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Titel
Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik


Herausgeber
Bröckling, Ulrich; Bühler, Benjamin; Hahn, Marcus; Schöning, Matthias; Weinberg, Manfred
Reihe
Literatur und Anthropologie 20
Erschienen
Anzahl Seiten
347 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Alexander von Schwerin, Berlin

Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sprachen Soziologen, Philosophen und Ökonomen der Biologie eine neue wissenschaftliche Leitfunktion zu. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich dabei auf den durch die biowissenschaftliche Forschung herausgeforderten und zugleich umstrittenen Lebensbegriff. Die vielfältigen und verstreuten Reflexionsansätze dazu antworteten aber nicht nur auf die biowissenschaftliche Entthronung des Menschen, sondern sind auch im Zusammenhang der Politisierung und Ökonomisierung des menschlichen Körpers zu sehen. Der aus einer Tagung im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs „Literatur und Anthropologie“ an der Universität Konstanz hervorgegangene Band knüpft an das anthropozentrische Erkenntnisinteresse des Lebensdiskurses an und schlägt eine beeindruckende Schneise in die bislang disziplinär getrennt behandelte oder übersehende Thematisierungsvielfalt von „Leben“. Die Einteilung des Bandes in vier Teile – Philosophische Anthropologie, Literatur, Wissenschaftsgeschichte sowie Politik und Ökonomie – gibt eine grobe Struktur der „Disziplinen des Lebens“ vor. Von hier aus ließen sich nun Übergänge und Verbindungen zwischen ihnen untersuchen und „Leben“ als historische bzw. gesellschaftstheoretische Kategorie weiter differenzieren und konkretisieren.

Den Fluchtpunkt des Bandes bildet der zunehmende durch die Biomedizin ermöglichte technische Zugriff auf den menschlichen Körper. Die kritische Auseinandersetzung damit findet sich oft in einem Widerspruch gefangen: Dieser resultiert daraus, dass die biomedizinisch produzierte menschliche Natürlichkeit, wie sie sich in der expansiven Genetifizierung manifestiert, zurückgewiesen wird und gleichzeitig die Techniken der Biomedizin in einer Weise kritisiert werden, die ihre manipulative Wissensmacht reproduziert. Die von den Herausgebern verfolgte Strategie versucht nicht nur diesem Dilemma zu entgehen, sondern ist auch einem „totalisierenden Zug des Lebens-Diskurses“ (S. 16) entgegengesetzt, wie er bei Agamben sowie Hardt und Negri auszumachen ist. Dagegen empfehlen sie eine strikte Historisierung der Grenzziehung zwischen dem natürlichen und künstlichen Menschen und – im Einklang mit dem jüngsten kulturwissenschaftlichen Interesse an anthropologischen Konstellationen als Gegenstand und theoretische Stichwortgeber 1 – eine Mobilisierung der philosophischen Anthropologie, die in den 1920er-Jahren in Deutschland zu einem, inzwischen fast vergessen geglaubten Programm entwickelt wurde. Das Problem der Grenzziehung schließt an das sozialer Inklusion und Exklusion an und bildet damit eine gut gesetzte Klammer der 18 versammelten Beiträge aus Philosophie, Soziologie, Literaturwissenschaft und Biologie. Die Hautaufmerksamkeit gilt der Rezeption der Lebenswissenschaften durch die philosophische Anthropologie und Literatur in der Zwischenkriegszeit in Deutschland, substanzreich ergänzt durch Vergleiche und Untersuchungen zur gegenwärtigen Biotechnik.

Schwerpunkt des ersten Teils ist die theoretische Auseinandersetzung mit der philosophischen Anthropologie Hellmuth Plessners und dessen Bestimmung von Lebewesen als „grenzrealisierende Körper“. Aus seiner kritisch-phänomenologischen Bestimmung von Leben folgt, dass in der Erscheinung des Menschen biologisches Substrat und soziale Bedeutung eine Art Symbiose eingehen. Damit scheint ein Weg auf, die theoretische Dichotomisierung des Menschen als Kultur- und Naturwesen aufzulösen. Als Vorteil des Lebensbegriffs erweist sich, dass er aufgrund seiner Unspezifität über allen einzelfachlichen Bestimmungen schwebt und damit bereits der üblichen Entgegensetzung von biologischer Humanwissenschaft und Kulturwissenschaften entgegenläuft. Die Stoßrichtung der Beiträge ist im Einzelnen aber recht unterschiedlich. Gesa Lindemanns Analyse setzt mit dem Hinweis auf das Anthropologiedefizit der Sozialwissenschaften und Gesellschaftstheorie ein, die zumeist nur das „Wie“ des Menschen und nicht sein „Was“ behandelten (S. 25f.). Sie verfolgt dann aber konsequent die Linie, Plessners Konzept der exzentrischen Positionalität gegen andere Lesarten als „Antianthropologie“ (S. 32) auszulegen und damit die Grundlage für eine Analyse der historischen Ausformungen des „Grenzregimes“ (S. 33) zu schaffen, durch das die Grenzen zwischen „sozialen Personen und anderem“ gezogen werden.

Hans Werner Ingensiep greift dagegen den Begriff der Positionalität auf, um in der Tradition der theoretischen Biologie ein biosemiotisch gewendetes Entwicklungsschema der Lebensformen auszuarbeiten. Hieran knüpft Joachim Fischer an, der die philosophische Anthropologie nun explizit als „Doppelkorrektiv“ (S. 70) empfiehlt – als eine Art Heilungsinstanz für die klaffende Entgegensetzung zwischen „den Wissenschaftsgruppen der Kulturwissenschaften und Lebenswissenschaften“ (S. 61). In den Grenzrealisierungen – verstanden jetzt als Wesensmerkmal „lebendiger Dinge“ (S. 65) – manifestiert sich nämlich nach Fischer über gesellschaftliche Bestimmungen hinaus eine anthropologisch eingeschriebene Eigenleistung des Individuums. Die Erscheinung des Individuums wird durch Natur und Expressivität bestimmt. Auf diese Weise scheint das Individuum in geheimnisvoller Weise mit seinem Genom versöhnt (S. 71). Die Konzentration auf die subjektiv erfahrene und gestaltete Körper-Leib-Grenzfläche neigt dann aber dazu, die Bestimmung des materiellen Körpers („genetisches Weitergabeinteresse“ des Genoms (S. 71)) der Biomedizin zu überlassen, wodurch sich schnell eine neue Dichotomisierung einschleicht. Eine Auflösung des Natur-Kulturgegensatzes verfolgt auch Nicole C. Karafyllis, die nun aber ohne Plessner den Faden einer historischen Anthropologie aufnimmt. Sie greift auf ihre bereits an anderer Stelle 2 entwickelte Begriffskonstruktion der „Biofakte“ zurück, mit der sie den besonderen Status der der Technisierung unterworfenen lebendigen Körper zu charakterisieren sucht. Problematisch erscheint an ihrer eingängig zugespitzten These, dass sie Leben unter Rückgriff auf einen naturalisierten Autonomiebegriff (S. 248) bestimmt; wenn man so will, eine pannaturale Version des gegen die Keimbahnmanipulation gewendeten Autonomiearguments. 3

Das Motiv der Grenzziehung erweist sich auch für die historischen Betrachtungen als fruchtbarer Leitfaden. Schamma Schadahat zeigt anhand der Visionen von der Umgestaltung des Wohnraums in der vor- und postrevolutionären russischen Literatur – Nikolaj Černyševskijys „Was tun?“ von 1863 und Evgenij Zamjatins „Wir“ von 1921 – die Verwobenheit des Ideals vom neuen Menschen mit Entwürfen zur Raumgestaltung, die als Teil von gesellschaftlichen Praktiken und Techniken biopolitischer Grenzziehung (S. 153) zu lesen sind. Die technizistischen Gestaltungsentwürfe lassen die sozialistische Gestaltungstrinität aus Wohnraum, Mensch und Alltag in totaltransparenten Glaspalästen gipfeln. Der leider nur angedeutete Vergleich mit Plessners individualistisch geprägter Vorstellung von Sozialität, wie er sie etwa in seiner Abgrenzungsschrift zum Soziologen Tönnies 1924 zum Ausdruck bringt, rückt die politische Rolle der philosophischen Anthropologen der Weimarer Republik in den Blick. Plessners Interventionen erscheinen als Verteidigung des Liberalismus, entsprechen aber, wie Helmut Lethen begründet, vor allem einer zeittypischen auf ein sachliches und selbstasketisches Subjekt drängenden Stimmung. Plessner und Arnold Gehlen, der andere große Vertreter der philosophischen Anthropologie und „interessanteste Demokratieverächter“ 4, waren sich darin sehr nahe. Zugleich weist aber auch Lethen auf die Leistung der philosophischen Anthropologie in der Aufwertung der Sphäre der Künstlichkeit des Menschen gegen eine sich verstärkt auf die biologische Wissenschaft beziehende Lebensphilosophie. Diese Lesart differenziert den alten Vorwurf, die philosophische Anthropologie sei bloße Reaktion auf die Provokation der Biowissenschaften. Diese Ansicht findet sich bestätigt in den Beiträgen, die näher auf die Biowissenschaften eingehen, so etwa in Benjamin Bühlers spannender Gegenüberstellung der Rolle des Tiers als Wissensobjekt in der Biologie einerseits und im Umkreis der philosophischen Anthropologie andererseits.

Die Aufsätze, die die heutige Biotechnologiedebatte betreffen, führen über Corina Caduffs Interpretation literarischer Visionen künftiger Klongesellschaften als Reproduktion heilsgeschichtlichen Denkens zurück zur Frage, in welcher Weise („wie“) Leben gegenwärtig zum Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Regulation wird. Thomas Lemke analysiert klar und stringent Vorteile und Nachteile der Thematisierung von Leben bei Foucault und Agamben im Hinblick auf die Tauglichkeit für einen Biopolitikbegriff unter den Vorzeichen eines heute „verallgemeinerten Risikodispositivs“ (S. 271). An einer Weiterentwicklung des Biopolitikbegriffs arbeitet auch Ulrich Bröckling, der einen historischen Bogen von den 1920er-Jahren bis zur Humankapitaltheorie der 1970er-Jahre spannt und damit eine politische Ökonomie der Bevölkerung zu fassen sucht. Die Subsumierung der Rassenhygiene unter ökonomische Rationalität ist allerdings vor dem Hintergrund des Literaturstands sehr kurz gefasst (S. 286f.).5

Der Spannungsbogen, den der Band von der philosophischen Anthropologie hin zu einer diskussionswürdigen Neuausrichtung der gegenwärtigen Diskussion über Biomedizin und Biotechnologie gelungen spannt, legt vorab das Fazit nahe, dass sich die Grenzen des Menschseins nicht allein aus der anthropologischen Bestimmung des Menschen erklären. Dies findet seinen Widerhall in der Warnung Manfred Weinbergs, die Kulturwissenschaften müssten sich vor der bloßen „Beschwichtigung der Desorientieren“ (S. 323) in Acht nehmen. Das Gesamtbild der gut durchgearbeiteten Tagungsbeiträge verdeutlicht eindringlich, dass Leben als Gegenstand von Biopolitik in Zukunft über eingetretene historiografische Pfade der Eugenik und des Darwinismus hinaus in der Breite seiner Thematisierung analysiert und die Analyse der Biopolitik konsequent mit einer mehrschichtigen Wissen(schaft)sgeschichte verbunden werden muss.

Anmerkungen:
1 Rieger, Stefan, Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt am Main 2003.
2 Karafyllis, Nicole C., Das Wesen der Biofakte, in: Dies. (Hg.), Biofakte. Versuch über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen, Paderborn 2003.
3 Habermas, Jürgen, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2001.
4 R. Augstein zit. in Lepenies, Wolf, Machtmensch und Mängelwesen, in: Süddeutsche Zeitung, 29.01.2004.
5 Aus der sehr umfangreichen Literatur sei nur herausgegriffen: Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens‘, 1890-1945, Göttingen 1987.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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