J. Ulbert: Frankreichs Deutschlandpolitik im zweiten und dritten Jahrzeh

Cover
Titel
Frankreichs Deutschlandpolitik im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Zur Reichsperzeption französischer Diplomaten während der Regentschaft Philipps von Orleans (1715-1723)


Autor(en)
Ulbert, Jörg
Reihe
Historische Forschungen Band 79
Erschienen
Anzahl Seiten
494 S.
Preis
€ 84,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fred E. Schrader, Universität Paris VIII

Über die französische Deutschlandpolitik nach Ludwig XIV. und vor Ludwig XV., also während der Régence, war bislang relativ wenig bekannt. Jörg Ulbert hat diese Lücke mit seiner 2001 an der Universität Marburg angenommenen Dissertation an den Quellen gefüllt. Die Arbeit ist bemerkenswert klar und übersichtlich aufgebaut. Auf eine Exposition der Außenministerien Torcy, Huxelles, Dubois, Morville und deren Personals folgt eine Darstellung der französischen Missionen am Regensburger Reichstag, in Wien, Berlin, München und Kurköln. Diese Kapitel sind fast identisch gegliedert nach den Themen Hof, Minister, Finanzen, Militärwesen, Gesamtbild. Hamburg hat kein eigenes Kapitel bekommen. Der Autor schließt mit einer Konklusion über die zwei Phasen der französischen Deutschlandpolitik (im Kontrast: Huxelles und Dubois) sowie über die Reichsperzeption (Bevölkerung, Konfessionen, Verfassung). Im Anhang werden vier Abschlussrelationen sowie 15 Kurzbiografien der französischen Diplomaten im Reich dargeboten. Das alles ist penibel recherchiert und geht weit auch über das hinaus, was die französische Forschung zu sagen wusste.

In der Tat finden sich bei Ulbert bemerkenswerte Trouvaillen. Das französische Außenministerium wusste ein qualitativ hochwertiges Informantennetz aufzubauen und zu unterhalten, das etwa in Wien Rocco Graf Stella, einen der engsten Vertrauten Karls VI., und in Berlin den „Quasiaußenminister“ Heinrich Rüdiger von Ilgen umfasste. Letzterer galt bislang als loyal und unbestechlich. Die Kenntnisse der Außenminister über das Reich war, geht man von ihren Privatbibliotheken aus, durchweg gut. Dennoch waren sie in erster Linie an Personalia an den diversen deutschen Höfen interessiert, weit weniger an Wirtschaft, Handel oder Bevölkerung. Die Diplomaten berichteten wohl über Finanzen und Militaria, doch die Ministerien hakten nicht nach. Einer obsessiven Furcht vor einer habsburgischen Universalmonarchie folgte ein Desinteresse, eine Abwendung vom Reich. Überhaupt kann die Regentschaft als eine Periode schwacher außenpolitischer Aktivität Frankreichs gelten, wofür der Autor die Gesamtdepeschenfrequenz heranzieht. Hier stellt er die Frage der Interdependenz zwischen Innen- und Außenpolitik (Polysynodie, Staatsfinanzen, Law-Krise). Im Übrigen ist es frappant, wie in dieser Periode der Rang der französischen Diplomaten im Reich abgesenkt wird. Zum Schluss sind es Botschaftssekretäre und Geschäftsträger, keine Minister mehr. Die alte habsburgische Obsession wird von der neuen englischen abgelöst.

Ulbert möchte die Politik- und Diplomatiegeschichte rehabilitieren. Sein Argument ist, dass man um die Quellen schlicht nicht herumkommt. Das ist unbedingt richtig, und das Verdienst des Autors ist es gerade, diese Quellen erschlossen zu haben. Als historiografisch fraglich erscheint es allerdings, exakt so zu raisonnieren und zu argumentieren wie sie, sie also unanalytisch durchweg zu reproduzieren. Wer oder was sind „Frankreich“, „Preußen“, „Wien“, was ist das für eine personen- und hofzentrierte Perspektive, wie und warum werden wichtige Bereiche Deutschlands und des Reichs in der französischen Diplomatie schlicht ausgeblendet, was sind das für Vorstellungswelten, was ist das für eine politische Semantik, gibt es dafür französische oder europäische Traditionen? Das alles hatte immerhin handfeste Konsequenzen im infra-nationalstaatlichen Bereich und darüber hinaus.

Der Leser gewinnt mit einem gewissen Bedauern den Eindruck, dass diese unzweifelhaft bemerkenswerte Arbeit hier eher darum bemüht ist, sich in die Geschichtsschreibung früherer Historikergenerationen einzuordnen, als darum, quellennah und sachhaltig neue historiografische Perspektiven zu eröffnen, die praktisch auf der Hand liegen. Doch das wird sicherlich nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension