Demokratien haben mit Gewalt ein Problem. Sie versuchen Gewalt zu vermeiden und sie aus dem Alltag zu verbannen. Sie setzen auf Überzeugung statt auf Erzwingung, auf Kooperation und auf Wettbewerb. Demokratien fürchten Gewalt – so sehr, dass man manchmal das Gefühl hat, Gewalt würde zu einer fixen Idee. Zugleich sind sie von der Gewalt fasziniert. Gewalt ist in Demokratien ständig präsent, ob in Filmen oder als Gegenstand hitziger Debatten. Vielleicht ist es mit der Gewalt in Demokratien so wie mit dem Sex im viktorianischen Zeitalter: Sie fasziniert, gerade weil sie verboten ist.
Der britische Politikwissenschaftler John Keane, international bekannt als Theoretiker der Zivilgesellschaft, hat einen wunderbaren Essay zu diesem schwierigen Verhältnis zwischen der Demokratie und der Gewalt geschrieben. Sein Vorbild dabei dürfte Hannah Arendts Buch über Macht und Gewalt 1 gewesen sein – sowohl stilistisch als auch in Bezug auf die politiktheoretischen Überzeugungen, die Arendt ihrer berühmten Unterscheidung von Macht und Gewalt zugrunde legte. Wie Arendt formuliert Keane seine Thesen zum Verhältnis von Gewalt und Demokratie auf der Grundlage einer politischen Theorie, die demokratische Politik als gemeinsames Handeln auf der Basis von Verschiedenheit auffasst. „Democracies (ideally conceived) are policies which cultivate a dynamic plurality of more or less equal forms of life that can be held publicly accountable to others thanks to citizens’ access to institutions like independent communications media, periodic elections and a vibrant civil society“ (S. 133). Und wie Arendt plädiert Keane letztlich dafür, dass das Verhältnis von Gewalt und Demokratie in Demokratien nicht einfach entschieden werden kann – das widerspräche gerade der Essenz eines demokratischen Gemeinwesens. Vielmehr ist an der prekären Stelle der Entscheidung darüber, ob Demokratien Gewalt anwenden oder der Gewaltanwendung stattgeben können, die Urteilskraft jedes Bürgers gefragt – eine Urteilskraft, die sich aber nur in der Pluralität von Meinungen und Interessen, nur in einer lebendigen Diskussion um zentrale Fragen des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, kurz: in einer Zivilgesellschaft entfalten kann.
Keane bevorzugt dabei einen engen sozialwissenschaftlichen Gewaltbegriff, der ohne große normative Unterstellungen auskommt. Gewalt ist demnach eine wenigstens halbintentionale Handlung, die gegen den Körper eines anderen gerichtet ist und beim anderen physische und psychische Schäden hinterlassen kann. Keane optiert damit sowohl gegen eine Ausweitung des Gewaltbegriffs, wie wir sie bei Galtungs Konzept der strukturellen Gewalt 2 finden, als auch gegen eine phänomenologische Analyse des Gewalthandelns, wie sie im deutschen Sprachraum etwa von Wolfgang Sofsky bekannt ist 3. Statt dessen geht er der Frage nach, welche Bedeutung Gewalt in Demokratien hat und wie sich Demokratien vor Gewalt schützen können.
Die Perspektive, aus der Keane argumentiert, lässt sich zugleich als normativ und – im Sinne Rortys – als ironisch bezeichnen 4. Zum einen will Keane selbst einen Beitrag zur Aufklärung des Diskurses über Gewalt in demokratischen Gesellschaften liefern. Insofern ist das Buch in normativer Absicht geschrieben. Es geht Keane um eine Stärkung zivilgesellschaftlicher Kräfte auch und gerade bei der Frage, welche Rolle Gewalt in Demokratien spielt. Zum anderen distanziert sich Keane von allen essentialistischen Auffassungen, etwa der, dass Gewalt zu den Wesenseigenschaften von Menschen gehört. Für Demokratien, so Keane, sind solche Auffassungen unverträglich. Vielmehr müsse jede zivilgesellschaftliche Debatte über Gewalt davon ausgehen, dass Gewalt soziale Ursachen hat und ihre Entstehung damit kontingent ist und letztlich verhindert werden kann. Mit anderen Worten: Die Zivilgesellschaft muss kontrafaktisch an eine gewaltfreie Welt glauben, selbst wenn wir empirisch davon überzeugt sind, dass eine solche Welt unerreichbar ist.
Das Buch lebt vor diesem Hintergrund weitestgehend von einer Spannung zwischen Keanes These, Gewalt sei kontingent, und seiner Analyse des komplizierten Verhältnisses von Demokratie und Gewalt. Gerade weil diese Beziehung alles andere als einfach ist und weil Keane trotzdem an der (regulativen) Idee der Zivilität, d.h. der Gewaltfreiheit festhält, überzeugt eine solche zivilgesellschaftliche Perspektive der makrosozialwissenschaftlichen Gewaltforschung.
Keane entfaltet im Wesentlichen sechs Thesen zum Zusammenhang von Gewalt und Demokratie: Erstens verträgt Demokratie keine Gewalt. Jede Gewaltanwendung ist für Demokratien gefährlich, was natürlich nicht heißt, das sie unter bestimmten Bedingungen nicht überlebensnotwendig sein kann. Zweitens sind Demokratien heute durch drei zentrale Gewaltformen herausgefordert: durch globalen Terrorismus, durch die nukleare Anarchie und durch Bürgerkriege, die sogenannten „uncivil wars“ (S. 109), die Keane eingehend analysiert. Drittens haben Demokratien dazu beigetragen, den Gewaltbegriff als solchen zu demokratisieren, d.h. es findet in Demokratien eine ständige Debatte darüber statt, was unter Gewalt zu verstehen und was als Gewalt zu bezeichnen ist. Keane selbst liefert mit seinem Essay einen Beitrag zu dieser Debatte und verkörpert somit selbst Zivilgesellschaft. Viertens sind Demokratien strukturell und historisch fragil und anfällig für Gewalt. Keane zeichnet dies unter anderem in einer Auseinandersetzung mit Elias’ Zivilisationstheorie und der War-makes-state-These von Tilly nach 5. Fünftens hat, wie schon erwähnt, Gewalt immer soziale Ursachen und Demokratien sollten sich deshalb für die Beseitigung dieser Ursachen einsetzen. Und sechstens hilft aus dem Dilemma, in dem Demokratien angesichts der unter bestimmten Bedingungen notwendigen Gewaltanwendung stecken, nichts anderes weiter als die Urteilskraft jedes einzelnen, die einer lebendigen Zivilgesellschaft bedarf.
Vor dem Hintergrund dieser Thesen entwickelt Keane abschließend ein Zehn-Punkte-Programm, das helfen soll, die Beziehung zwischen Demokratie und Gewalt aufzuklären und das als Reflexionsinstrument gedacht ist, um in konkreten Entscheidungen Hilfestellung zu bekommen. Dieses Instrument ersetzt freilich nicht die zivilgesellschaftliche Debatte um das Verhältnis zur Gewalt. Die Pointe des Buches besteht ja gerade darin zu zeigen, dass dieses Verhältnis in Demokratien eben nicht ein für alle mal entscheidbar ist, sondern dass Demokratien Bedingungen bereitstellen müssen, eine offene und pluralistische Diskussion über das Verhältnis zur Gewalt zu ermöglichen. Gewalt ist aber selbst der größte Feind einer solchen Offenheit, weshalb Demokratien Keane zufolge mit jeder Gewaltanwendung ein Risiko eingehen.
Das alles erinnert natürlich an Habermas. Aber anders als bei Habermas gibt es bei Keane nichts jenseits der Kontingenz sozialer Beziehungen. Es gibt keine idealisierten Bedingungen, sondern nur Entscheidungsdilemmata und Paradoxien, die für Demokratien charakteristisch sind. Kein quasi-transzendentales Prinzip hilft hier weiter. Demokratien sind selbstgefährdende Einrichtungen, für deren Weiterbestand sich die Bürgerinnen und Bürger engagieren müssen und für die sie verantwortlich sind. Nichts garantiert, dass Demokratien von der Gewalt aufgezehrt werden, die sie ausüben müssen, um nicht durch ein Übermaß an Toleranz gegenüber ihren Feinden unterzugehen. Keane ist hier Bauman und Derrida näher als er selbst es vielleicht denkt. Zurecht zitiert er zum Schluss Nietzsches Bonmot, dass derjenige, der gegen Monster kämpft, unter der Hand selbst zum Monster werden kann. Dagegen hilft nur eines: eine aktive, monsterfreie Zivilgesellschaft – mit Büchern, wie diesem.
1 Vgl. Arendt, Hannah, Macht und Gewalt, München 1970.
2 Vgl. Galtung, Johan, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek 1975.
3 Sofsky, Wolfgang, Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996; vgl. für einen Überblick Imbusch, Peter, Der Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer; Johan Hagan (Hg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 26-57.
4 Vgl. Bonacker, Thorsten; Brodocz, André; Noetzel, Thomas (Hg.), Die Ironie der Politik. Zur Konstruktion politischer Wirklichkeiten, Frankfurt am Main; New York 2003.
5 Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bände, Frankfurt am Main 1976; Tilly, Charles, War Making and State Making as Organized Crimes, in: Evans, Peter B. u.a. (Hg.), Bringing the State Back in, New York, S. 169-191.