90 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg wurden auch die deutschen Fernsehprogramme und Buchhandlungen von einer Welle von Filmen, Büchern und Zeitschriften erfasst, welche sich in populärer oder wissenschaftlicher Form mit dem Ersten Weltkrieg befassten. In Deutschland war dies eine Art Wiederentdeckung eines Sujets, das durch andere Themen wie die NS-Diktatur oder die deutsche Teilung abgelöst worden war. Ganz anders dagegen die Situation in Großbritannien, wo ein Museum – das Imperial War Museum – zur Erinnerung an den „Great War“ gegründet worden war, wo die BBC sich immer wieder diesem Thema widmete und wo alljährlich am „Poppy Day“, dem Tag des Waffenstillstandes, Papiermohnblumen in Erinnerung an die Mohnblumen Flanderns am Revers getragen und am darauffolgenden Sonntag, dem „Remembrance Day“, zwei Schweigeminuten abgehalten werden.
Barbara Korte, Ralf Schneider und Claudia Sternberg machen in ihrer Untersuchung der britischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg drei Hochphasen aus, und zwar Ende der 1920er-Jahre, in den 1960er und den 1990er-Jahren. Die Autoren folgen der Differenzierung des kollektiven Gedächtnisses von Jan Assmann: Während das kommunikative Gedächtnis auf den persönlich tradierten Erfahrungshorizont zielt, verkörpert das kulturelle Gedächtnis die überindividuell verfestigte Erinnerung einer Gesellschaft. Übersetzt man diese Formen mit „Experience“ und „Memory“ annäherungsweise ins Englische, so hat man die Schlüsselbegriffe der 2004 veröffentlichten Monografie von Janet Watson zu diesem Thema. 1 Das Buch wird in vorliegender Studie nicht genannt, obwohl es mit Klasse, Geschlecht und Zeitebene dieselben zentralen Analysekategorien stark macht und hier ebenso die zentralen Mythen thematisiert werden: der Mythos des vergeblichen, sinnlosen Gemetzels mit dem 1. Juli 1916, dem ersten Tag der Somme-Schlacht als Fixpunkt, die Deutung des Ersten Weltkriegs als „Zeitenwende“ und die Konzentration auf die Westfront als Nachkriegskonstrukt. 2 Zeitlich weit über die von Watson in den Blick genommenen Zwischenkriegsjahre hinausgehend und quellenmäßig breiter angelegt differenzieren die drei Autoren der vorliegenden Studie diese Mythenbildung anhand der Medien Autobiografie, Roman und Film. Sensibel fangen die Autoren dabei die Eigenlogik der jeweiligen Medien ein.
Die Autobiografien als Hybridform von Augenzeugenbericht und Fiktion hatten bis Ende der 1930er-Jahre ihre Zeit. Inhaltlich sind sie von äußerst konträren Wertungen bestimmt. Einige Autobiografien wie Siegfried Sassoons „Memoirs“ (1928-1937) wurden für das kulturelle Gedächtnis zu wichtigen Deutungsmustern, sie erfuhren gleichsam eine Kanonisierung. Die eigentlich fiktionalen Gattungen vermochten dagegen das kommunikative Gedächtnis artifiziell zu verlängern. In der Romanliteratur tritt die oben beschriebene Mythenbildung dabei besonders deutlich hervor. Die Literatur ging mit dem Film oftmals eine Verbindung ein, Romane wurden verfilmt, in Romanen wurde auf Filme verwiesen; generell folgte der Film aber den Trends, die in der Literatur gesetzt wurden. Durch die Möglichkeit, eine Geräuschkulisse zu schaffen, ergänzt der Film die Literatur wesentlich. Andererseits hat er es schwerer, im kollektiven Gedächtnis präsent zu bleiben. Dies gelingt entweder durch ständiges Zitieren, wie im Fall des schon im Krieg gedrehten Dokumentarfilms „Battle of the Somme“, durch oftmalige Wiederholung, wie bei der amerikanischen Verfilmung von Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1930), oder durch den Einsatz der Filme zu Bildungszwecken in Schulen und anderswo.
Die Autoren konstatieren eine Disparität in der britischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. In allen Gattungen dominierte der „futility myth“, also die Interpretation des Krieges als „sinnlos“, doch gab es, besonders Ende der 1920er-Jahre, auch Gegendiskurse. Bezeichnend für diese Zeit ist die „War books controversy“, in der um die Deutungshegemonie im Hinblick auf die „nutzlosen Opfer einer Generation“ gestritten wurde. Zum Ende des Jahrhunderts, seit den 1980er-Jahren, gerieten zunehmend bisherige Randfiguren in den Blick: So wurde der Topos des Kriegsfreiwilligen als Opfer der unfähigen, grausamen Militärhierarchie teilweise in Frage gestellt, was zu politischen Kontroversen führte, wie derjenigen um den BBC-Film „Monocled Mutineer“ von Jim O’Brien (1986).
Mit vielen und vor allem höchst unterschiedlichen Quellen belegen die AutorInnen die – bei allen konjunkturellen Schwankungen – doch permanente Präsenz des Großen Kriegs in der Erinnerungskultur Großbritanniens. Sie beantworten jedoch nicht die Frage, warum es gerade hier zu dieser intensiven Erinnerungskultur kam. So bietet das Buch über seinen Eigenwert hinaus Anlass für weitergehende Fragen.
1 Vgl. Watson, Janet S. K., Fighting Different Wars. Experience, Memory, and the First World War in Britain, New York 2004. Möglicherweise kam diese Studie zu spät, das Vorwort des hier rezensierten Buches stammt jedoch aus dem April 2005.
2 Diese Konzentration auf die Westfront zeichnete lange auch die geschichtswissenschaftliche Forschung aus. Für die Ostfront vgl. nun den Tagungsband: Groß, Gerhard P. (Hg.): Die vergessene Front – der Osten 1914/15. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, Paderborn 2006.