Es ist noch nicht lange her, dass ein Thema wie „Zivilisierungsmissionen“ kaum anders als ideologiekritisch hätte behandelt werden können. Zu offensichtlich schien sich hinter jeder Rede von der „Weltverbesserung“ in imperialen Kontexten nur ein Herrschaftsinteresse zu verbergen – politische Machtausübung und ökonomische Ausbeutung bemäntelten sich mit dem schönen Schein der zivilisatorischen Beglückung. Mittlerweile hat die kulturwissenschaftliche Wende in der Geschichtswissenschaft dafür gesorgt, dass auch differenziertere Betrachtungen möglich sind. Die Motive dessen, der zu zivilisieren meint, sind nicht einfach, sollten sie das zugrunde liegende Machtinteresse nicht sogar unverhohlen spiegeln, als ‚falsches Bewusstsein’ abzutun. Der Glaube daran, dass es allgemeingültige zivilisatorische Errungenschaften gibt, an welche auch andere Menschen herangeführt werden müssen, die Überzeugung, für diese Aufgabe sogar prädestiniert zu sein, stellen ein ideen- und mentalitätsgeschichtliches Phänomen sui generis dar und dürfen nicht voreilig mit beliebigen anderen Formen der Ausübung von kultureller Hegemonie, von ‚Herrschaft über die Köpfe’ zusammengerührt werden.
Auf dieser Unterscheidung zu bestehen, gehört zu den Verdiensten des Bandes von Boris Barth und Jürgen Osterhammel, der aus einer Tagung des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs/SFB 485 „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration“ an der Universität Konstanz im September 2003 hervorgegangen ist. Dabei wählt das Buch – um sogleich mit einem zweiten Verdienst fort zu fahren – eine international vergleichende Perspektive. Von 16 Beiträgen befassen sich vier mit dem britischen Empire (William O’Reilly, Andrew Porter, Almut Steinbach, Harald Fischer-Tiné), drei mit den USA (Frank Ninkovich, Corinne A. Pernet, Marc Frey), zwei mit Frankreich (Michael Broers, Andreas Eckert) und jeweils einer mit Russland (Dittmar Dahlmann), Deutschland (Christian Koller) sowie Japan (Sebastian Conrad); ein weiterer Artikel ist vergleichend angelegt (Boris Barth), drei andere behandeln theoretische und konzeptionelle Fragen (Wolfgang M. Schröder, Niels P. Petersson, Jürgen Osterhammel). Dieser Aufbau ermöglicht es dem Leser, vor allem die strukturellen Ähnlichkeiten vieler Zivilisierungsmissionen zu erkennen, spielten sie sich in Übersee oder vor der eigenen Haustür, im 18. Jahrhundert oder in der unmittelbaren Vergangenheit ab.
Wenn der Band auch manchen Aspekt aufgreift, der schon in anderen Forschungskontexten behandelt worden ist, warten doch viele Beiträge mit besonderen Pointen auf. So kann Broers zeigen, wie groß in den Augen der napoleonischen Funktionsträger zu Beginn des 19. Jahrhunderts das zivilisatorische Gefälle zwischen Frankreich und seinen Nachbarländern war. Das eigene Sendungsbewusstsein bezog sich keineswegs nur auf die Verbreitung aufgeklärten Ideenguts, wie die ältere Forschung vermutete, sondern auf die Schließung eines viel tieferen, im substantiellen Sinne kulturellen Grabens zwischen der Hegemonialmacht und den (zeitweilig) besetzten Ländern. In Italien zum Beispiel markierte das Bandenwesen fast anarchische Zustände, die von einer sittlich verkommenen Oberschicht nicht mehr kontrolliert werden konnten; in Spanien stand eine korrupte Obrigkeit einer trägen und apathischen Bevölkerung gegenüber (S. 80). Die in beiden Ländern noch lebendige Gegenreformation mit ihrer Vorliebe für Bildwelten und plakative Rituale wurde als Ausweis mangelnder Verstandesentwicklung interpretiert: Wo in Frankreich die Affinität zur Schrift und zum Sprechtheater die unbestrittene Herrschaft des Logos demonstrierte, zeigte in Italien und Spanien die Dominanz von Musik und darstellender Kunst die weitgehende Abwesenheit desselben an (S. 88f.). Die französischen Eliten deuteten in diese Unterschiede zwischen den Ländern einen Abstand in der geistig-kulturellen Entwicklung von mindestens einem Jahrhundert hinein. Ihr Sendungsbewusstsein speiste sich daraus, die südlichen Nachbarn nicht nur in Politik und Administration, sondern in ihrer gesamten Lebensführung die Leiter des Fortschritts um etliche Sprossen hinaufsteigen zu lassen.
Die Verknüpfung von Fortschrittsgläubigkeit und Sendungsbewusstsein löste auch in Teilen der deutschen Sozialdemokratie, wie Koller demonstriert, in den 1890er-Jahren eine Abkehr von jener Verdammung des Kolonialismus aus, die in den Gründerjahren der Partei formuliert worden war. Nicht der Kolonialismus an sich war schlecht, hieß es nun bei Eduard Bernstein und anderen Revisionisten, sondern nur die Art und Weise, in der er bislang von den Regierungen betrieben worden sei. Zu wünschen sei eine Kolonialherrschaft, die nicht mutwillig unterdrücke, sondern die Segnungen der Zivilisation an die indigenen Völker weitergebe. Für Bernsteins Gegenspieler Karl Kautsky hingegen war die Freiheit aller Völker das oberste Gebot. Er analogisierte die Situation der Kolonisierten mit der Lage des Proletariats in den Ländern der Kolonialherren (S. 236). Trotzdem hielt auch Kautsky an der Idee der Zivilisierungsmission fest: Die Früchte der Zivilisation dürften den Fremden aber nicht aufgezwungen, sondern müssten ihnen als ein Hilfsangebot präsentiert werden. Im Kern drückte diese Position bereits aus, was viele Jahrzehnte später unter dem Etikett der Entwicklungshilfe praktiziert wurde.
Die Sozialdemokratie vertrat in Deutschland die Interessen einer Klientel, die mancher Sozialreformer ihrerseits zum Gegenstand einer Zivilisierungsmission machen wollte. Das 19. Jahrhundert kennt viele solcher ‚Kreuzzüge’ im eigenen Land. Dass weiße Unterschichten aber auch in den Kolonialgebieten in dieser Weise ‚gebessert’ werden sollten, ist eine neuere Erkenntnis; lange Zeit ging man davon aus, dass die weiße Bevölkerung dort insgesamt als ‚Herrenschicht’ firmierte und alle Anstrengungen zur sozialen Disziplinierung auf die Kolonisierten gerichtet waren. Fischer-Tiné weist am Beispiel Britisch-Indiens nach, dass eine nicht unerhebliche Gruppe von ‚gestrandeten’ Weißen, zumeist entlassene Arbeiter, ausgemusterte Matrosen, ehemalige Soldaten, Arbeitsmigranten aus Australien oder Abenteurer aus dem englischen Mutterland, gleichfalls ins Visier der Disziplinarmacht gerieten. Die Arbeitshäuser, in die man sie ab 1871 einwies, unterschieden sich nur graduell von entsprechenden Einrichtungen in England (S. 185). Hauptmotiv für die Kolonialmacht, die weiße Unterschicht in dieser Weise unter Kontrolle zu bringen, war die Sorge um das Prestige der Herrenschicht: Weiße, die bettelten, stellten sich unter die Kolonisierten, Weiße, die Verbrechen begingen, gossen Öl in das Feuer indigener Aufsässigkeit. Zog man die Betroffenen aus dem Verkehr, konnten sie nicht mehr zum Stein des Anstoßes werden. Ob darüber hinaus aber auch die Erziehungsmaßnahmen griffen, ob es tatsächlich gelang, aus Faulen Fleißige und aus Liederlichen Fromme zu machen, wird von Fischer-Tiné mit einem deutlichen Fragezeichen versehen; die Anstaltsakten berichten vor allem von Flucht und Widerstand, von Missbrauch und Verweigerung.
Was berechtigte eine soziale Schicht, ein Volk oder Staatswesen dazu, sich selbst als „zivilisiert“ zu definieren? In manchen Fällen wurde das Engagement bei der Zivilisierung anderer zum Beweis für die eigene Zivilisiertheit erklärt – keine Zivilisiertheit also ohne eigene Zivilisierungsmission. Sebastian Conrad sieht den Kolonialismus Japans maßgeblich von dieser Denkfigur motiviert. Im Prestigekampf mit den Westmächten legte das Inselreich größten Wert darauf, ebenfalls dazu beizutragen, den Fortschritt zu verbreiten. Gleichzeitig wurde die Zivilisierung der eigenen Bevölkerung vorangetrieben; ‚Zivilisierung nach innen’ und ‚Zivilisierung nach außen’ waren miteinander verknüpft. So wurde zum Beispiel die Mandschurei von den Japanern systematisch als ‚Versuchslabor’ für volkswirtschaftliche Experimente genutzt. Bewährten sich die Konzepte dort, wurden sie anschließend auch in Japan umgesetzt. Eine besondere Wucht erhielt die japanische Zivilisierungsmission seit den 1920er-Jahren dadurch, dass eine neue Kolonialdoktrin nun alle Völker Ostasiens als mit den Japanern eng verwandt definierte und sie infolgedessen für ohne weiteres ‚japanisierbar’ erklärte. Das japanische Volk, so wollte es diese Sichtweise, war einst durch die Verschmelzung verschiedener ostasiatischer und südpazifischer Volksgruppen entstanden. Nun setzte der ‚koloniale Familienstaat’ (S. 257) diese Tradition fort, indem er auch weiterhin die anderen Völker in sich aufnahm. Für die Kolonisierten bedeutet dies, dass sie zwar keiner rassistisch motivierten Segregation ausgeliefert waren, wie sie in den europäischen Kolonialreichen den Normalfall darstellte (siehe insbesondere den Beitrag von Barth), dafür aber unter einen hohen Assimilationsdruck gerieten. Wer nicht bereit war, sich zum Japaner umzudefinieren und den kulturellen Vorgaben der Kolonialmacht zu entsprechen, musste mit harten Sanktionen rechnen.
Die fast durchweg innovativen und anregenden Einzelstudien, die der Band versammelt, werden von konzeptionellen Überlegungen eingerahmt. Am Anfang steht eine Erörterung von Begriff und Begründung der Zivilisierungsmission aus philosophischer Sicht; Wolfgang M. Schröder wandelt hier allerdings auf den mittlerweile recht ausgetretenen Spuren von Jürgen Habermas. Wesentlich ergiebiger, ja das Glanzstück des gesamten Buches ist der Schlussbeitrag von Osterhammel. Ihm gelingt es meisterlich, die Ergebnisse der Einzelbeiträge in vergleichender Perspektive zusammenzufassen und gleichzeitig zahlreiche Aspekte zu entwickeln, die in eine mögliche Systematik zu diesem Thema einfließen müssten – das alles vor dem Hintergrund souveräner historischer Sachkenntnis in globaler Perspektive. Aber nicht nur diesem furiosen Finale ist es zu verdanken, dass dem Buch bescheinigt werden kann, zu einem bedeutsamen historischen Konzept viele wichtige Aufschlüsse vermittelt zu haben.