Cover
Titel
Medieval Islamic Political Thought, 650-1250.


Autor(en)
Crone, Patricia
Erschienen
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
£25.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Axel Havemann, Institut für Islamwissenschaft, Freie Universität Berlin

Dieses Buch über mittelalterlich-islamisches politisches Denken (ca. 650-1250) beginnt mit der Frage, wie und zu welchem Nutzen politische Macht bzw. Herrschaft, ausgeübt durch eine Regierung (den "Staat"), verteilt sein sollte: Herrschaft über eine gesellschaftliche Ordnung durch Gewalt oder mit Hilfe von Religion − letztere "in der islamischen Welt ursprünglich die Quelle des Staates selbst" (S. VIII). Die renommierte Islamwissenschaftlerin und Orienthistorikerin Patricia Crone (Institute for Advanced Study, Princeton) will mit ihrer Studie sowohl das gebildete interessierte Laienpublikum als auch die Fachwelt erreichen. Inwieweit beides gelungen ist, sei dahingestellt; ich habe meine Zweifel, ob es wirklich ganz ohne (Vor-)Kenntnisse der islamischen Geschichte geht − trotz der sehr hilfreichen Tabellen und Zeittafel, des Glossars und Index (leider fehlen historisch-geografische Karten). Eines ist dagegen unbestritten: die große Gelehrsamkeit und analytische Brillanz des Buches und seiner Autorin; provokativ, gelegentlich vielleicht zu provokativ, aber gerade deshalb umso anregender − übrigens ein Markenzeichen von Crone und ihren vielen anderen Publikationen.

Das Buch ist gegliedert in vier Teile mit insgesamt 22 Kapiteln; vorwiegend nach thematischen Zusammenhängen geordnet, aber ohne dabei die chronologische Abfolge aus dem Blick zu verlieren. In den Fußnoten finden sich häufig Querverweise auf schon gemachte Ausführungen und noch zu erörternde Fragen; darüber hinaus sind sie gespickt mit Angaben zu Primärquellen und Sekundärliteratur. Insofern ist die Lektüre nicht einfach, sondern zeitraubend, aber (nach meiner Ansicht) hochinteressant und äußerst lehrreich. In diesem Zusammenhang sei auch das Literaturverzeichnis von mehr als 30 Seiten erwähnt: in der Tat ein bibliografischer Schatz! Crone konnte sich also für ihr Thema auf zahlreiche Quellen, Vorarbeiten und frühere Studien, darunter viele von ihr selbst, stützen; trotzdem stellt diese Untersuchung in ihrer thematischen Breite, in ihrem methodischen Vorgehen sowie in der Art ihrer systematischen Analyse und Synthese etwas Neues in der Forschungslandschaft dar.

Teil I behandelt die Ursprünge von (islamischer) Herrschaft, den ersten "Bürgerkrieg" (arab. fitna: Prüfung der muslimischen Glaubensgemeinschaft) 656 und die Herausbildung von "Sekten" (religiös-politischen Parteien) sowie die Umayyaden, die erste Kalifatsdynastie (661-750). Hier, wie auch in den folgenden Kapiteln, wird immer wieder auf Ähnlichkeiten mit und Unterschiede zu Gegebenheiten und Entwicklungen im mittelalterlich-christlichen Westeuropa, im Byzantinischen Reich und (seltener) in der Antike hingewiesen; kombiniert mit dem lobenswerten Bemühen, den Leser mit den wichtigsten arabischen (später auch persischen und griechischen) Namen, Daten und Termini vertraut zu machen.

Der Teil II (Das Schwinden der tribalen Tradition, ca. 700-900) ist den verschiedenen religiös-politischen Gruppierungen, ihren ideologischen Ansprüchen und deren erfolgreicher oder gescheiterter Realisierung gewidmet. Im Einzelnen handelt es sich um die Kharijiten, die Mu'taziliten, die Schiiten in umayyadischer Zeit, die Abbasiden (aus denen die zweite Kalifatsdynastie hervorging, 750-1258), die Zaiditen, die Imamiten (aus denen im späten 9. Jh. die Zwölferschiiten wurden) und die so genannten Traditionalisten (die "Hadith-Partei", die "Anhänger der richtigen, d.h. prophetischen Praxis [arab. Sunna] und der gemeinschaftlichen Solidarität"), die (späteren) Sunniten − bis heute die große Mehrzahl aller Muslime.

Im Teil III (betitelt als: Fertig werden, bzw. Umgehen, mit einer fragmentierten Welt) analysiert Crone die persische Tradition mit ihrer "Ratgeberliteratur" (Fürstenspiegel), die griechische philosophische Tradition mit ihrer "politischen Wissenschaft" (Ethik, Ökonomie [im Sinne von 'household management'], Politik bzw. Leitung [der Städte/der Gemeinwesen]), ferner die Isma'iliten (eine spezifische Gruppierung von Schiiten, aus denen die Fatimiden hervorgingen, die einzige schiitische Kalifatsdynastie, 909-1171) und die Sunniten (s.o.). Obwohl diese Zusammenstellung vordergründig etwas heterogen wirkt, ist auch hier das politische Denken (und der Versuch seiner Realisierung, mit Ausnahme der philosophischen Stimmen) das Bindeglied.

Schließlich werden im Teil IV (Herrschaft und Gesellschaft) verschiedene Aspekte und Zielgruppen von Regierung, Staat, Religion und Politik erörtert: die Beschaffenheit (das Wesen) von Herrschaft, ihre Aufgabenbereiche, Konzepte von "Freiheit" (verstanden als 'Leben im Einklang mit dem göttlichen Gesetz' [Schari'a] oder 'gegen das göttliche Gesetz gerichtet' [Antinomismus]), die Ordnung der Gesellschaft (bzw. die Kategorien und Gruppen sozialer Ordnung), Muslime und Nichtmuslime (ausführliche Behandlung der schwierigen und problematischen Themenbereiche Dschihad und Apostasie). Dieser Teil bildet in gewisser Weise die Synthese des Buches, weil hier übergreifende Themen unter Rückgriff auf die zuvor behandelten religiös-politischen Gruppierungen und deren Vorstellungen diskutiert und dazu in direkten Bezug gesetzt werden.

In einem Epilog wird dann noch einmal das Verhältnis von Religion, Herrschaft (Staat) und Gesellschaft thematisiert. Patricia Crone kommt zu folgendem Schluss: "If we think of the domains of religion, state, and society as three circles, Islamic history starts with a situation of perfect identity: only one circle is visible, it encompasses all three domains [...] Religion had spawned a society and its government. This is the situation in the Prophet's Medina. We then have six centuries of development in which the circles gradually come apart. At the end of our period, as far as government is concerned, the overlap with religion was minimal [...] But as far as society (or at least urban society) was concerned, the overlap remained almost total [...] In short, Muslim society was now [...] a congregation of believers protected by a state instead of forming one on its own [...] Muslim society remained an assembly devoted to worship; unlike the state, it was still organized on a religious basis." (S. 396, 397)

Diese Interpretation verdient ohne Zweifel eine ausführliche, kritische Kommentierung; dasselbe gilt allerdings auch für vie1e andere, meines Erachtens brillant formulierte Textpassagen in dem Buch. Im Rahmen einer kurzen Rezension ist das nicht möglich; es wäre aber sicherlich lohnend und gerechtfertigt, diese Studie in einem längeren Essay intensiver zu beleuchten. Nicht jeder Leser, egal ob vom Fach oder aus der breiten Öffentlichkeit, wird mit allen Thesen, Analysen und Schlussfolgerungen von Crone einverstanden sein. Aber jeder dürfte nach der Lektüre ein befriedigendes, sehr wahrscheinlich auch ein erweitertes Verständnis des mittelalterlich-islamischen politischen Denkens gewonnen haben. Das Buch gehört zu dem Besten, was ich seit längerer Zeit an Publikationen aus der Islamwissenschaft gelesen habe.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Thema
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension