H. Lehmann u.a. (Hgg.): Nationalprotestantische Mentalitäten

Titel
Nationalprotestantische Mentalitäten in Deutschland (1870-1970). Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes


Herausgeber
Gailus, Manfred; Lehmann, Hartmut
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 214
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Koenig, Kerkgeschiedenis (Kirchengeschichte), Theologische Universiteit Kampen

Das Bild der Geschichte von Protestantismus und Politik im 19. und 20. Jahrhundert ist durch das komplexe und belastete Verhältnis zur Nation geprägt. Vielfach steht dabei eine Kontinuitätsthese im Vordergrund, nach der „ein einziger Fehlweg“ (Fritz Fischer) zu konstatieren sei, auf dem sich der Mehrheitsprotestantismus in einer verhängnisvollen und zutiefst reaktionären Ausrichtung auf die deutsche Nation in eine obrigkeitshörige „Machtvergottung“ hineinbewegte. Der „Nationalprotestantismus“ wird hier als entscheidender Faktor ausgemacht, der einen radikalen, politischen Ton im kaiserlichen Deutschland setzte, im Ersten Weltkrieg die Siegfriedenspolitik mitformulierte und in der Weimarer Republik weite Teile der deutschen Bevölkerung für den Nationalsozialismus öffnete.

Ein jüngst von Manfred Gailus und Hartmut Lehmann herausgegebener, umfangreicher Sammelband stellt nun diese „Kontinuität sowie auch die Diskontinuität nationalprotestantischer Mentalitäten“ (S. 7) zwischen der Reichsgründung und den 1970er-Jahren in sein Zentrum. Die Beiträge sind aus einer im Februar 2003 veranstalteten Tagung des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen hervorgegangen, an der nordamerikanische und deutsche Historiker und Theologen beteiligt waren. Diese transatlantische Perspektive steigert die Erwartungen an den Band, ging es doch ausdrücklich um die Bestandsaufnahme vor einer gewandelten Forschungssituation (ebd.). Wurde bis in die 1990er-Jahre hinein innerhalb eines eher ideengeschichtlichen Quellenrahmens das Oberflächenprofil protestantischer Befindlichkeiten abgetastet, versucht eine mentalitäts- und kulturgeschichtlich inspirierte Protestantismusforschung tiefer in die vielfältige Dynamik von protestantischen Erfahrungsräumen, Frömmigkeitsstilen, verbandsprotestantischen Interessen usw. einzudringen. Das hat dazu beigetragen, das Bild eines einheitlichen protestantischen „Pastorennationalismus“ zu nuancieren und gleichzeitig die hohe – wenn im Einzelnen auch recht unterschiedlich ausgestaltete – Relevanz nationaler Orientierungen im protestantischen Milieu in den jeweiligen epochenspezifischen Konstellationen herauszuheben. Hier stand nun die Frage im Vordergrund, welche spezifischen Interessen und Verhaltensweisen national orientierter deutscher Protestanten über die einzelnen Epochen hinweg wirksam blieben.

In Länge und kirchenhistorischem Forschungsinteresse fallen die Beiträge sehr unterschiedlich aus; teilweise nehmen sie recht divergierende Positionen ein, worin der eigentliche Wert des Bandes bestehen dürfte. Hier können nur einige wichtige Linien angesprochen werden. Den Einstieg bilden zwei Untersuchungen, die in einem Überblick die „Euphorien“ und „Traumatisierungen“ der schnell aufeinander folgenden und hochemotionalisierten Umbrüche zwischen Kaiserreich und dem Ende des Zweiten Weltkrieges konturieren. Euphorische Begeisterung kam unter Nationalprotestanten da auf, so bestätigt Frank Becker bekannte Forschungspositionen, wo sich „politisch-soziale Ordnungsvorstellungen“ (S. 20), die vorher „rational entworfen“ wurden, zu verwirklichen schienen. Diese Ordnungsvorstellungen betrafen besonders die Vision einer Einheit von Deutschtum und Christentum, die sich aus der Hoffnung auf eine Rechristianisierung speiste und die kulturell-sittliche Wiedergeburt der Nation zum Ziel hatte. Gerade der Beginn des Ersten Weltkrieges wurde nicht nur als göttliches Geschichtshandeln, sondern als Chance für einen religiösen Aufbruch begriffen, der durch eine intensive Reflexion des Kriegsverlaufes in Andachten und Gottesdiensten gefördert werden sollte. Anklänge an diesen „Geist von 1914“ wurden auch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 erwartet, schien doch die Religionspolitik der NSDAP die „materialistischen“ Gegner des Christentums in den Arbeiterparteien aus dem Feld zu schlagen und sich gleichzeitig als ein konfessionelles Gegengewicht zur katholischen Zentrumspartei anzubieten.

Frank-Michael Kuhlemann wendet sich den entgegengesetzten Emotionalisierungen zu und untersucht in einer vergleichenden Studie die Anwendbarkeit des Traumatisierungsbegriffs an den Zusammenbrüchen von 1918 und 1945. Als entscheidender Einschnitt in die Entwicklung protestantischer Mentalitäten mit traumatisierender Wirkung haben die Jahre 1918/19 zu gelten, die zur Festigung und Radikalisierung nationaler Einstellungen im Protestantismus beigetragen haben. In Kuhlemanns Vergleich ergibt sich für beide Nachkriegszeiten das Bild einer „enormen Virulenz eines nationalkonservativen Selbstverständnisses“ (S. 58), aus dem heraus die zweifache Niederlage vor allem mit Blick auf die Schulddebatten als Ehr- und Gesichtsverlust empfunden wurde. Kuhlemann weist jedoch auch auf die bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit des Protestantismus in beiden Nachkriegszeiten hin und relativiert so die einseitige Betonung der Traumatisierungsparadigmas. Wenigstens bis zum Abschluss der Versailler Vertragsverhandlungen ließen sich einflussreiche Gruppen innerhalb der Landeskirchen von pragmatischen Erwägungen leiten und unter eher moderaten Tönen in das Weimarer Staatsmodell eingliedern, so dass von einer einseitig antimodernen und autoritären Haltung nicht pauschal die Rede sein kann. Bei allen rhetorischen und inhaltlichen Maßlosigkeiten, etwa in der Entnazifizierungsfrage, lässt sich auch für die Zeit nach 1945, natürlich besonders unter bekenntniskirchlichen Kreisen, eine hohe Bereitschaft feststellen, sich auf die gewandelte politische Situation einzustellen. Während in den 1920er-Jahren vor allem ein glorifizierender Rückblick auf die „protestantische Kultur“ des Kaiserreichs die Erfahrung der Weimar Republik als defizitär erscheinen ließ, gab es keine Ansätze zu einer glanzvollen Verklärung der zurückliegenden NS-Zeit. Wie Kuhlemann herausstellt, trug dazu maßgeblich die privilegierte Behandlung der protestantischen Landeskirchen durch die Alliierten sowie die schnelle Eingliederung in die ökumenische kirchliche Zusammenarbeit bei.

Ein zweiter Abschnitt wendet sich anhand exemplarischer Diskurse nationalprotestantischen Leitbildern und Leitbegriffen zu, beschränkt sich allerdings schwerpunktmäßig auf die Weimarer Jahre. Als analytischer Schlüssel haben dabei die massiven Säkularisierungsängste, die Furcht vor Bedeutungsverlust und Entkirchlichung zu dienen, unter der sich der nationale Protestantismus in ein stetes Bedrohungsszenario hineinsteigert habe. So interpretieren Doris L. Bergen und Günter Brakelmann die homiletischen Entgleisungen des Kriegsprotestantismus vor dem Hintergrund einer tiefgehenden Positionsverunsicherung als eine defensive Haltung. Nach dem Erweckungserlebnis im August 1914 wurde im Verlauf des Krieges die ausgebliebene religiöse Umkehr in vielen Predigten zunehmend als Begründung für das Ausbleiben des militärischen Sieges herangezogen. Jedoch beförderte die Selbstmobilisierung der Pfarrer für Kriegspropaganda und Durchhalteparolen nach Bergen den Verlust an kirchlicher Glaubwürdigkeit langfristig eher noch, obwohl sie kurzfristig das Ideal einer christlich-deutschen Volksgemeinschaft in greifbare Nähe zu rücken schienen. In diesem Licht sind auch die apologetischen Bestrebungen der Inneren Mission zu betrachten, die Matthias Pöhlmann anhand der seit 1921 in Berlin arbeitenden „Apologetischen Centrale“ untersucht, mit der die Auseinandersetzung mit nichtkirchlichen religiösen und ideologischen Strömungen institutionalisiert wurde. Die Volksmission sollte zu einer Erneuerung des Gemeinschaftsideals im „Kampf der Weltanschauungen“ (S. 92) in der von vielen kirchlichen Vertretern als verunsichernde Konkurrenzsituation empfundenen Weimarer Kultur beitragen. Eine einheitliche Volkskirche wurde als das Mittel betrachtet, „die Masse“ aufzulösen und eine Gemeinschaft „lebendiger Organismen“ zu schaffen (S. 94). Wie Rolf Schieders Beitrag zeigt, sollte auch die Nutzung des neuen Mediums Rundfunk der „Gegenwehr“ gegen „antichristlichen und allzu römischen Geist“ dienen und damit einen volksmissionarischen Zweck erfüllen (S. 155). Allerdings verlieren die Beiträge durch ihre einseitige Einrasterung in das Narrativ um Säkularisierung und die „Explosion der Moderne“ (S. 84) einiges an Tiefenschärfe. Immerhin scheint sich z.B. zwischen dem kulturpessimistischen Geraune eines Wilhelm Stapel gegen die rundfunkpredigenden „Baalspfaffen der Technik“ (S. 154) und der professionellen Kritik der Intendanten am hausbackenen Andachtsstil (S. 157) ein breiteres protestantisches Potential angesiedelt zu haben, in dem moderne technische Mittel zielgerichtete Anwendung fanden und ein weltanschaulicher Diskurs, unter Wahrnehmung und Abgrenzung gegenteiliger Positionen, gewagt wurde. Gleiches lässt sich für die „Kriegstheologie“ anmerken: Nicht nur die defensive Haltung gegen eine Entkirchlichung, sondern auch die Erfolgsgeschichte, etwa durch Totenehrung in der kriegerischen Extremsituation eine ungeahnte Präsenz zu entfalten, hätte hier eine Analyse verdient.

In einer dritten Sektion werden anhand protestantischer Lebensläufe die Auswirkungen nationaler Prägungen auf die Handlungsmuster einzelner Protestanten untersucht. Ein umfangreicher Beitrag von Thomas Kaufmann vergleicht die Entwicklung der Baltendeutschen Adolf Harnack und Reinhold Seeberg bis in die Weimarer Republik hinein. Beide Theologen einte als exponierte Gestalten des Protestantismus im Kaiserreich ein emphatischer Bezug auf die deutsche „Kulturnation“. Kaufmanns Analyse lässt jedoch die erheblichen Differenzen zwischen den verschiedenen „Interpretationsgestalten des Nationalprotestantismus“ eindrücklich zutage treten, die im Falle Harnacks eher aus einem rechtlich-staatlichen Verständnis hervorging und es ihm ermöglichte, ein positives Verhältnis zur Weimarer Republik zu gewinnen, bei Seeberg aber mit „ethnisch-völkischen Gehalten“ angefüllt war (220). Welchen Raum diese völkischen Vorstellungen innerhalb des Protestantismus der 1930er-Jahre gewinnen konnte, untersucht der Beitrag von Manfred Gailus, der in Abgrenzung zur älteren „Kirchenkampfforschung“ die zahlreichen Überlappungen und Übergänge zwischen protestantischen Mentalitäten und nationalsozialistischen Weltanschauungsmomenten aufzeigt. Die NS-Epoche ist kaum als Phase einer fortschreitenden Säkularisierung zu betrachten, vielmehr konnte eine Vielzahl an religiös aufgeladenen, vielfach auch außerkirchlich bestimmten Weltbildern durch den Versuch einer „neuen Zusammenführung oder Ineinssetzung von ‚Herrschaft’ und ‚Heil’“ (S. 256) nebeneinander existieren. Die von protestantischer Seite besonders in der Umbruchszeit von 1933 enthusiastisch erhoffte christliche Durchdringung und Unterfütterung der NS-Bewegung erwies sich jedoch als Illusion, die mit dem Ende der 1930er-Jahre nach Gailus immer deutlicher hervortrat. Als ein gemeinsamer Anknüpfungspunkt von NS-Ideologie und protestantischen Bewusstseinslagen gilt ein weit verbreiteter Antisemitismus, der in der „Kirchenkampfforschung“ als ein zentrales Erbe des Nationalprotestantismus dargestellt wird. Siegfried Hermle zeigt an dem Verhalten der drei Bischöfe Wurm, Meiser und Marahrens gegenüber jüdischen Konvertiten, dass auch auf dem Hintergrund einer tiefgehenden deutsch-lutherischen Prägung unterschiedliche Handlungsspielräume bestanden, dass aber Pragmatismus und staatliches Ordnungsdenken eine entschiedene Stellungnahme zugunsten der „Nicht-Arier“ verhinderte.

Divergierende Ansichten treten im letzten Abschnitt zutage, in dem das Weiterwirken nationalprotestantischer Weltsichten nach dem Ende der NS-Herrschaft 1945 diskutiert wird. Der Beitrag von Clemens Vollenhals arbeitet anhand der protestantischen Diskussion über Entnazifizierung, die kirchlichen Schuldbekenntnisse und die NS-Prozesse die These heraus, dass durch einen massiven Rückgriff auf einen nationalprotestantischen Konsens der Zeit vor 1933 die NS-Zeit als „bedauernswerter Zwischenfall“ (S. 428, Zitat Karl Barth) nivelliert wurde, was es den Vertretern der evangelischen Kirchen einschließlich den aus der Bekennenden Kirche hervorgegangenen Theologen unmöglich machte, nach einer politischen Neuorientierung als Träger einer Demokratisierung aufzutreten. Erst die Blockbildung im Kalten Krieg und die Westanbindung der BRD haben den Mehrheitsprotestantismus gezwungen, aus seinem bis weit in die 1960er-Jahre wirksamen, „unbußfertigen Nationalismus“ (S. 429) herauszufinden. Andernfalls hätte er sich, wie Vollnhals vermutet, „erneut zum Wortführer eines intransigenten Nationalismus entwickelt“ (S. 430). Dabei ging es vor allem um „die Wiederherstellung des protestantischen Milieus der Weimarer Zeit“ (S. 381), das nach der Zerspaltung durch den „Kirchenkampf“ nun den opportunistischen Rückstrom ehemaliger Parteigenossen und einen erheblichen Zuwachs von Flüchtlingen aus dem Osten zu verkraften hatte. Ein klares Schuldeingeständnis hätte den mühsam aufrecht erhaltenen binnenkirchlichen Konsens gesprengt. Diese vor allem in ihrem letzten Teil reizvoll-kontroverse Kontinuitätsthese trifft in einem Beitrag von Detlef Pollack auf inhaltlichen und methodischen Widerspruch (der auch in der bereits erwähnten Darstellung von Kuhlemann anklingt), den er vor allem auf der Quellengrundlage einiger Surveys entwickelt, mit denen die amerikanische Militärregierung zwischen 1945 und 1949 die Stimmung in der deutschen Bevölkerung erfassen wollte. In diesen Umfragen trat als unmittelbare Reaktion auf die Weltkriegserfahrung eine klare Ablehnung der nationalsozialistischen Vergangenheit bei der Mehrheit der Befragten zutage, die jedoch mit wachsender zeitlicher Distanz zwischen Entnazifizierung, Schuldebatte und der Furcht vor einer „Bolschewisierung“ zunehmend abflachte. Vor diesem Hintergrund interpretiert Pollack die Abschottungshaltung in Teilen der evangelischen Kirchen nicht als Fortsetzung einer nationalprotestantischen Mentalität, sondern „als ein Akt nationaler Selbstbehauptung“ (S. 465), der eine Antwort auf das alliierte „Entnazifizierungs- und Umerziehungsprogramm“ (S. 466) geben sollte.

Wenn Pollack beklagt, dass es zur Erforschung einer „soziologisch informierten Mentalitätsanalyse“ unabdingbar sei, „das Wechselspiel zwischen Mentalitäts- und Ereignisgeschichte“ (S. 466) zu berücksichtigen, wird man dieses Resümee auf weite Teile dieses Sammelbandes ausweiten können, der nur wenige neue Perspektiven eröffnet. Dieser unbefriedigende Leseeindruck beruht nicht zuletzt darauf, dass eine einleitende Klärung des Begriffs „Nationalprotestantismus“ lediglich in einer Fußnote stattfindet (S. 221f.). Das Verhältnis von z.B. überkuppelnden nationalen Mentalitäten und konfessionsspezifischen religiösen Überzeugungen, von verbindenden Motiven im Gesamtprotestantismus oder trennenden Vorstellungen versäulter, evangelischer „Submilieus“ wird kaum problematisiert. Der Nationalprotestantismus wird zu einer Entität, deren sozialer Wirkungsraum und dessen möglicherweise gravierend voneinander abweichende Füllungen gar nicht erst untersucht werden. Stattdessen legt der Band einen diffusen, die institutionalisierte Landeskirchlichkeit voraussetzenden Protestantismusbegriff zugrunde, der es allein dadurch schon erschwert, „Mentalitäten“ zu erfassen. Nationsbilder im protestantisch sozialisierten Intellektuellenmilieu, die liberalprotestantischen Grenzgänger am kirchlichen Rand und darüber hinaus oder der politisch aktive Verbandsprotestantismus, z.B. im Evangelischen Bund, kommen kaum in den Blick. Hier wird leider eine Chance vertan, weiterführende Impulse für eine Kirchengeschichte im kulturhistorischen Kontext zu setzen, deren Notwendigkeit auch von theologischer Seite nicht oft genug betont werden kann.