Dass in Bremen an einer Uferböschung des Flüßchens Ochtum ein alter – mit Stacheldraht bespannter – Schleppkahn als Konzentrationslager gedient hat, erfährt, wer den „Benz-Distel“ aufschlägt. Drei Bände des großen Werkes über die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager liegen nun vor. Auf ursprünglich sieben, mittlerweile neun Bücher, die in halbjährlichem Abstand bis zum Frühjahr 2009 im Verlag C.H. Beck erscheinen werden, ist die Gesamtgeschichte der Lager angelegt, die Wolfgang Benz und Barbara Distel initiiert haben. Das mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnete Herausgeberteam der „Dachauer Hefte“ treibt bereits seit Jahrzehnten die Forschung zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern voran. Im Zentrum des schon wegen seines schieren Umfangs eindrucksvollen Projekts steht die Topografie der Lager, genauer: der Umstand, dass die Nationalsozialisten Deutschland und das gesamte besetzte Europa flächendeckend mit einem Netz von Haftstätten überzogen haben. „Der Ort des Terrors“ heißt denn auch die mit Mitteln der Kulturstiftung des Bundes und des Auswärtigen Amtes geförderte Gesamtdarstellung der Lager.
Das Vorhaben ist ebenso mutig wie gewagt, denn es geht dem Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin und der Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau um nichts weniger als um die Sammlung sämtlicher Informationen über die insgesamt 24 Hauptlager und rund 1000 Außenlager des nationalsozialistischen Lagersystems. Eine Zusammenschau der Forschungsergebnisse ist projektiert, eine Bestandsaufnahme der Fakten und ihre Kollationierung zu einer Gesamtgeschichte. Dies ist zumal deshalb nicht einfach, weil trotz des in den letzten Jahren immens verbreiterten Forschungsstroms, über den selbst Experten kaum noch einen Überblick besitzen, auch große Lager noch nicht monographisch erforscht worden sind und mit Blick auf die Außenlager zudem reichlich blinde Flecken bestehen.1 Dass das Projekt, das ein Novum darstellt, gleichwohl gelingt, zeigen die bereits vorliegenden Bände, und schon jetzt lässt sich sagen, dass am Ende ein stupendes Nachschlagewerk vorliegen wird.2 Wer künftig wissen will, wo während des Dritten Reiches der Standort eines Lagers gewesen ist, wird nicht mühsam recherchieren müssen, sondern zu den Büchern greifen und rasch Antwort finden. Fachexpert/innen an Universitäten, Instituten und Gedenkstätten werden es den Herausgeber/innen zu danken wissen, aber auch Studierende, Schüler/innen und überhaupt die breite Öffentlichkeit, denn hier entsteht eine an Informations-, aber auch an Detailfülle kaum zu überbietende lexikalische Sammlung.
Die Chronologie der Entstehung der Lager gibt die Organisationsstruktur vor. Jedem Hauptlager sind sämtliche nachzuweisenden Außenlager zugeordnet, wobei ihre alphabetische Reihenfolge Entstehung und Ausbreitung weniger prägnant zum Vorschein bringt, als dies eine chronologische Ordnung wohl vermocht hätte. Der Auftaktband vermittelt einen Überblick über wichtige Themen der Forschung; mit Band 2, der ganz im Zeichen der Lagergründungen steht, setzt mit Blick auf die so genannten frühen Lager, Dachau und die Emslandlager die Schilderung der einzelnen Lagergeschichten ein. In Band 3 geht es um das 1936 errichtete Sachsenhausen und das im Jahr darauf erbaute Buchenwald. Band 4 behandelt die 1938 entstandenen Lager in Flossenbürg, Mauthausen und Ravensbrück. Im Krieg nahm die Zahl der Haftstätten zunächst an den Grenzen des Deutschen Reiches, schließlich überall in den eroberten Ländern abrupt zu, in der zweiten Kriegshälfte breiteten sich die Lager schließlich krakenartig über ganz Europa aus: Band 5 untersucht Hinzert, Auschwitz und Neuengamme, in Band 6 folgen Stutthof, Groß-Rosen und Natzweiler, Band 7 behandelt Wewelsburg, Majdanek, Arbeitsdorf, Herzogenbusch/Vught, Bergen-Belsen und Dora-Mittelbau. Band 8 beleuchtet mit Riga, Warschau, Kaunas, Vaivara, Plaszów und Klooga nicht nur Konzentrationslager, sondern richtet den Blick zudem auf die ausschließlich zum Zweck der Massenvernichtung der Juden errichteten „Lager“ Chelmno, Belzec, Treblinka und Sobibor. Der Abschlussband nimmt eine Reihe weiterer Lagertypen in den Blick, die nicht zur Kategorie der Konzentrationslager zählten. Darunter fallen die kleine Festung Theresienstadt, aber auch so genannte Jugendschutzlager, Arbeitserziehungslager, Polizeidurchgangslager, Gestapohaftlager sowie die Haftstätten von Jasenovac und Maly Trostinez.
Der erste Band über Struktur und System der Lager bildet das wissenschaftliche Fundament der Reihe. Nicht um eine Präsentation neuer Fakten geht es in den knapp zwei Dutzend, von ausgewiesenen Experten verfassten Aufsätzen, sondern um eine Zusammenschau wichtiger, konzeptionell ganz unterschiedlicher (von den meisten Autoren bereits monografisch untersuchter) Aspekte der Forschung. Inhaltliche Überschneidungen und Redundanzen sind bei einem so komplexen Gegenstand kaum zu vermeiden. Schließlich wird ein Haftsystem untersucht, unter dem nicht weniger als zwei Millionen Menschen gelitten haben. Etwa 800.000 bis 900.000 von ihnen sind durch Gewalt und Willkür ums Leben gekommen oder an Hunger und Seuchen gestorben – die Unzähligen nicht eingerechnet, die in den Vernichtungslagern gar nicht erst in die Registratur der SS aufgenommen worden sind. Ein Thema – das gesellschaftliche Umfeld der Lager und ihre „Öffentlichkeit“ – bleibt allerdings ausgespart. Dies ist bedauerlich, denn die Lager breiteten sich nicht nur über weite geographische Räume aus, sondern drangen auch tief in die Lebenswelt der deutschen Bevölkerung ein.
Wolfgang Benz zeigt, dass die Lager einen „unübersichtlichen Kosmos“ bildeten, denn neben den Konzentrationlagern (deren Merkmal die administrative Unterstellung unter die so genannte Inspektion der Konzentrationslager, ab 1942 die Amtsgruppe D des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes war) gab es viele andere, jeweils eigenen Verwaltungsstrukturen zugeordnete Lagertypen, hier kurz „Zwangslager“ genannt. Angelika Königseder, in deren Händen die Gesamtredaktion der Bände liegt, beschreibt die Entwicklung des Lagersystems und skizziert, indem sie eine schon von Martin Broszat herausgearbeitete und seither oftmals bestätigte grundlegende Erkenntnis aufnimmt, den mehrmaligen Funktionswandel, dem die Lager unterworfen waren.3 Mit der Organisationsgeschichte der frühen Lager setzt sich Johannes Tuchel auseinander. Günter Morsch beleuchtet die Verwaltungsstruktur, die Theodor Eicke als Inspekteur der Konzentrationslager einheitlich etablierte. Michael P. Hensle zeigt, wie rasch unmittelbar nach der so genannten Reichstagsbrandverordnung die „Verrechtlichung des Unrechts“ fortschritt.
Den Blick in das Innere der Lager eröffnet Annette Eberle, die in einer systematischen Analyse prägnant, differenziert und anhand anschaulicher Tabellen die Bedeutung der (erst ab 1937/38 standardisierten) Häftlingskategorisierung untersucht. Gleich im Anschluss gibt Kurt Pätzolds Versuch über die „Häftlingsgesellschaft“ allerdings Rätsel auf. Denn der Autor spart die intensive Forschungsdiskussion über die Rolle der „roten Kapos“ aus; mit leichter Hand attestiert er zudem den so genannten kriminellen Häftlingen „mafiaähnliche Strukturen“ und meint, Neues zu bieten, wenn er den SS-Begriff „Häftlingsselbstverwaltung“ euphemistisch nennt. Weitaus klarer nimmt Detlef Garbe unter dem Titel „Selbstbehauptung und Widerstand“ die so genannte Häftlingsgesellschaft in den Blick. Mit den Kategorien Selbsthilfe, Solidarität, Verweigerung und Gegenwehr stellt er überdies wichtige Analysekriterien zur Diskussion. Dass Strukturveränderungen in der SS-Wachtruppe keineswegs die Überlebenschancen der Häftlinge verbesserten, führt Karin Orth aus. Sie konturiert den Kommandanturstab der Lager als „Kerntruppe des Terrors“ und richtet den Blick auf das „soziale Netz der Konzentrationslager-SS“. Jan-Erik Schulte stellt den engen Zusammenhang zwischen der (den ökonomischen Erfordernissen der Kriegswirtschaft geschuldeten) Expansion des Lagersystems und dem gleichzeitigen Ausbau der Verwaltungs- und Wirtschaftsorganisationen der SS dar. Die Radikalisierungsschübe, die mit den drei systematischen Masseneinweisungen in die Konzentrationslager einhergingen, der „Aktion Arbeitsscheu Reich“, den Novemberpogromen und der noch kaum erforschten „Aktion Gewitter“, untersucht Stefanie Schüler-Springorum.
Den medizinischen Experimenten (Rolf Winau), der Zwangsarbeit (Hermann Kaienburg) und den Frauen, die als Insassen, aber auch als Bewacherinnen in den Lagern waren (Barbara Distel), sind ebenfalls Beiträge gewidmet. Mit den Lagern als Tötungsstätten beschäftigt sich Wolfgang Dreßen. Brigitte Kepplinger und Hartmut Reese handeln das unter dem Verwaltungskürzel „14f13“ in die Lager verlegte Euthanasiemordprogramm ebenfalls ab. Einen verhältnismäßig neuen Aspekt thematisiert Stefanie Endlich, die sich mit der Architektur der Lager befasst. Sie zeigt, wie stark Kontrolle, Willkür und Einschüchterung schon in der baulichen Anlage verwirklicht waren, aber auch, wie seit Kriegsbeginn Überfüllung und Infrastrukturmängel Abstriche an den Planungen erforderten. In einem Beitrag über Häftlingskunst skizziert sie künstlerische Betätigung im Lager als Überlebensstrategie der Insassen. Daniel Blatman zeigt in seinen Ausführungen über die Phase der so genannten Evakuierung der Lager, dass noch reichlich Potential für künftige Forschungen besteht.
Um die Befreiung der Lager und die Reaktion der Weltöffentlichkeit geht es Robert H. Abzug und Juliane Wetzel in ihrem gemeinsam verfassten Beitrag. Jürgen Zarusky liefert in einer konzisen Zusammenschau, die von den frühesten alliierten Militärgerichtsverfahren bis zum Majdanek-Prozess reicht, eine ebenso pointierte wie ernüchternde Bilanz der juristischen Aufarbeitung der Konzentrationslager-Verbrechen. Um literarische Quellen der Lagerforschung geht es bei Mona Körte, die sich mit autobiografischen Berichten von Häftlingen auseinandersetzt. Jürgen Matthäus, der Leiter der Forschungsabteilung des US-Holocaust Memorial Museum in Washington D.C., beklagt die zersplitterte und unübersichtliche Archivsituation, mit der sich NS-Forscher/innen in Deutschland offenbar abzufinden haben. Gerade in Amerika geriet unlängst das Archiv des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes in Bad Arolsen in die Kritik. Für die Geschichte der nationalsozialistischen Lager ist Arolsen eine Schlüsselinstitution, denn dort lagern nicht nur nach Kilometern zählende Akten speziell über die Opfer des NS-Regimes, sondern auch Originaldokumente aus vielen Lagern, darunter die Häftlingskarteien von Buchenwald und Dachau. Dass das Archiv in Arolsen der Wissenschaft noch bis vor kurzem verschlossen gewesen war, obwohl Historiker/innen hierzulande schon seit Jahren massiv für die Öffnung eingetreten sind, ist ein international zu Recht angeprangerter – mittlerweile endlich Folgen zeitigender – Skandal. Die Bände schließen jedoch bereits ein, was das Archiv von Arolsen an einschlägiger Information birgt, denn zu den insgesamt jeweils über 70 Autor/innen, die die Herausgeber/innen für die Bände 2 und 3 verpflichtet haben, zählt auch der dortige Direktor Charles-Claude Biedermann.4
Ohne die Mitwirkung einer Phalanx von Archivar/innen, Historiker/innen, Museumsfachleuten, Ortschronist/innen, Kreisheimatpfleger/innen, Mitarbeiter/innen an Gedenkstätten, Lehrer/innen, freiberuflichen Publizist/innen und fortgeschrittenen Studierenden wäre die Gesamtgeschichte der Lager ohne Zweifel nicht zu schreiben. Die Quellen- und Literaturverzeichnisse zeigen, dass die Verfasser/innen eine Fülle an Lokal- und Regionalforschungen ausgewertet haben, publizierte Schriften ebenso wie unveröffentlichte Dokumente. Dies zu eruieren, bleibt allerdings den Leser/innen überlassen, denn in den wortkargen Einleitungen werden die Quellen weder skizziert noch einer quellenkritischen Betrachtung unterzogen, was gerade mit Blick auf die reichlich genutzten Unterlagen der nach Kriegsende initiierten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Bedienstete der Lager erforderlich gewesen wäre. Die Leser/innen erfahren auch nicht, nach welchen konzeptionellen Aspekten die Autor/innen die Geschichte der Lager rekonstruieren. Erst aus der vergleichenden Lektüre der jeweils etwa 50 Seiten langen Artikel über die Hauptlager und der je nach Bedeutung und Überlieferungsstand von wenigen Zeilen bis zu vier Seiten reichenden Abhandlungen über die Außenlager lassen sich die Kriterien ermitteln. Diese sind: Daten und Organisation der Lager, Zusammensetzung und Lebensbedingungen der Häftlinge, außerdem Zwangsarbeit, Strafensystem, Bewachung und Widerstand, schließlich Befreiung und Auflösung der Lager, und am Ende geht es um die Gedenkstätten beziehungsweise privat initiierte Formen der Erinnerung.
Die chronologische Rekonstruktion der Geschichte der Lager setzt im zweiten Band mit den „frühen“ Haftstätten ein. Insgesamt 85 werden gelistet, auffallend viele entstanden in Thüringen, Sachsen, Berlin und Brandenburg.5 Oftmals existierten sie nur wenige Wochen lang – wie das im thüringischen Nohra, wo am 3. März 1933 in einer Militärschule das erste Konzentrationslager des Dritten Reiches eingerichtet wurde.6 Andere entstanden beispielsweise in stillgelegten Fabriken, in Gefängnissen, auf einstigen Rittergütern, in Turnhallen – und wie in Bremen auf einem Schleppkahn. Die Lager waren anfangs das Aktionsfeld von SA und SS, aber auch die Polizei, die staatliche Verwaltung und kommunale Träger beteiligten sich an der Ausschaltung politischer Gegner des Regimes. Dachau war das erste von der SS geführte Konzentrationslager. Seine Bedeutung lag nicht nur darin, dass es am längsten von allen bestand, sondern auch in der Vorbildfunktion, die es bis zur Errichtung von Sachsenhausen innehatte; den Begriff „Dachauer Modell“ hat Martin Broszat Mitte der sechziger Jahre geprägt. Souverän entfaltet Stanislav Zámečník die Geschichte des Stammlagers. Der Historiker ist ein Überlebender von Dachau und hat erst vor wenigen Jahren die (einzige) monografische Studie über die Lagergeschichte vorgelegt. Barbara Distel schlägt den zeitlichen Bogen bis in die Gegenwart, indem sie die Nachkriegsgeschichte des Geländes und die Entstehung der Gedenkstätte bis zu ihrer Neukonzeption schildert.
Dass ganz Oberbayern von einem Netz von Außenlagern überzogen war, die der Verwaltung des Stammlagers unterstanden, ist bekannt. Bei zahlreichen Dienststellen der SS, der NSDAP, auch bei der Reichsbahn, bei kommunalen Behörden und nicht zuletzt in den Privathäusern höchster Funktionäre des NS-Staates hatten Dachauer Lagerinsassen Instandsetzungsarbeiten und andere Dienstleistungen auszuführen. In Kaufering und Mühldorf entstanden schließlich große Außenlagerkomplexe, wo Zehntausende unter mörderischen Verhältnissen Zwangsarbeit in Diensten der Kriegswirtschaft leisten mussten. Von der zweiten Kriegshälfte an verzichtete nicht nur nicht die Großindustrie, sondern auch kaum ein mittelständisches Unternehmen der näheren Umgebung auf die billige Arbeitskraft der Häftlinge. Eine Übersicht über die insgesamt 136 Dachauer Haftstätten fehlte aber bislang ebenso wie gründliche Informationen über die einzelnen Orte.7 Diese Lücke schließt der zweite Band, der auf fast 250 Seiten (begleitet von informativen Karten und über Register gut erschlossen) das weitverzweigte Dachauer Netzwerk präsentiert. Gezeigt wird beispielsweise, daß im letzten Kriegsjahr selbst im heutigen Polen ein Außenlager bestand, was neu und damit zu erklären ist, dass ein Berliner Musikverlag von einem Dachauer Häftling sein im damaligen Woxfelde östlich der Oder gelegenes Notenarchiv sortieren ließ. Dies ist freilich ein Befund, der die skurrilen Seiten wissenschaftlicher Systematisieung zeigt, deren Aufwand manchen SS-Funktionär charmieren würde.
Während Dachau in der Hand der SS lag, war für den im Emsland entstandenen Lagerkomplex anfangs das preußische Innenministerium zuständig. Amtschef Hermann Göring ließ in Börgermoor, Esterwegen und Neusustrum, einem Moorgebiet im Nordosten des Reiches, Häftlingsbaracken errichten, um in Konkurrenz zu Himmlers SS eine eigene Form staatlicher Gegnerbekämpfung zu etablieren. Verwaltung und Justiz spielten im Emsland eine führende Rolle, ehe nach etwa einem Jahr die SS schließlich auch dort das Kommando übernahm. Habbo Knoch konturiert die Ereignisse der Frühphase überzeugend als prototypisch für die internen Spannungen in den NS-Herrschaftszirkeln. Allerdings unterzieht er die nach 1936 einsetzende Ausweitung zum weiträumigen, auf viele Orte verteilten Lagerkomplex nur einer kursorischen Betrachtung, weshalb die Geschichte der Straf- und Kriegsgefangenenlager im Emsland recht kurz ausfällt.
Der Bau von Sachsenhausen im Jahr von Himmlers Ernennung zum Chef der deutschen Polizei bildete den Auftakt zur Funktionsausweitung und zentralen Organisierung der Konzentrationslager. Denn das als „neuzeitlich“ und „modern“ ausgegebene Sachsenhausen, das der Reichsführer SS erbauen ließ, als er sein Agitationszentrum von München nach Berlin verlegte, war nicht nur das „Konzentrationslager der Reichshauptstadt“, sondern auch die neue Verwaltungszentrale und fortan das Vorbild der Lager. Hermann Kaienburg stellt die (bislang nicht monografisch untersuchte) Geschichte von Sachsenhausen im dritten Band dar und vernachlässigt auch die Phase nicht, als das Areal nach Kriegsende sowjetisches Speziallager wurde. Mindestens 85 Außenlager gehörten zu Sachsenhausen, besonders wichtig war jenes in Berlin-Lichterfelde, dem gleich einige Dutzend so genannte Außenkommandos unterstanden. Wie präsent die Häftlinge im Alltag Berlins gewesen sind, führt der Band eindrucksvoll vor Augen. Häftlings-Außenkommandos waren nicht nur in den staatlichen Ministerien und den Dienststellen der SS, sondern auch an vielen Stellen der Stadt tätig, beispielsweise immer dann, wenn nach Bombenangriffen Aufräumarbeiten zu leisten waren. Zu den Orten solcher Einsätze zählte auch das Hotel Adlon.
Zum Lagernetz von Buchenwald gehörten rund 130 Außenlager. Im Westen reichten sie nicht nur bis Duisburg, sondern fast bis an den Atlantik, da Lager im besetzten Frankreich und im eroberten Belgien ebenfalls dazuzählten. Ganz im Osten bildete Lauenburg bei Gdingen nahe der Danziger Bucht den äußerten Außenposten von Buchenwald. Jedes Außenlager wird im dritten Band ausführlich beschrieben. Harry Stein schildert zudem die komplexe Geschichte des Stammlagers von der Standortwahl bis zu den Nachkriegsprozessen und bezieht auch das spätere sowjetische Speziallager ein.
Im Ergebnis bleibt festzuhalten: Während die Geschichte der Hauptlager bereits weitgehend bekannt ist, wurden die Außenlager der großen KZ-Anlagen noch nicht in ähnlicher Dichte, Systematik und Gründlichkeit erforscht. In der dargebotenen Informationsfülle, im gebündelt vermittelten Faktenreichtum und nicht zuletzt in der Präsentation mancher (kurioser) neuer Details liegen Stärke und Verdienst des Werkes von Wolfgang Benz und Barbara Distel. Die Bände wollen keine neue Perspektive auf die Geschichte der NS-Lager eröffnen. Aber sie profilieren durch die akribische Rekonstruktion der Geschichte der einzelnen Stätten die Komplexität des Lagersystems. Über Konzeption, Zielsetzung und Motivation ihres Unternehmens äußern sich die Herausgeber allerdings denkbar knapp; gerade einmal zweieinhalb Seiten füllt die Einleitung des Auftaktbandes. In der Kürze erschließt sich nicht, was genau gemeint ist, wenn das Werk als „sinnstiftendes Projekt“ in der erinnerungspolitischen Debatte akzentuiert wird. Allem Anschein nach ist es als Gegengewicht zu dem als faktenfern und moralisierend empfundenen öffentlichen Diskurs über die NS-Zeit intendiert. Memoriale und Rituale werden denn auch als „emotionale und künstlerische Manifestation der Erinnerung“ bezeichnet, die es um die gesicherte Information zu ergänzen gelte.8 Aber will das große Werk tatsächlich nur eine Ergänzung sein? Und hätte es ohne den öffentlichen Diskurs, von dem es sich distanziert, eine Bedeutung?
Dass die (komplexe) Historiographiegeschichte der Konzentrationslagerforschung nicht dargestellt werden kann, versteht sich; warum jedoch ist selbst für eine Skizze kein Platz und nicht einmal für einen Hinweis auf den Zusammenhang, in dem das Projekt mit einer zweiten, mittlerweile schon sechs Bände starken Reihe der Herausgeber steht, die seit 2001 unter dem Titel „Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945“ im Metropol-Verlag erscheint? Allein vier dieser Bände beschäftigen sich mit den so genannten frühen Lagern.9 Wer die Bücher zur Hand nimmt, erkennt, dass der „Ort des Terrors“ einen breiten Adressatenkreis anspricht, während die Metropol-Reihe vertiefende, eher an ein Fachpublikum gerichtete Darstellungen (derselben Autoren) versammelt. Die Bezüge werden allerdings nicht erläutert, und dass Johannes Tuchels Aufsatz wortgleich in der einen wie der anderen Reihe erscheint, verwundert nicht minder.10
Noch eine andere Fehlstelle sticht dem ins Auge, der meint, dass ein solches Großprojekt nicht ganz auf eine historiographische Selbstverortung verzichten sollte: In den sechziger Jahren ist schon einmal ein großes Forschungsprojekt zur Geschichte der Lager initiiert worden. Martin Broszat hatte 1965 im Rahmen seiner Gutachtertätigkeit für den Auschwitz-Prozess die erste zeitgeschichtliche Darstellung des nationalsozialistischen Lagersystems vorgelegt (die bis weit in die neunziger Jahre auch die einzige blieb und noch heute grundlegend ist).11 An sein Gutachten anknüpfend hat Broszat damals ein umfassendes Forschungsvorhaben mit dem Ziel initiiert, die „wichtigsten Entwicklungen, Daten, Zahlen der Geschichte sämtlicher Konzentrationslager im Dritten Reich“ zu untersuchen.12 Sein Vorstoß war deshalb bedeutsam, weil die Zeitgeschichtswissenschaft bis dahin kaum Forschungswillen gezeigt und das Thema so gut wie ignoriert hatte.13 Dass die Ergebnisse am Ende in einen schmalen Sammelband passten, lag am damaligen, von Broszat selbst für „durchaus ungenügend“ befundenen Forschungsstand.14 Seine Idee hatte aber an Aktualität allem Anschein nach nichts verloren, als Wolfgang Benz und Barbara Distel sich an die Arbeit machten, und schon deshalb irritiert es, dass sein Name fehlt.
Zu wünschen ist, dass das Werk der beiden Herausgeber zur neuen, intensiven Beschäftigung mit den vielen Facetten der Geschichte der nationalsozialistischen Lager herausfordern wird. Denn eine „Gesamtgeschichte“ der Lager im Sinne einer differenzierten strukturgeschichtlichen Analyse muss nach wie vor erst noch geschrieben werden. Die Bände liefern ohne Zweifel das Material dafür.
Anmerkungen:
1 Grundlegend: Herbert, Ulrich; Orth, Karin; Dieckmann, Christoph, Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Geschichte, Erinnerung, Forschung, in: dies. (Hgg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur. 2 Bde., Göttingen 1998, S. 16-40. Knapp 1000 selbständige Publikationen zum Thema kamen in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahren auf den Markt: vgl. Ruck, Michael, Bibliographie zum Nationalsozialismus. 2 Bde. inkl. CD-Rom, Darmstadt 2000. Zur jüngsten Zusammenschau der Forschung: Wachsmann, Nikolaus, Looking into the Abyss: Historians and the Nazi Concentration Camps, in: European History Quarterly, Bd. 36, Heft 2/2006, S. 247-278.
2 Das US-Holocaust Memorial Museum arbeitet gegenwärtig an einem ähnlichen Vorhaben. Unter der Leitung von Geoffrey Megargee entsteht dort eine (voraussichtlich siebenbändige) Enzyklopädie der Lager und Ghettos im Dritten Reich mit dem Titel „Encyclopedic History of Camps and Ghettos in Nazi Germany and Nazi-dominated Territories, 1933-1945“, vgl. <www.ushmm.org/research/center/encyclopedia>.
3 Vgl. ihre Forschungsskizze: Königseder, Angelika, Der Ort des Terrors. Bericht über das Projekt einer Geschichte aller nationalsozialistischen Konzentrationslager, in: Dachauer Hefte, Heft 21 (2005), S. 272-282.
4 Sein Name fehlt allerdings im Autor/innenverzeichnis von Band 2; von ihm stammt darin beispielsweise der Beitrag über Woxfelde auf S. 529.
5 Auf dem Einband wird allerdings die Zahl 93 genannt.
6 Auf dem Gelände wurde 1988 eine Gedenktafel angebracht, nach dem Fall der Mauer aber wieder entfernt. Heute erinnert nichts mehr an das erste Konzentrationslager des Dritten Reiches, vgl.: Benz, Wolfgang; Distel Barbara (Hgg.), Ort des Terrors, Bd. 2, S. 174ff.
7 Dagegen wird auf dem Einband die Zahl 152 genannt.
8 Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hgg.), Ort des Terrors, Band 1, S. 9.
9 Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hgg.), Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945. Bd. 1: Terror ohne System. Die ersten Konzentrationslager im Nationalsozialismus 1933-1935, Berlin 2001. Bd. 2: Herrschaft und Gewalt. Frühe Konzentrationslager 1933-1939, Berlin 2002. Bd. 3: Instrumentarium der Macht. Frühe Konzentrationslager 1933-1937, Berlin 2003. Bd. 4: Björn Kooger: Rüstung unter Tage. Die Untertageverlagerung von Rüstungsbetrieben und der Einsatz von KZ-Häftlingen in Beendorf und Morsleben, Berlin 2004. Bd. 5: Terror im Westen. Nationalsozialistische Lager in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg 1940-1945, Berlin 2004. Bd. 6: Carina Baganz: Erziehung zur „Volksgemeinschaft“? Die frühen Konzentrationslager in Sachsen 1933-34/37, Berlin 2005.
10 Tuchel, Johannes, Organisationsgeschichte, in: Benz, Wolfgang; Distel, Barbara (Hgg.), Geschichte der Konzentrationslager 1933-1945, Bd. 1, S. 9-26; dies. (Hgg.), Ort des Terrors, Bd. 1, S. 43-57.
11 Broszat, Martin, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945, in: Buchheim, Hans, Anatomie des SS-Staates, München 1994. Vgl. jetzt: Orth, Karin, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Zürich 2002.
12 Broszat, Martin, Studien zur Geschichte der Konzentrationslager, Stuttgart 1970, S. 7.
13 Die Geschichte der nationalsozialistischen Lager zu schreiben war lange Zeit ausschließlich Sache der ehemaligen Häftlinge, vgl: Kogon, Eugen, Der SS-Staat. Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Frankfurt 1946 und: Adler, Hans Günther, Theresienstadt. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Tübingen 1955. Der erste Historiker, der zum Thema forschte, war: Kolb, Eberhard, Bergen-Belsen. Geschichte des „Aufenthaltslagers“ 1943-1945, Hannover 1962.
14 Broszat, Studien, 1970; der Band versammelt Fallstudien über sechs Lager im Altreichsgebiet: Fuhlsbüttel, Neuengamme, Mauthausen, Ravensbrück, Bergen-Belsen und Dora-Mittelbau.