Nachdem die beiden Architekten und Städteplaner Klaus Humpert und Martin Schenk im Jahr 2001 die „Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung“ in Form eines reich wie gut illustrierten Buches an die Öffentlichkeit gebracht haben1, wurden Mittelalterarchäologie und Stadtgeschichtsforschung mit einem lange Zeit vernachlässigtem Thema konfrontiert. Auch wenn die beiden Autoren weitgehend ahistorisch argumentieren und mögliche Gegenargumente zu ihrer Kernthese, dass auch viele scheinbar gewachsene Städte bis hin zu ihren späteren Stadterweiterungen von Anbeginn an durchgeplant waren, ausblenden, erreichte ihre These ein breites Publikum bis in die sonntagabendliche ZDF-Geschichtsreihe hinein.2 Dagegen war die Mittelalterarchäologie lange Zeit eher bemüht, noch in deutlich als geplant erkennbaren Städten eine ältere Vorgängersiedlung zu finden, als den Vorgang der Planung zu untersuchen, bis sich in Reaktion auf Humpert und Schenk 2003 eine ganze Tagung in Bamberg dem Thema widmete.3
Allerdings hat sich der Schweizer Archäologe und Historiker Armand Baeriswyl in seiner ebenfalls 2001 abgeschlossenen Dissertation schon eben diesem Phänomen auf breitem archäologischen und historischen Quellenfundament zugewandt. Ausgehend von der eigenen Grabungstätigkeit in der von den Zähringern gegründeten Kleinstadt Burgdorf betrachtet er im Vergleich mit Bern und Freiburg im Breisgau die Fragen von Stadtentstehung, -wachstum und -erweiterung, wie diese sich vollzogen, wie weit Planungen zugrunde lagen und wer lenkend dahinter stand. Bevor er in drei großen Kapiteln die jeweilige Entwicklung in den Beispielsstädten erläutert, stellt Baeriswyl allerdings noch eine notwendige Begriffbestimmung voran. Denn gerade für die Benennung der Phasen der Stadtentwicklungen und der verschiedenen Formen von Stadterweiterungen sowie anderer Siedlungselemente außerhalb der Stadtmauern droht zwischen den Quellenbegriffen und den in der Forschung verwandten Begriffen eine fast babylonische Sprachverwirrung. So lässt sich durchaus die Tendenz zu einer je eigenen Begrifflichkeit in Stadtgeschichtsforschung und Mittelalterarchäologie, aber auch in der Architekturgeschichte erkennen, die für die notwendige Zusammenarbeit der Disziplinen nicht gerade förderlich ist.
Für alle drei Städte wird nach einem kurzen Quellen- und Forschungsüberblick zunächst die herrschaftliche Entwicklung während des Untersuchungszeitraums zusammengefasst und bereits auf die mögliche Bedeutung für die städtische Entwicklung hinterfragt. In Burgdorf wie in Freiburg bestanden die stadtherrliche Burg mit einer vorgelagerten Siedlung, die in Freiburg bereits von geplantem Charakter war, schon vor der eigentlichen Stadtgründung. Während in Burgdorf dann die Gründungsstadt abseits dieser Siedlung angelegt wurde, zerschnitt die neue Freiburger Stadtmauer diesen älteren Kern, so dass jener Teil, der weiterhin unmittelbar zur Grundherrschaft der Burg gehörte, außerhalb der Mauern verblieb und erst im Zuge einer späteren Erweiterung in die Stadt integriert wurde (S. 135f.). In Bern entstanden Burg und Stadt dagegen gleichzeitig auf der sprichwörtlichen „grünen Wiese“, ohne dass eine ältere Siedlung an gleicher Stelle nachweisbar ist.
Wichtig erscheint, dass auch fast alle größeren Erweiterungen des ursprünglichen Stadtgebietes vom Stadtherrn veranlasst wurden. Zeitlich lagen diese häufig im Zusammenhang mit dem Antritt eines neuen Stadtherrn, der so sein Wohlwollen gegenüber der Stadt bekunden und sich so zugleich als „Stadtgründer“ (im Sinne der Erweiterung) darstellen wollte. Für die Anlage der Inneren Neustadt Berns ab 1256 ist dieses Vorgehen auch chronikalisch belegt (S. 199f.). Im Falle des Alten Marktes in Burgdorf überließ der durch die Beteiligung am Mord seines Bruders unter Druck geratene Kiburger Graf 1322 diesen noch zur Burgherrschaft gehörenden Siedlungsteil der Stadt, um sich deren Unterstützung zu sichern (S. 81f.). Bei späteren Erweiterungen der Stadt, die im Wesentlichen der Ummauerung von vor den Toren entstanden Siedlungen entsprachen, ist dann aber der Rat die treibende Kraft, um so diese Bereiche sicher in den städtischen Rechtsbereich einzubinden und zugleich die Verteidigung der Stadt zu sichern, wie im Fall der Freiburger Lehener- und Predigervorstadt (S. 141f.).
Unklar bleibt, wer letztlich die Planungen und Arbeiten durchführte. Nach den archäologischen Befunden begannen die Arbeiten mit der Planierung der Straßen, nach deren Raster sich Parzellenaufteilung und Befestigung richteten, sofern nicht auch topografische Gegebenheit bzw. ältere Siedlungsstrukturen zu beachten waren. Typisch für die Stadterweiterungen der drei Beispielstädte war die Ansiedlung von Bettelordensklöstern, die statt der Anlage neuer Pfarrkirchen die geistliche Versorgung sicher stellen sollten, zugleich aber auch überwiegend an der Stadtmauer lagen, zu deren Bau und Unterhalt sie ihren Beitrag leisten mussten. Die Phase der Stadterweiterungen endete in den drei Städten um die Wende zum 14. Jahrhundert, die schrumpfende Bevölkerung führte nun zu Binnenwüstungen in der Folge aber auch zu Umgestaltungen wie der Schaffung von Plätzen und der Zusammenlegung von Parzellen, um eine repräsentativere Bebauung zu ermöglichen. Ein wichtiger Aspekt für die Entwicklung der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Stadt, den Baeriswyl hier anspricht und der noch einer eingehenderen Erforschung bedarf.
Im abschließenden Kapitel arbeitet Armand Baeriswyl noch einmal die wesentlichen Vorgänge und Elemente in der Entstehung und Erweiterung der drei Städte heraus, um einen Vergleich mit weiteren Städten zu ermöglichen und so Grundtendenzen der Stadtentwicklung aufzuzeigen. Dabei begeht er aber keineswegs den Fehler, eine Allgemeingültig für bestimmte typische Tendenzen zu postulieren, sondern stellt sehr richtig heraus, dass gerade für Städte mit älterer Wurzel wie die Städte römischen Ursprungs und die frühmittelalterlichen Bischofssitze noch ganz andere Aspekte eine wichtige Rolle gespielt haben können. Trotz der Beschränkung auf drei Städte im Südwesten des Heiligen Römischen Reiches mit einer vergleichbaren Ausgangssituation bieten sich Anregungen und Überlegungen, die auch für einen weiteren Raum wichtig sind und bei entsprechender Rezeption die Stadtgeschichtsforschung weiter voran bringen können. So findet der Abriss der Berner Burg Nydegg während einer Schwächephase der Savoyer als Vertreter des Reiches zwischen 1268 und 1274 und die anschließende Überbauung mit einer Kapelle, um so auch den Wiederaufbau zu verhindern (S. 209-213), eine bemerkenswerte und zeitlich frühere Parallele in Lübeck. Dort wurde die Burg nach dem Sieg über den Stadtherrn 1227/29 abgebrochen und an ihrer Stelle ein Dominikanerkloster, das Burgkloster, eingerichtet. In beiden Fällen lag bei der Burg der Zugang wichtiger Fernhandelswege, dessen Kontrolle so in die Hand der Stadt gelangte (S. 251f.).
Abgeschlossen wird der Band von einem umfangreichen Literaturverzeichnis einem Katalog der archäologischen Fundstellen in Burgdorf sowie kurzen Zusammenfassungen in französischer und englischer Sprache. Besonders hervor zu heben sind die 192 stets übersichtlich gestalteten Abbildungen, unter denen die Karten zu den Entwicklungsphasen der drei Städte von besonders hoher Qualität sind. Aber nicht nur diese sind in ihrer Darstellung hoffentlich wegweisend.
Anmerkungen:
1 Humpert, Klaus; Schenk, Martin, Entdeckung der mittelalterlichen Stadtplanung. Das Ende vom Mythos der „gewachsenen Stadt“, Stuttgart 2001; dazu die Rezension von Cord Meckseper in: Die Alte Stadt 3 (2002), S. 253-256.
2 ZDF Expedition: Wege aus der Finsternis – Europa im Mittelalter: Von Städten und Kathedralen. Ausgestrahlt am 25.04.2004
3 Die vermessene Stadt. Mittelalterliche Stadtplanung zwischen Mythos und Befund. (Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit 15 )2004.