S. Kitson: Vichy et la chasse aux espions nazis 1940-1942

Cover
Titel
Vichy et la chasse aux espions nazis 1940-1942. Complexitès de la politique de collaboration


Autor(en)
Kitson, Simon
Reihe
Collection Mémoires 110
Erschienen
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
EUR 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Moisel, Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München

Die wissenschaftliche Erforschung des Vichy-Regimes, die 1972 mit der bahnbrechenden Studie des amerikanischen Historikers Robert Paxton einsetzte 1, hat in der französischen Zeitgeschichtsforschung noch immer Hochkonjunktur. Dass tatsächlich über die “années noires” noch nicht alles gesagt ist, belegt jetzt auch die Studie des englischen Historikers Simon Kitson, in den Jahren 2000/01 Gastforscher am renommierten Institut d’histoire du temps présent. Er beleuchtet ein bislang wenig bekanntes Kapitel aus der Geschichte des Vichy-Regimes: die “Jagd auf Nazi-Spione”.

Rund 2.000 Agenten, die südlich der Demarkationslinie im Auftrag der Deutschen tätig waren, wurden in den Jahren 1940 bis 1942 von den Polizeikräften der Regierung Pétain verhaftet, einige von ihnen sogar hingerichtet, obwohl das Vichy-Regime seine Bereitschaft zur Kollaboration mit den Besatzern erklärt und diese insbesondere bei der Bekämpfung politischer Gegner auch umgesetzt hatte. Wie lässt sich dieser – auf den ersten Blick widersprüchliche – Befund erklären?

Kitson geht dieser Frage in acht flüssig und spannend geschriebenen Kapiteln nach, wobei er institutionengeschichtliche Ausführungen mit biografischen Details und Darstellungen des Agentenalltags anschaulich verbindet. Auf eine kurze Einführung in Organisationsstruktur und Ziele von deutscher Sicherheitspolizei und militärischem Geheimdienst in Frankreich (Kapitel 1 und 2), folgen zunächst Ausführungen zur Rekrutierung der Agenten (Kapitel 3). Dass die meisten von ihnen – rund 80 Prozent – französische Staatsangehörige waren, ist einer der vielen interessanten Befunde, die Kitson seinen Lesern präsentiert. Was ihre Motive betrifft, so unterscheidet er im Folgenden verschiedene Kategorien: Anhänger regionaler Autonomiebewegungen, ideologisch motivierte Kollaborateure, kühl kalkulierende Profiteure, Abenteurer und schließlich Agenten “wider Willen”, die mit den Deutschen nur deshalb kooperierten, um ihr eigenen Leben zu retten. Dass Kitson diese Systematik immer mit konkreten Fallbeispielen zu veranschaulichen mag, muss als besonderer Vorzug seiner Darstellung gelten.

Nicht nur für den deutschen Leser sind seine folgenden Ausführungen zu den militärischen Nachrichtendiensten der Vichy-Regierung erhellend (Kapitel 4), ein Thema, das auf Grund der schwierigen Quellenlage bislang kaum wissenschaftlich erforscht wird. Kitson schildert die institutionellen Verästelungen des cinquième bureau unter Louis Rivet, das nach der französischen Niederlage im Frühjahr 1940 seine Nachrichtentätigkeit gegen Deutschland weiter fortführte und die Alliierten – insbesondere den britischen Special Intelligence Service (SIS) – mit Nachrichten versorgte. Eingehend widmet er sich an dieser Stelle profilierten Figuren der französischen Gegenspionage wie Paul Paillole und skizziert die von Rivalität geprägten Beziehungen zwischen Militär und Polizei (Surveillance du Territoire) auf dem Gebiet der Gegnerbekämpfung.

Ausführlich wendet sich Kitson schließlich der Selbstwahrnehmung französischer Geheimdienstmitarbeiter zu und überzeugt mit einer sorgfältig abwägenden Bewertung der überlieferten Erinnerungsliteratur (Kapitel 5), bevor er dann konkrete Ziele und Handlungsfelder der Services Spéciaux näher in den Blick nimmt (Kapitel 6). Als ausnehmend fruchtbar erweist sich schließlich die Beschäftigung mit dem Schicksal inhaftierter Agenten und ihren Verfahren vor französischen Militärgerichten (Kapitel 7). Wie schon im dritten Kapitel geht auch hier Kitson weit über eine Institutionengeschichte der Geheimdienste hinaus und verschafft dem Leser Einblick in komplexe biografische Zusammenhänge wie auch in Haftbedingungen und Verhörpraktiken der französischen Polizei – ein schwieriges Thema, das Kitson jedoch ausgewogen zu präsentieren versteht.

Dies gilt auch für seine Bewertung des Verhältnisses zwischen der Regierung Pétain und den Geheimdiensten, die der Infiltrierung der unbesetzten Gebiete durch Agenten entgegenzutreten versuchten und diese Maßnahmen nach dem Krieg als Widerstand gegen die Besatzer etikettierten (Kapitel 8). Kitson kann zeigen, dass die von den ehemaligen Mitarbeitern oft beschworene ideologische Eigenständigkeit und institutionelle Unabhängigkeit in den Jahren 1940 bis 1942 niemals vollständig sein konnte und schildert die komplexen Wechselwirkungen zwischen politischer Kollaboration und militärischer Gegenspionage.

Kitson stützt sich in seiner Darstellung vor allem auf französische Geheimdienstakten, die nach Kriegsende in Moskauer Archiven verwahrt wurden und erst in den 1990-Jahren seit ihrer Rückführung nach Paris in das Archiv des Verteidigungsministeriums (Service historique de l’armée de terre) für die Forschung zugänglich sind. Darüber hinaus hat Kitson verschiedene Nachlässe ausgewertet, insbesondere den Paul Pailloles, ehemaliger Leiter der Abteilung Gegenspionage. Dass das Archiv der Militärjustizverwaltung in Le Blanc eine Einsichtnahme in die Akten der Spionageprozesse nicht gewährt hat, ist zu bedauern; dem Autor jedenfalls kann man daraus keinen Vorwurf machen, wenn man weiß, wie restriktiv bis heute der Zugang zu diesen Beständen generell gehandhabt wird.

Die einschlägige französische Forschung hat Kitson sehr vollständig, deutsche Literatur dagegen überwiegend in Übersetzung rezipiert. Was das eigentliche Kernthema Kitsons, also die Tätigkeit französischer Agenten in der besetzen Zone betrifft, so kann dies seine Forschungsleistung in keiner Weise schmälern. Etwas unbefriedigend bleibt hingegen die Lektüre der einleitenden Kapitel, welche über die Militärverwaltung informieren, ohne zumindest in einer Fußnote auf die bahnbrechende Studie Herberts zu verweisen 2, und die deutsche Besatzungspolitik in Frankreich thematisieren, ohne aktuelle Forschungsdebatten über die Rolle der Wehrmacht im Westen aufzunehmen. Oder handelt es sich hier um ein grundsätzliches Problem aktueller Zeitgeschichtsforschung: dass nämlich die Kommunikation so transnational noch immer nicht ist, wie dies gelegentlich behauptet wird?

Über den engen Rahmen einer Spionagegeschichte hinaus hat Kitson in seiner überaus lesenswerten Studie grundlegende Einsichten in die deutsch-französischen Beziehungen in den Jahren der Besatzung befördert. Er kann zeigen, dass die Etablierung der “Nationalen Revolution” trotz ideologischer Übereinstimmungen mit dem Nationalsozialismus ein zutiefst französisches Projekt war, das im Verständnis der Regierung Pétain untrennbar mit dem Anspruch auf staatliche Eigenständigkeit verknüpft war. Die “Jagd auf Nazi-Spione” stellte somit keinen Widerspruch zur offiziell propagierten Kollaborationspolitik dar, sondern erwies sich vielmehr als ein weiteres Feld, auf dem sich die Vichy-Regierung gegenüber den Besatzern als souverän zu behaupten versuchte.

Anmerkungen:
1 Vgl. Paxton, Robert O., Vichy France. Old guard and new order 1940-1944, New York 1972, in frz. Übersetzung Paris 1973; vgl. auch Rousso, Henry, L’historien, lieu de mémoire. Hommage à Robert Paxton, in: Ders. (Hg.), Vichy. L’événement, la mémoire, l’histoire, Paris 2001, S. 453-480.
2 Vgl. Herbert, Ulrich, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 2001.

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