Titel
Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts


Autor(en)
Beckert, Jens
Reihe
Theorie und Gesellschaft 54
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Campus Verlag
Anzahl Seiten
423 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Wienfort, Institut für Geschichte, Technische Universität Berlin

In den aktuellen Debatten über eine sich verschärfende soziale Ungleichheit in der Mehrzahl der modernen Industriegesellschaften spielt das Erben als wichtigstes Element privaten Vermögenstransfers in der Generationenfolge eine wichtige Rolle. Beckerts Habilitationsschrift unternimmt es, die Kontroversen über dieses Thema auf eine historisch-soziologische Grundlage zu stellen, indem er die gesellschaftswissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen um das Erbrecht in Deutschland, Frankreich und den USA vom späten 18. Jahrhundert bis heute systematisch mittels einer quantitativen Argumentationsanalyse untersucht. Dabei gelingt es dem Verfasser, am Beispiel des Erbrechts die umfassende und sehr allgemeine soziologische These von der Individualisierung sämtlicher Lebensbereiche als zentralem Kennzeichen der Moderne grundsätzlich in Frage zu stellen. Das Erbrecht und die entsprechenden rechtspolitischen Debatten zeugen eher von einem kulturell und mental geprägten Wandel gesellschaftlicher Solidarität als von einer säkularen Ausweitung individueller Dispositionsgewalt. Entgegen einer Betrachtungsweise, die sich allein auf die ökonomischen und politischen Funktionen konzentriert, geht es dem Verfasser darum, Gerechtigkeitsvorstellungen im Kontext von Gleichheit und Ungleichheit, die eine langfristige Pfadabhängigkeit zivilrechtlicher Regeln einer Gesellschaft begründen können, in die Analyse einzubeziehen.

Beckerts knappe und konzise Studie, die sich glänzend in den in der Geschichtswissenschaft ausbreitenden Trend eines neuen Interesses am Zivilrecht einfügt, wählt vier Themenbereiche oder Konfliktfelder aus: erstens die Testierfreiheit, zweitens die Ansprüche der Familie, die die Testierfreiheit begrenzen, drittens das Fideikommissrecht und viertens den heute sicher wichtigsten Bereich der Besteuerung des Erbens. Auf der Grundlage von Parlamentsdebatten, aber auch von juristischen, ökonomischen und politischen Stellungnahmen treten Gemeinsamkeiten der drei Länder, aber eher noch charakteristische Unterschiede hervor. Allerdings fallen dabei die sehr unterschiedlichen Chronologien und auch inhaltlichen Strukturen der rechtspolitischen Kontroversen in den Parlamenten ins Auge. Für die USA spielte das im Fideikommiss gebundene Grundeigentum im Untersuchungszeitraum keine Rolle, in Deutschland blieb es ein wichtiges Thema bis ins 20. Jahrhundert. Bei den Erbschaftssteuern lassen sich deutsche und US-amerikanische Debatten seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gut vergleichen, in Frankreich aber fanden die entscheidenden parlamentarischen Auseinandersetzungen bereits am Ende des 19. Jahrhunderts statt. Es bleibt unter diesen Bedingungen methodisch schwierig, die Bedeutung derjenigen Themenfelder vergleichend einzuschätzen, in denen rechtspolitische Debatten überhaupt nicht stattgefunden haben. Auch die Beibehaltung des gesetzlichen Status Quo angemessen zu bewerten, fällt unter diesen Umständen schwer.

Trotz dieser Vorbehalte zeigt die Herangehensweise klare Ergebnisse, für die ich nur einige Beispiele herausgreifen will: Zwar galt die Testierfreiheit überall nur eingeschränkt, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Die USA gestalteten die Dispositionsbefugnis vergleichsweise großzügig aus, Frankreich schränkte sie am stärksten ein, weil hier die der Familie zugesprochenen Erbrechte die größte Bedeutung hatten. Bei der Betrachtung der familiären Erbansprüche arbeitet Beckert den säkularen Trend einer Verbesserung der Stellung des überlebenden Ehegatten - in der Rechtspraxis wegen der höheren Lebenserwartung im 20. Jahrhundert waren das vor allem Frauen - sehr überzeugend heraus. Hier wird deutlich, dass eine Betrachtung des Erbrechts unter geschlechtergeschichtlicher Perspektive kaum ohne Einbeziehung des ehelichen Güterrechts erfolgen kann. Besonders in Frankreich, wo mit dem Güterstand der Gütergemeinschaft zunächst überhaupt kein Ehegattenerbrecht bestand, war das eheliche Güterrecht von entscheidender Bedeutung. Beckert deutet die Ausweitung der Ansprüche des überlebenden Ehegatten und die Zurückdrängung der Interessen von Seitenverwandten als sich wandelnde Solidaritätsansprüche, die sich von einem blutmäßigen Verwandtschaftssystem hin zur Kernfamilie aus Eltern und Kindern orientierten. Mit der Zurückdrängung der Primogenitur ging darüber hinaus ein säkularer Trend zur Gleichbehandlung von Söhnen und Töchtern im Erbrecht einher.

Erbschafts- bzw. Nachlasssteuern wurden in den drei Ländern um 1900 eingeführt, um den wachsenden Finanzbedarf des Staates zu befriedigen. Die Ausgestaltung der Steuer aber, so die These des Verfassers, hing eng mit dem nationalen Eigentumsverständnis und mit Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen zusammen. In den USA sollten Erbschaftssteuern dynastische Vermögens- und Einflussballung verhindern, die als demokratiegefährdend galten. Die Steuer richtete sich also primär gegen die sehr großen industriellen Vermögen. Diese Sichtweise führte, wenn auch nur kurzfristig, zu Steuern in konfiskatorischer Höhe. Eine adäquate Höhe der Erbschaftssteuer im Lichte vor allem wirtschaftspolitischer Strategien bleibt im Übrigen bis heute ein wichtiges Thema in den USA, wo die Regierung Bush ein Auslaufen der Nachlasssteuern für 2010 angekündigt hat.

In Deutschland richtete sich das Augenmerk der Debatte in Kaiserreich und Weimarer Republik auf den Beitrag zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. Die Erträge der Steuer sollten wohlfahrtsstaatlich eingesetzt werden, für die Gegner einer Besteuerung erbrachte eine Argumentation mit einem familiär geprägten Eigentumsbegriff, der die Versorgung der Hinterbliebenen in den Mittelpunkt stellte, zumindest hinsichtlich der Begrenzung der Steuersätze Erfolge. In Frankreich wiederum konzentrierte sich die Debatte im Selbstverständnis einer Eigentümergesellschaft auf eine Gleichheitsvorstellung, die proportionale Steuersätze gegenüber progressiven bevorzugte. Auch andere, bis heute bestehende Unterschiede sind auffällig: Während in Frankreich für erbende Kinder geringere Steuersätze als für den überlebenden Ehegatten gelten, ist es in Deutschland umgekehrt. Außerdem zeigt sich in Frankreich ein charakteristischer Zusammenhang von Steuerpolitik und Bevölkerungspolitik. Erblasser mit höherer Kinderzahl können mit einer niedrigeren Steuerbelastung ihres Nachlasses rechnen.

Das Zusammenspiel von nationalen Rechtstraditionen, wirtschaftlicher Funktionalität und symbolischer Ordnung hat dazu geführt, dass manche Prognosen, etwa von Durkheim, der annahm, in der fortgeschrittenen Moderne werde das Eigentum sukzessive mit dem Tod des Eigentümers erlöschen, oder von Parsons, der Erbschaften als Element sozialer Konstituierung moderner Gesellschaften für irrelevant hielt, nicht in Erfüllung gegangen sind. Die musterhafte Analyse der gesetzlichen Normen und der rechtspolitischen Diskurse, die der Verfasser vorgelegt hat, sollte zukünftig durch eine genauere Betrachtung der Rechtswirklichkeit ergänzt werden. Erbregeln und -gebräuche wie Anerbenrecht und Realteilung, Aussteuer und Nießbrauchsrechte von Witwen finden gelegentlich Erwähnung, ohne dass das jeweilige Verhältnis zum kodifizierten Recht genauer untersucht wird. Erst das Zusammenwirken von Rechtsnorm und Rechtspraxis ergibt ein Rechtssystem, dessen Rolle für das Funktionieren moderner Gesellschaften ein unverzichtbares Thema der Sozial- wie der Geisteswissenschaften darstellt.