychisch Kranken „vom Objekt einer ausgrenzenden kustodialen Krankenhauspsychiatrie zum mitverantwortlichen Glied einer Krankenhausgemeinschaft“ (S. 111). Zu den besten Beiträgen des Bandes gehört Heinz Häfners Darstellung der Vorgeschichte und Arbeit der Psychiatrie-Enquete, worin er insbesondere die Rolle des CDU-Politikers Walter Picard als politischen Transmissionsriemen der Reformideen hervorhebt. Abschließend skizziert Volker Jakob die öffentliche Wahrnehmung der Psychiatrie im Spiegel zeitgenössischer Filme.
Der dritte Abschnitt über “Psychiatriereform und Demokratisierung im Zeichen von ‘68’” enthält Beiträge über den ‘Mannheimer Kreis’ und die Gründung der ‘Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie’ (Manfred Bauer), über das sozialistische Patientenkollektiv in Heidelberg (Cornelia Brink) und über die ‘Randgruppenpolitik’ im Sozialstaat (Wilfred Rudloff). Zusammen genommen zeigen die Beiträge, wie unmittelbar die Psychiatriekritik zur Geschichte des Faches gehört. Vor allem der Beitrag von Cornelia Brink verdeutlicht, wie das Verhältnis Arzt-Patient, die Organisation der Kliniken, sozialpolitische Strategien, die Standespolitik der Mediziner und der Zusammenhang von Therapiezielen und sozialen Normen die Psychiatrie zu einer eminent politischen Angelegenheit machen.
Der vierte und letzte Abschnitt über “Reformalltag und -analysen im interregionalen Vergleich” befasst sich mit konkreten Beispielen und Erfahrungsberichten zur Umsetzung der Psychiatriereformen bzw. zur Ausdifferenzierung des Versorgungsangebotes. Wolfgang Pittrich schildert die Gründung des Vereins “Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie” in Frankfurt sm Main. Helmut Haselbeck und Gerda Engelbracht behandeln die historischen Entwicklungen in Bremen zwischen 1945 und 1975. Und schließlich gibt Hans-Ludwig Siemen einen knappen, aber sehr gelungenen Überblick über die immer noch vernachlässigte Versorgungssituation chronisch-kranker Patienten in Bayern. Angesichts der Ausdiffernzierung des Versorgungsangebotes kommt Siemen zu dem symbiotischen Schluss: „Je mehr sich die medizinische Psychiatrie auf die Kliniken und das medizinisch-biologische Deutungsmuster für psychisches Kranksein konzentriert, desto mehr wird sie an Deutungsmacht einbüßen. Andere Erklärungs- und Handlungsansätze werden an Relevanz gewinnen.” (S. 286)
Zu kritisieren an diesem Band sind vor allem zwei Dinge. Erstens, die hochgesteckten Ziele des Bandes lassen sich in Form eines Sammelbandes nicht verwirklichen. Die Autoren, Themen und Ansätze sind zu divergierend, als dass ein kohärentes Bild der historischen und sozio-politischen Bedingungen der Reformbewegung entstehen könnte. So bleibt die gesellschaftsgeschichtliche, deutsch-deutsche und internationale Kontextualisierung nur punktuell verwirklicht und methodologisch weitgehend uneingelöst. Trotzdem liefert der Band – vor allem dank der zahlreichen autobiografischen Erfahrungsberichten – reichhaltiges Material, das einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung dieser Ziele liefert.
Zweitens staunt man nicht wenig darüber, wie sehr die Geschichte der Psychopharmazeutika in den Hintergrund gerät. Wenn in der Tat die Psychiatriereform “ein Modellfall für den Umbau des Sozialstaats” (S. 15) und wenn der Schwerpunkt des Bandes auf der “dynamische Wechselwirkung” der Psychiatrie mit ihrem gesellschaftspolitischen Umfeld liegt, dann ist es zumindest erwähnenswert und – im Zeitalter von Prozac – wahrscheinlich sogar notwendig, auf den historischen Zusammenhang zwischen Psychopharmaka und Reformpsychiatrie stärker einzugehen. Erst auf S. 124 im Beitrag von Heinz Häfner wird die durch Psychopharmaka vorbereitete „tiefgreifende Veränderung des gesamten Systems psychiatrischer Versorgung“ erwähnt. Nach Häfner ermöglichten Psychopharmazeutika gar einen „Wandel des Faches von der bewahrenden hin zu einer therapeutischen Disziplin“ (ebd).
Hier ist eine wichtige Chance vertan worden: denn so wichtig es auch ist, die Reformpsychiatrie im Kontext eines gesellschaftspolitischen Gefüges zu verstehen, so ist es nicht weniger wichtig, diese Reformen stärker in den Kontext der Entwicklung und Vermarktung von Psychopharmaka zu stellen. Mehr denn je wird die Aktualität der Psychiatriegeschichte von diesem Themenkomplex bestimmt. Insofern bleiben – professionspolitisch gesehen – viele Beiträge den ideologischen Grabenkämpfen der 1960er und 1970er-Jahre verhaftet. Und zugleich werden – historiografisch gesehen – erneut die Grenzen und Probleme gesellschaftsgeschichtlicher Fragestellungen deutlich, sobald sie auf wissenschafts- und disziplingeschichtliches Terrain übertragen werden.
Mit dem Erscheinen dieses Bandes erweist sich das Westfälische Institut für Regionalgeschichte erneut als eine der produktivsten Stätten der deutschen psychiatriehistorischen Forschung. Neben diesem Band sind in den letzten Jahren in der Schriftenreihe Forschungen zur Regionalgeschichte mehrere umfangreiche Werke zu psychiatriegeschichtlichen Themen erschienen. Es ist zu hoffen, dass das Institut in Zukunft ebenso reichhaltige und nützliche Arbeiten wie diese vorlegen wird.