Titel
Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer kommentierten Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain


Autor(en)
Kinzig, Wolfram
Reihe
Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 13
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Koenig, Kerkgeschiedenis (Kirchengeschichte), Theologische Universiteit Kampen

Der Hamburger Rabbiner Paul Rieger empörte sich 1902 in einem Aufsatz zu „Antisemitismus und Wissenschaft“ über den protestantischen Kirchenhistoriker Adolf Harnack, dass der „gelehrte Theologe in bedenklicher Weise den Antisemiten in die Hände“ arbeite.1 Harnack hatte in seinen im Wintersemester 1899/1900 in Berlin vorgetragenen, in Buchform schnell zu einem Bestseller avancierten Vorlesungen über das „Wesen des Christentums“ in der Tat behauptet, „daß durch das Alte Testament ein inferiores, überwundenes Element in das Christentum eindrang“. Im Sinne der „Spätjudentumsforschung“ hatte er besonders die Pharisäer als eine mit starrer Gesetzlichkeit behaftete religiöse Gruppe und als bloße Verfallserscheinung konstruiert, die den erst in der christlich-neutestamentlichen Überlieferung wiederentdeckten unmittelbaren Gottesbegriff „beschwert, getrübt, verzerrt, unwirksam gemacht“ habe.2 Diese Perspektive verdichtete sich in seinem 1921 erschienen, kirchenhistorischen Alterswerk über Marcion von Sinope, den Häresiarchen des 2. Jahrhunderts, zu einem Appell, der – wenigstens in seiner entkontextualisierten Form – durchaus im Sinne einer deutschchristlicher Programmatik verstanden werden konnte: „Das A[lte] T[estament] im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber im 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu conservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.“ 3

Der Bonner Patristiker Wolfram Kinzig hat sich nun in einer jüngst erschienen Studie mit diesen Schattenseiten des facettenreichen Repräsentanten der liberalen Religionskultur im späten Wilhelminismus auseinandergesetzt. Harnacks Haltung zum Judentum verdient vor dem Hintergrund eines anwachsenden Antisemitismus im Kaiserreich Aufmerksamkeit, standen seine Äußerungen doch spätestens seit der mitunter aggressiv geführten christentumstheoretischen Wesens-Debatte und der Kontroverse um die Ursprünglichkeit der alttestamentlich-hebräischen Literaturen im „Babel-Bibel-Streit“ vor einer breiteren Öffentlichkeit. Harnack zählte als Direktor der Königlichen Bibliothek und Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu den zentralen Wissenschaftspolitikern der ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts und zu den prominentesten Vertretern einer Kirchen- und Religionsgeschichtsforschung, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als philologisch fundierte Leitwissenschaft innerhalb der theologischen Enzyklopädie etabliert hatte und aus der Harnack aufgrund seiner kometenhaften Karriere als „Stern erster Ordnung am Wissenschaftshimmel“ (Kurt Nowak) hervorleuchtete. Sein theologisches Urteil stieß selbst beim Kaiser auf Interesse, was ihm wegen seiner eher vermeintlich einflussreichen Position am Berliner Hof bekanntlich die spöttische Titulatur als „Hofdogmenlehrer“ oder „Salontheologe“ einbrachte.4

In diesem Umfeld lernte Harnack unter bizarren Umständen den „evangelist of race“ (Geoffrey C. Field) Houston Stewart Chamberlain kennen, dessen langjährige Korrespondenz mit Harnack Wolfram Kinzig nun ediert und einer detaillierten Analyse unterzieht. Kinzig knüpft damit an eine mittlerweile recht breit geführte Diskussion an, die sich den Einstellungen des kulturprotestantisch geprägten Bürgertums gegenüber dem Judentum widmet. Harnack wird hier vielfach wahrgenommen als ein gleichsam paradigmatischer Fall für „die protestantische Ideologie“ (Uriel Tal) des freien Christentums, dessen Ideal eines einheitlich christlich geprägten Kulturstaats sich letztlich folgenschwerer als lautstarke antisemitische Äußerungen auf die Marginalisierung der jüdischen Staatsbürger ausgewirkt habe. Zudem sei Harnack, obwohl er sich aufgrund seines christlichen Menschenbildes ablehnend zu einem rassenideologisch begründeten Antisemitismus äußerte, gegenüber dem zeitgenössischen Judentum der kollektiven Mentalität deutscher Gelehrter verhaftet geblieben und habe ein „Gefühl des Unbehagens“ (Wolfgang Heinrichs) nicht überwinden können.

Kinzig setzt dem die These entgegen, dass Harnack am Judentum schlechthin kein Interesse hatte (S. 204). Diese These steht besonders bei der Analyse des Briefwechsels mit Chamberlain im Vordergrund. Waren die ersten Begegnungen mit Chamberlain eher kühl, schlug diese Zurückhaltung in pure Begeisterung um, als Harnack im Herbst 1912 von Chamberlain dessen Goethe-Monografie erhielt. Harnack lobte die Einheitlichkeit der Gesamtdarstellung und konnte sich an dem „hohen Ton“ begeistern, mit dem Chamberlain den „elitären Goethe“ beschrieb; „Wie der angelus interpres […] stehen Sie vor dem dichterischen Olymp Goethes.“ (S. 218) Harnack stieß sich allerdings an den regelmäßigen antisemitischen Passagen in Chamberlains Darstellung und ließ den Bayreuther Populärphilosophen wissen, er sei „von einem antijüdischen Dämon besessen“ (S. 263). Harnack lehnte den Chamberlainschen Rassengedanken als unsinnige Spekulation ab, jedoch reichten seine Vorbehalte nicht so weit, das Gesamtwerk Chamberlains damit als disqualifiziert anzusehen: „der Jude soll nicht das letzte Wort haben“, schloss Harnack seine Ausführung ab (ebd.). Harnack konnte den Antisemitismus Chamberlains offenbar fast völlig ausblenden, was auch bei den von Kinzig untersuchten intensiven Kontakten Harnacks zu Adolf Stoecker und Johannes Müller auffällt.

Kinzigs Studie liefert in mehreren Durchgängen eine Gesamtschau über das Bild des Judentums, das Harnack in seinen wissenschaftlichen Publikationen entwarf. Den Ausgangspunkt dazu bildet eine ausführliche Rekonstruktion der Genese von Harnacks Marcionbild in biografischer Verankerung. Wie Harnack selbst bezeugte, hatte ihn Marcion, der seit seiner wohl um das Jahr 144 erfolgten konfliktreichen Trennung von der römischen Christengemeinde zum paradigmatischen Erzketzer stilisierte kleinasiatische Schiffseigner, seit seiner Studienzeit fasziniert. Harnack konnte 1870 als gerade 19-jähriger Theologiestudent mit der gelungenen Antwort auf eine Preisfrage der Dorpater Theologischen Fakultät glänzen, in der eine Darstellung der Theologie Marcions besonders auf der Grundlage von Quellenmaterial aus dem Werk des streitbaren lateinischen Kirchenschriftstellers Tertullian gefordert wurde. Bereits hier klang ansatzweise die Wahrnehmung von Marcion als „Reformator“ an, der „den wahren Paulus von Mißverständnissen durch die anderen Apostel und von judaisierenden Entstellungen der Urgemeinde reinigen wollte“ (S. 44), eine Perspektive, die, wie Kinzig herausarbeitet, Harnacks zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen zu Marcion durchzog und sich dabei radikalisierte. Im ‚Marcion’ von 1921 war dann das Bild des „ersten Protestanten“ ganz entfaltet, der auf „Simplifikation, Einheitlichkeit und Eindeutigkeit des Christlichen“ gedrungen hatte und in Ablehnung der Werkgerechtigkeit des Schöpfergottes den in der Predigt des inkarnierten Christus offenbarten ‚bonus deus’ als Verkörperung des Guten und der Liebe wiederentdeckte (S. 82f., 75, Zitate aus ‚Marcion’, 1921). Harnack löste Marcion aus dem bis dahin in der Marcion-Forschung für gültig gehaltenen Zusammenhang mit einem gnostizistischen Synkretismus ab, indem er ihn – als „der einzige selbständige religiöse Charakter, den wir vor Augustinus in der alten Kirche kennen“ (S. 67, Zitat aus ‚Lehrbuch der Dogmengeschichte’, 1. Aufl. 1886) – mit der Mission betraute, auf den paulinischen Gegensatz von Gott und Welt, Glaube und Werk, Evangelium und Gesetz zurückgegriffen und eben nicht einen rein spekulativen Dualismus erneuert zu haben.

Bereits diese sprachlichen Eintragungen aus der protestantisch-dogmatischen Tradition in die theologischen Auseinandersetzungen des 2. Jahrhunderts zeigen, wie sehr Harnacks Beschäftigung mit Marcion aus der persönlichen Problematik eines Gegenwartschristentums hervorgegangen war, wobei er das Judentum gleichsam nur noch als historische Größe wahrnahm. Harnack arbeitete an der Frage, ob mit Marcion nicht ein theologischer Prozess begonnen habe, der „mit einer Religionsform schließt, die allen historischen Inhalt entbehren zu können glaubt und mit dem Bewußtsein eines subjectiven Abhängigkeitsgefühl von Gott das wahre Wesen der Religion erreicht zu haben wähnt“ (S. 46, Zitat aus der Dorpater Preisarbeit). In der „Befreiung des Subjects“ und der „Wiederverinnerlichung des gläubigen Verhältnisses des Menschen zu Gott“ sah Harnack die Leistung Marcions und eine entscheidende Parallele zur Reformation Luthers; eine Perspektive, die er im Laufe seiner Auseinandersetzung mit Marcion ausbaute (S. 52). Harnack ging es hier vorrangig um eine Plausibilisierung des Christentums in der Moderne, das ihm vor allem als reines, unmittelbares Gottesbewusstsein erschien. Indem der von Marcion neu entdeckte ‚fremde Gott’ maßgeblich durch den christlichen Liebesgedanken bestimmt sei, habe er den „Gottesbegriff auf die höchste und auf die eindeutigste Formel gebracht“ (S. 88). In diesem Licht ist dann auch Harnacks Ablehnung des Alten Testaments zu sehen, dessen aktuelle Normativität er „für die Bestimmung dessen, was christlich ist“ (S. 98) bestritt, ohne ihm dabei die Bedeutung als christliches „Erbauungsbuch“ grundsätzlich abzusprechen. So zerschnitt Harnack auch nicht die Entwicklung des Christentums aus dem Judentum, sondern versuchte, etwa anhand der Negativfolie der Pharisäer, die Neuheit und Einheitlichkeit der religiösen Persönlichkeit Jesu in leuchtenden Farben zu malen.

Die Rezeption des ‚Marcion’ war allerdings durch diese Entwertung des Alten Testaments als Glaubensurkunde von Anfang an belastet. Im völkischen Lager und bei den späteren Deutschen Christen konnten Marcion und Harnack, etwa von dem ‚Deutschkirchler’ Friedrich Andersen, pauschal unter die Kronzeugen einer „Ausscheidung des Judentums aus dem Christentum“ gereiht werden (S. 125), wobei explizite Rückgriffe auf das Buch selten waren und eine detaillierte Auseinandersetzung mit Harnacks eigentlichem Anliegen schwerlich stattfand.

Harnacks historische Kenntnisse zum antiken Judentum nahmen sich, wie Kinzig im zweiten Teil seines Buches aufzeigt, seinen weit reichenden Urteilen gegenüber eher gering aus. Harnack informierte sich im Wesentlichen aus den umfangreichen Darstellungen von Julius Wellhausen und Emil Schürer, während er die Ergebnisse der Wissenschaft des Judentums nur sehr eingeschränkt zur Kenntnis nahm, von einer eigenständigen Bearbeitung rabbinischer Texte ganz zu schweigen. Persönliche Kontakte zu jüdischen Zeitgenossen hatte er außerhalb seines akademischen Berufsumfeldes nicht. Obwohl er mehrfach, etwa von Theodor Mommsen oder von Georg Gothein, um Äußerungen gebeten wurde, finden sich nur sehr wenige Stellungnahmen zum zeitgenössischen Antisemitismus. Hier nahm er dann zwar unmissverständlich Stellung gegen die Rassetheorien des völkischen Antisemitismus, stellte aber auch nicht in Abrede, dass es eine, wenn auch historisch gewachsene und begründbare, „Judenfrage“ gebe, zu deren Lösung er auf die Integrationskraft der christlich-liberalen Kultur und auf das Gebot zur Nächstenliebe, besonders aber auf seine fachliche Unzuständigkeit verwies.

Kinzigs Studie bieten einen dichten und quellenreichen Überblick über eine wichtige Facette von Harnacks Werk. Weiter zu problematisieren bleibt aber seine These, dass man „den Kirchenhistoriker dem Kulturprotestantismus nur bedingt zurechnen“ (S. 116) dürfe. Kann ferner in der Tat nicht von einer bewussten „Gesprächsverweigerung“ (Christian Wiese) gegenüber dem Judentum gesprochen werden (S. 300), so scheint die Erklärung von Harnacks Nicht-Verhalten dem Judentum gegenüber mit dem Verweis auf sein Desinteresse doch etwas zu kurz zu greifen. Immerhin sieht sich Harnack in seinem oben schon erwähnten Schreiben an Chamberlain zu der Bemerkung veranlasst, es sei „diesem Volk“ durch die Geschichte „furchtbar schwer gemacht worden, sich zu edler Menschlichkeit emporzufinden,“ obwohl er „schon jetzt […] mehrere Juden“ kenne, die ihm „auf verschiedenen Linien Ehrerbietung abnötigen. Wollen wir dem Volke doch hoffen, dass es vorwärts komme“. Lehnt er den Antisemitismus aufgrund eines protestantischen Humanitätsideals ab, wird hier eben dieses Kulturideal doch als Maßstab auf die Entwicklung des Judentums angewendet.

Anmerkungen:
1 Rieger, Paul, „Antisemitismus und Wissenschaft“, Im deutschen Reich 8 (1902), S. 473-480, 537-542, 538.
2 Zitate aus Harnack, Adolf, Das Wesen des Christentums, hg. u. komm. v. Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999, S. 84, 185.
3 Harnack, Marcion, Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, Leipzig 1921, S. 248f. (im Original hervorgehoben).
4 Zitiert bei Rebenich, Stefan, Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 540.