M. Föllmer (Hg.): Sehnsucht nach Nähe

Titel
Sehnsucht nach Nähe. Interpersonale Kommunikation in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert


Herausgeber
Föllmer, Moritz
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
243 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Flemming Schock, Institut für Geschichte, Universität Essen

Im Zuge des „performative turns“ der Kulturwissenschaften fasst der Sammelband historische Wirklichkeit als ein sich wandelnder Prozess bewusster und unbewusster sprachlicher (Selbst-)Inszenierung, „verstanden als direkter und nicht-medialer Austausch“ von Individuen. Die Austauschbedingungen sozialer Beziehungen in Früher Neuzeit und Moderne, so Moritz Föllmer in der konzentrierten Einleitung, schieden sich vor allem dadurch, dass die Moderne durch einen Bedeutungsverlust gesichts- und ortsabhängiger Kommunikation charakterisiert sei. „Kommunikative Zumutungen, die mit Marktgesellschaft und modernisierendem Staat einhergingen“, leitet Föllmer aus einer Skizze der frühneuzeitlichen Ausgangslage ab. Das ist in der Kürze z.T. pauschal, aber durch die Nennung folgenreicher Weichenstellungen (der Wandel vom „Ganzen Haus“ zur Kernfamilie und deren „bürgerlichen“ Kommunikationsstil) immer instruktiv. Zuweilen bleibt das Profil des verwendeten Kommunikationsbegriffs in der sonst kenntnisreichen Einleitung aber unklar.

Im ersten Beitrag befasst sich Tobias Kies mit dem „Hörensagen. Gerüchtekommunikation und lokale Öffentlichkeit im frühen 19. Jahrhundert“. Anhand einer lokalen Fallstudie über die ländliche, fast ausschließlich auf Oralität basierende Kommunikation im Südschwarzwald im Jahr 1813 wertet Kies die kursierenden Gerüchte „als Sehnsucht nach dem status quo ante“ vorrevolutionärer Ordnung – gegen das Großherzogtum Baden und seine Obrigkeit. Diese wiederum habe die politische und potentiell subversive Kommunikation zu kontrollieren versucht. Kies’ Beobachtungen bauen auf einer sehr präzisen Definition des Gerüchtebegriffs und einer Theorie des Gerüchts auf. Gerüchte böten in Krisenlagen eine Erleichterung durch kollektive Daseinsbewältigung. Seiner Absicht, „die Spezifika der interpersonalen Kommunikation unter den Bedingungen von Zensur und Arkanpolitik im frühen 19. Jahrhundert gegenüber jener im Zeitalter der Massenmedien hervorzuheben“, wird Kies in seiner gut lesbaren Untersuchung gerecht. Dass sein Zugang zur Formierung von Öffentlichkeit durch die Kultur des Hörensagens noch einiges bereithält, legt Kies im Resümee überzeugend dar: „Kontextualisiert und quellenkritisch interpretiert, liefern sie [die Gerüchte] schillernde Einblicke in schwer erschließbare Vorstellungswelten der Vergangenheit.“

„Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Armin Owzar geht es in Anlehnung an die Prämisse Paul Watzlawicks um die Kommunikationsbeziehungen im Deutschen Kaiserreich. Konkret zielt der Zugriff auf die Rekonstruktion gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsverhaltens. Doch auch hier begrenzt ein gewaltiges Quellenmanko, wie Owzar deutlich einräumt, die Erkenntnisreichweite: Aussagen über spezifisch bürgerliche, konservative, jüdische oder auch katholische Milieus und deren „Orte des Alltags“ seien weit hypothetischer als für Unter- und Mittelschichten und vor allem das sozialdemokratische Umfeld. Hier demonstriert der Autor eindrücklich den hohen Wert der 20000 Überwachungsberichte von Kneipengesprächen durch die Hamburger Kriminalpolizei in den Jahren von 1892 bis 1910. Behandelt nicht nur als Tradition, sondern auch als Überrest, machen die so genannten „Vigilanzberichte“ eine politische Alltagsgeschichte der Sozialdemokratie in der Hansestadt möglich. Nach grundsätzlichen Überlegungen zu den sozialen, konfessionellen und geschlechtsspezifischen Trennlinien sowie den Normen bürgerlicher Kommunikation entwickelt Owzar die Kommunikationsverläufe dreier Diskussionstypen im „sozialdemokratisch dominierten Raum“ der Kneipe: des dialogischen, monologischen und eskalierenden Streitgesprächs. Seine sehr quellennahe und lebendig verfasste Untersuchung bildet Gesprächstaktiken und Konfliktlösungsmuster im Raum proletarischer Öffentlichkeit minutiös nach – ermöglicht durch die in Zivil unbemerkt Auseinandersetzungen bis ins Detail protokollierenden Beamten. Beredtes Schweigen über identitätsberührende Themen sei hier wesentlich gewesen. Überzeugend belegen Owzars Quellenbefunde seine Kernthese, dass die Scheu vor Konflikten und nicht, wie durch die ältere Forschung kolportierte, die Politikferne der wilhelminischen Gesellschaft das Kommunikationsverhalten bedingt habe.

Für den etwa gleichen Untersuchungszeitraum spürt der Beitrag von Habbo Knoch den kommunikationssoziologischen Aspekten der Hochphase der europäischen Grandhotelphase nach und fokussiert „Distinktionsmechanismen“ der Oberschicht. Knochs teils mühselig zu lesender Text deutet die Soziologie Georg Simmels als „Phänomenologie interpersonaler Kommunikation“. Eine Quellenrückbindung sparen die abstrakten Erörterungen leider aus. Nach einem griffigen Kurzüberblick über die Entstehungsgeschichte des Grandhotels diskutiert Knoch den symptomatischen Vergesellschaftungszustand des „modernen Individuums“ im „flüchtigen Zusammen der Hotelgesellschaft“ (Simmel). Das ist analytisch erhellend, verklausuliert aber auch seichte Beobachtungen. Gegen die schädigenden Einflüsse der großstädtischen Intensivierung des Lebens habe ein differenziertes räumliches und kommunikatives Arrangement einen die Fragilität des Ichs verdeckenden Rückzugsraum geboten. „Die Grandhotels […] präsentieren sich als Inkarnation einer idealen, konfliktfreien gesellschaftlichen Ordnung.“ Knoch greift vielfältige kategorische Facetten Simmels auf und führt das Grandhotel als Laboratorium und Konstruktionssetting des „Hotelbürgers“ plastisch vor, der zwischen Mitteilen und Verschweigen vor allem die Distanz von „Bekanntschaften“ kultiviert habe. Für das sozial privilegierte Hotelterritorium entwirft der Autor abschließend eine Theorie der Geselligkeit. Dass „Simmels Hotel […] dabei kein bestimmtes, sondern eine seiner Methode entsprechende Abstraktion“ sei, spiegelt sich auch im Stil von Knochs Beitrag.

„Good-bye diesem verfluchten Leben“: Moritz Föllmer wertet die Krisenlage der Weimarer Republik als Kommunikationskrise, gegründet in einem Konflikt der Generationen und damit auch der Kommunikationsstile. Existentielles Pathos der Jüngeren habe im Widerstreit mit den Normen der emotionalen Kontrolle der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts gelegen. Die Schwierigkeit von Lösungsmustern für die Verständigungsmisere entwickelt der Autor anhand des „worst case“-Szenarios von Schülerselbstmorden. Über Akten der Schulbehörden erschließt die illustrative Untersuchung individuelle Dynamik und Motivik der Suizide. Der kommunikativ-symbolische Selbstmord galt, folgert Föllmer, nicht nur den der Inklusion oder Exklusion nachhängenden Mitschülern, sondern auch einer pädagogisch hilflosen Lehrerschaft. Bedrückenden Einzelschicksalen geht Föllmer in weiteren Fallstudien nach. Während Jugendliche vor dem Hintergrund der modernen Literatur die Auflösung des einheitlichen Subjektes probten, seien die Eltern den erzieherischen Leitbildern des 19. Jahrhunderts verhaftet geblieben. Eine weitere Dimension eröffnet der Autor durch den Bezug „von biographischem Scheitern, Kommunikationskrise und Selbstmord“ in Konflikten von Ehe- und Liebespartnern. Überzeugend wird aus der Analyse von Abschiedsbriefen geschlossen, dass oft nur jene Schreiben einen Ort für individuelle Sprache boten. Föllmers überzeugendes Resümee richtet sich gegen die überkommene Annahme von „traditionalen Überhängen in der deutschen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit“ und betont stattdessen in der „existentiellen Dimension von Weimar“ die ungelöste Krise kommunikativer Gattungen.

Dem Manko, dass zwischenmenschliche Alltagskommunikation kaum Quellen hinterlässt, begegnet Andre Stuart Bergerson mit der Auswertung Mitte der 1990er-Jahre in der Stadt Hildesheim selbst durchgeführter Interviews. Über „Beobachtungen über die Funktion ritualisierter Gesten in der nationalsozialistischen Öffentlichkeit“ in den frühen 1930er-Jahren argumentiert der Autor im Gegensatz zur bisherigen Forschung, dass der „gewöhnliche“ Deutsche keineswegs in einer von den „nationalsozialistischen Verbrechen getrennten Welt“ gelebt, sondern durch eine Beschränkung des „Eigensinns“ NS-Prinzipien im Alltag aktiv verankert und damit in der nationalsozialistischen „neuen Form des Seins“ eine vitale Rolle gespielt habe. Bergersons „Anekdoten des Eigensinns“ versuchen über die interessante wie bisher vernachlässigte Diskussion nachbarschaftlicher Grußrituale den „symbolischen Kern der nationalsozialistischen Reformatio vitae“ als einer Bewegung „von unten“ zu greifen. Juden sahen sich in der symbolischen Alltagskommunikation einer absurden „no win“-Situation ausgesetzt, weil sie in Grußformeln entweder provozierten oder zur Nazifizierung beitragen hätten. Die Diskussion der Mechanismen individueller Erinnerungen an die Möglichkeit autonomen Handelns ist psychologisch teils spekulativ, aber ebenso anregend wie deren Einbettung in die These, dass die „Normalität“ des Grüßens nicht nur in Hildesheim in „existentieller Absurdität“ die Legitimität des Regimes beförderte. Ein Nichtgrüßen bot eine Alternative, aber statt eines Auswegs nur Entfremdung. Aus seinen Interviews folgert Bergerson auf eine instrumentelle Erinnerung, die an Stelle einer „verwirrten Mehrheit“ bewusst handelnde Deutsche zwischen Taktiken des Eigensinns und Strategien der Herrschaftsstabilisierung changieren sieht. Der Autor konstatiert einen „schizophrenen“ Verhaltensmodus insofern, als zwar „präzise zwischen komplexen moralischen Positionen unterschieden“ wurde, man aber nicht bereit gewesen sei, öffentlich Nonkonformität zu zeigen.

Teilergebnisse seiner Dissertation referiert Daniel Morat in seinem Aufsatz „Techniken der Verschwiegenheit. Esoterische Gesprächskommunikation bei Ernst und Friedrich Georg Jünger, Carl Schmitt und Martin Heidegger“. Morat geht es um das Erfassen der spezifischen Austauschmuster von „ehemaligen Führungsfiguren der so genannten Konservativen Revolution“. Auf der Grundlage eines gelungenen Kurzabrisses der allgemeinen Kommunikationssituation in der Nachkriegszeit, die in der Zusammenbruchsgesellschaft eine Renaissance vor allem mündlicher Austauschbeziehungen gebracht habe, lokalisiert Morat den spezifischen Ort rechtsintellektueller „Eremiten“. Statt sich aber zu einer Mitschuld zu bekennen, hätten sich Rechtsintellektuelle wie Heidegger oder Jünger in die Kultivierung „nicht-öffentliche[r] Formen der Netzwerkbildung“ zurückgezogen, deren programmatische Verschwiegenheit Schutz gegen politische Repression bot. Der „Echtzeitgedankenaustausch [war] […] zentraler Bestanteil der ideellen Vergemeinschaftung“. Dass dies die Rekonstruktion nur annäherungsweise zulässt, ist Morat bewusst. Die Spuren dieses „Denkkollektivs“ verfolgt er neben gedruckten Publikationen primär in Briefwechseln und Tagebuchnotizen, aus denen er aussagekräftige Stellen zitiert: „Uns alle verbindet eine Stille des Schweigens.“ (Schmitt) Morat macht sehr plausibel, dass Schmitt und andere die Esoterik innerer Emigration suchten. Schweigen galt demnach, so ein erneuter faszinierender Beleg, als „stärkste Waffe“ (Jünger) in einer Strategie der Selbstbehauptung. Wie die Eingeweihten in der Ruhe einer Gegenöffentlichkeit ihren „Ideenhaushalt“ neu sortieren und gleichzeitig Tendenzen der Massenmedialisierung abwehrten, macht Morats klar strukturierter Beitrag deutlich.

Nach langfristigen Bedingungen und Voraussetzungen des permanenten Wandels der Kommunikationsbeziehungen in westdeutschen Unternehmen seit dem Zweiten Weltkrieg fragt Ruth Rosenbergers Aufsatz. Wie formte sich interpersonale Kommunikation, „bevor betriebliche Akteure ‚Kommunikation’ als Managementinstrument erkannten“? In Anknüpfung an Bourdieu begreift Rosenberger den Betrieb als durch Ideen vorstrukturierten Sozialraum. Dessen Verständnis habe sich seit dem Zweiten Weltkrieg durch eine sukzessive Abkehr vom bisherigen Modell der „Betriebsgemeinschaft“ durch eine neue Praxis einschneidend verändert – Arbeitskraft wurde nicht mehr nur ökonomisch definiert, sondern unter der Prämisse „Betrieblicher Partnerschaft“ auch als Ergebnis zwischenmenschlichen Dialogs aufgefasst. Spannungen zwischen Belegschaft und Betriebsleitungen sei hier erstmalig durch die Einstellung von Betriebspsychologen begegnet worden. Anschaulich schildert Rosenberger, wie sich die Psychologen zunehmend als Kommunikationsexperten etablierten und ursprüngliche Aufgabenbereiche überschritten. Das Gespräch sei zur Kernform betrieblicher Kommunikation aufgerückt und „die Einseitigkeit des bisherigen Sender-Empfänger-Modells“ durchbrochen worden. An Gegenbeispielen demonstriert die Autorin, dass die Implementierung neuer betrieblicher Sozialformen nicht überall linear verlief. Ein Ausblick auf die ausdifferenzierten Organisationsstrukturen der 1970er-Jahre schließt den gelungenen Überblick dynamisierter Kommunikation im Sozialfeld des Betriebs.

Um ein gewichtiges, doch bisher von der Forschung vernachlässigtes Stück interner politischer Kommunikationsgeschichte der BRD geht es Frank Bösch in der Untersuchung der Wortprotokolle der Sitzungen des CDU-Parteivorstandes in den 1950er und 1960er-Jahren. Bösch analysiert Etablierung und Funktionsweise sprachlich geregelter Machtstrukturen in Routinehandlungen, die schon bei dem „kommunikativen Setting“ beginnen. In dem klug gewählten Gliederungspunkt benennt Bösch nonverbale, aber entscheidende Momente, die Adenauer sehr bewusst der kommunikativen Vorteile und des Lenkungsspielraums wegen einsetzte. Darauf nimmt der Autor Sprache, Gesprächspsychologie und Gesten selbst in den Blick. Klar entwickelt Bösch den kommunikationsstrategischen Sitzungsablauf und dessen rhetorische Stilmittel, den Vorstand als „kommunikative Arena“. Diachronisch konstatiert Bösch abschließend vor dem Hintergrund der Präsidentschaftskrise am Ende der 1950er-Jahre eine Veränderung der Gesprächskultur hin zu einem provokanteren Diskussionsstil und die exponierte Rolle Helmut Kohls in diesem kommunikativen Transformationsprozess gerade auch nach dem Tode Adenauers im Verlauf der 1970er-Jahre. „Vor allem der Generationswechsel und die gesellschaftliche Liberalisierung trugen langfristig dazu bei, eine neue Gesprächsatmosphäre zu etablieren.“ Insgesamt wird Bösch seinem Ziel, die „politische Integration einer Partei auch als Ergebnis von Kommunikationsstrukturen anzusehen“, in einem anregenden Beitrag mehr als gerecht.

Sandrine Kotts Aufsatz „Formen und Grenzen der Kommunikation zwischen Personen in der DDR“ verfolgt das ambitionierte Ziel, aus den Quellen von Betriebsarchiven eine Alltagsgeschichte des Kommunismus zu destillieren. Das Interesse an der Internalisierung rhetorischer Normen des diktatorischen Regimes präzisiert Kott an der interpersonalen Kommunikation in großen und damit repräsentativen, volkseigenen Betrieben. Im Gegensatz zu den anderen Beiträgen des Sammelbandes wird interpersonale Kommunikation negativ gewendet: Zunehmende disziplinarische Verfahren in den Betrieben hätten den Raum des Austausches, den immer mehr die Partei allein für sich reklamierte, schrumpfen lassen. Doch immer wieder habe es in Betrieben Versuche gegeben, an Stelle des parteikonformen Wahrheitspostulats „echte Überzeugungen“ zu kommunizieren. Kott wertet die betriebsinterne Uniformierung der Sprache als Symptom gesellschaftlicher Entdifferenzierung. Wie ein „sozialistisches Basiskollektiv“ geformt wurde, veranschaulicht Kott an betriebseigenen Brigadetagebüchern eindrücklich. Als kommunikationsgeschichtliche Alltagsquelle eigenen sie sich ebenso wie zur Klärung deutlicher Momente einer paternalistischen Erziehungsdiktatur durch die SED. Nicht neu ist die Erkenntnis, dass die Grenzen der interpersonalen Kommunikation vor allem durch die Kontrollmechanismen des Regimes limitiert waren. Dafür überzeugt Kotts induktiver, aus den Betrieben hervorgehender Schluss umso mehr, dass der SED-Staat eine „Orthodoxie politischer Sprache“ durchsetzte und individuelle Klagen – das „ostdeutsche Meckern“ – kultivierte, solange diese von (politischem) Forderungscharakter frei blieben.

Von der Diktatur zur Anarchie des Webs. Im Schlussbeitrag „Aufhebung der Ferne“ fragt Anke Bahl nach der veränderten Natur menschlichen Kontaktes und der Konstruktion von Identität im virtuellen Raum. Bahl wertet die Schriftsprache im Internet, in dem Vertrauen „kontinuierlich, gesichtsunabhängig neu ausgehandelt“ muss, zu Recht als kopernikanische Wende des Bauprinzips zwischenmenschlicher Kontakte. Der sonst wesentliche „Kommunikationsstrom“ körperlicher Ausstrahlung und Kopräsenz wird sekundär, Identität macht sich am regulierten und kontrollierten Text fest. Gleichzeitig scheint unter Ausblendung von womöglich nicht dem Schönheitsideal entsprechender Körper ein „authentischerer“ Blick in die Persönlichkeit des Anderen möglich, ein „Innerlichkeitskult“ begünstigt. Doch dann stützt sich die Argumentation lehrreich auf den Soziologen Joachim Höflich: Bei gesichtsunabhängiger Textkommunikation sei „nicht von auf einander treffenden Personen, sondern von sich begegnenden, konstruierten ‚Medienrealitäten’ zu sprechen“. Nur auf den jeweils inszenierten Ausschnitt und nicht auf Persönlichkeit selbst werde imaginär Bezug genommen. „Soziale Ein- und Austrittskosten“ scheinen letztlich leichter kalkulierbar – durch „log out“ könne man sich der Beziehungen folgenlos entledigen. Bahl macht deutlich, dass eine „Authentizität“ der Beziehungen aufgrund des körperlich absenten Gegenübers schwer zu bemessen ist, durch „technogene aber eben nicht technoide Nähe“ begünstigt, doch auch behindert wird. Die Autorin zieht aus eigens geführten Interviews sehr grundsätzliche Schlüsse. Schützende Anonymität und leichterer körperlicher Rückzug werden durch eine „klassische Reihung der Medien“ (Austausch von Fotos, Telefonate) aufgehoben – die Sehnsucht nach einer Verwandlung in den „offline“-Kontakt.

Insgesamt glückt das Unternehmen, über knapp zwei Jahrhunderte Schlaglichter auf die Bedingungen zwischenmenschlichen Austauschs zu werfen. Der Band ist methodisch und perspektivisch innovativ. Allerdings bleibt der Großteil menschlicher Alltagskommunikation verloren und damit das Quellendilemma bestehen. Statt begrifflicher Klärung dominieren zuweilen psychologische Hypothesenbildungen, die der Heuristik der „Interpersonalen Kommunikation“ ihre Schärfe nehmen.