Seit Gellner, Hobsbawm und Anderson die konstruktivistische Wende in der Nationalismusforschung eingeläutet haben, sind die Fragen nach der Nation als Vorstellungsraum, nach der nationalen Identität und ihren kommunikativen Voraussetzungen vielmals und in den unterschiedlichsten Varianten gestellt worden. Für das Deutsche Kaiserreich wurde vor allem der Befund formuliert, dass der Nationalstaat im Jahre 1871 zwar politische Wirklichkeit geworden sei, die Vorstellungswelt der Menschen aber noch nicht zu diesen neuen Gegebenheiten aufgeschlossen hätte. Die Deutungsarbeit von Jahrzehnten sei nötig gewesen, um aus Bayern, Sachsen und Westfalen letztendlich Deutsche zu machen – um allen Bevölkerungsteilen erfolgreich zu vermitteln, dass sie primär Mitglieder der Nation, und nur noch in zweiter oder dritter Linie auch Mitglieder regionaler, lokaler oder sonstiger Verbünde waren.
Erst in den letzten Jahren ist die Einseitigkeit dieser Perspektive in die Kritik geraten. Es darf nicht einfach unterstellt werden, dass die Geschichte des Kaiserreichs eine Erfolgsgeschichte von ‚weniger’ zu ‚mehr’ nationaler Identität gewesen ist. Bevor man nur noch die kommunikativen Mechanismen untersucht, die dazu beigetragen haben, das Nationalbewusstsein zu entwickeln und zu stärken, sollte erst einmal geklärt werden, welchen Stellenwert die Nationalidee überhaupt in Konkurrenz zu anderen Identitätsvorgaben besaß. Besonders der Faktor Konfession ist in diesem Zusammenhang wieder entdeckt worden. Auch im späten 19. Jahrhundert besaß die Religion in Deutschland noch eine große Bindekraft, und es gelang bei weitem nicht immer, ihre weltanschaulichen Vorgaben kurzerhand mit der Nationalidee zu verknüpfen. Außerdem darf auch das Regionalbewusstsein nicht vorschnell zum Verlierer gestempelt werden. Dass der so genannte Partikularismus von seinen Gegnern so vehement bekämpft wurde, kann im Gegenteil ein Indiz für seine besondere Persistenz gewesen sein.
Bei diesem Befund setzt die Habilitationsschrift (Universität der Bundeswehr München, 2004) von Michael B. Klein an. Die Ausgangsfrage lautet, in welchem Verhältnis nationales und regionales Bewusstsein im Deutschen Kaiserreich zueinander standen. Dass es sich hierbei nicht um eine umgekehrte Proportionalität handelte, dass also das Regionalbewusstsein nicht je stärker schwand, desto mehr das Nationalbewusstsein zur Geltung kam, setzt Klein bereits als weitgehend unstrittig voraus. Sein Hauptgegner ist jene differenziertere Auffassung, die bereits einräumt, dass Region und Nation sehr wohl gleichzeitig gefeiert wurden, diese Beobachtung aber damit erklärt, dass der Region gerade deshalb gehuldigt wurde, weil sie Bestandteil der Nation war – was stellte die Nation schließlich anderes dar, als die Summe der Regionen oder ‚Stämme’, wie es zeitgenössisch hieß? Klein kehrt diese Sichtweise um: Die Nation diente als Folie, um die Region besser herausstreichen zu können. Die Region wertete sich durch ihren Beitrag zur Nation vor allem selbst auf. Sie fügte diesen Beitrag in den Reigen ihrer vielen Qualitäten ein (S. 15f., 72-77, 354).
Das Quellenmaterial, an dem Klein diese These demonstrieren will, entnimmt er einem Kontext, in dem man es zunächst nicht vermuten würde. Er behandelt die großen Nationaldenkmäler, die im Kaiserreich der Öffentlichkeit übergeben wurden, und – allerdings mit deutlich geringerem Aufwand – die (nationalen) Feiern und Gedenktage, die im selben Zeitraum auf dem Festkalender standen. Dort also, wo vermeintlich die Nationalidee propagiert wurde, wo vermeintlich Symbole geschaffen wurden, die das Nationalbewusstsein stärkten, setzt Klein die Sonde an, um einem gegenläufigen Prozess auf die Spur zu kommen. Nicht genuine Orte, an denen regionale Identitäten beschworen wurden, stehen im Mittelpunkt der Studie, sondern die wichtigen Medien der Inszenierung der Nation, in deren kommunikativem Umfeld dem Misserfolg des nationalen Projekts nachgespürt wird, seiner Unterlegenheit in der Konkurrenz zur weit mächtigeren Rhetorik der Region.
Auf den ersten Blick scheint das ein origineller Ansatz zu sein. Auf den zweiten Blick stellt man allerdings fest, dass sich Klein sehr schnell im Dickicht der reichhaltigen Forschung verheddert, die es bereits zu den Denkmälern gibt, welche er für seine Untersuchung auswählt: acht Nationaldenkmälern (Hermannsdenkmal, Niederwalddenkmal, Kaiser Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica, Kyffhäuserdenkmal, Kaiser-Wilhelm-Reiterstandbild in Berlin, Wilhelm I. am Deutschen Eck und auf der Hohensyburg, Völkerschlachtsdenkmal bei Leipzig), und neun „Partikularmonumenten mit nationalem Anspruch“, wie die nicht ganz überzeugende Differenzierung lautet (Siegessäule und Ruhmeshalle in Berlin, Kriegerdenkmal in Hannover, Siegessäule in Altona, Friedenssäule in München, Sieges- und Friedenssäule in Edenkoben, Kaiserstandbild in Stuttgart, Kaiserdenkmal in Heilbronn, Reiterstandbild Wilhelms I. in Hamburg). Gleiches gilt für die Feiern und Gedenktage. Die neuen Quellenfunde aus der Bau-, Einweihungs- und Rezeptionsgeschichte der Denkmäler, die von Zeit zu Zeit eingefügt werden, können das von der bisherigen Forschung gezeichnete Bild nicht wesentlich korrigieren. Dass immer Nationales und Regionales parallel thematisiert wurde, ist aus vielen Einzelstudien bekannt. Klein bürstet deren Ergebnisse nun gegen den Strich, um sie als Beleg für seine eigene These zu verwenden. Das wirkt oft sehr willkürlich. Quellen, die eine Dominanz des Regionalen tatsächlich belegen könnten, hat er nicht zu bieten.
Ohnehin fragt sich der Rezensent häufig, ob Klein die Bedeutung der regionalen Rhetorik im Umfeld der Denkmalsbauten nicht maßlos überschätzt. Wie hätte es denn möglich sein sollen, um die Gegenprobe zu machen, die Monumente einzig und allein in den Dienst der Nation zu stellen? Aus dem regionalen Umfeld waren viele Gelder geflossen, die das Bauprojekt ermöglicht hatten; die Region profitierte vom Denkmalstourismus; sie veränderte durch das neue Wahrzeichen ihr Gesicht … diese Liste ließe sich fortsetzen. Selbstverständlich gingen regionale Interessen und Deutungen also auch in die Inszenierung des gesamten Denkmalsprojekts ein. Warum dieser regionale Aspekt nun Vorrang gegenüber dem nationalen gehabt haben soll, warum es unrichtig ist, dass die Region als Bestandteil, als Element der Nation definiert wurde und damit der Kult der Region gleitend in den Kult der Nation überging, wobei die Nation als das überwölbende Prinzip allerdings Priorität genoss, vermag Klein nicht überzeugend darzustellen. Seiner Arbeit gebührt das Verdienst, die regionalen Momente in der Denkmalsinszenierung noch einmal akzentuiert zu haben. Dass diese Momente aber den Kern der Inszenierung bildeten, dass auch der Rekurs auf die Nation letztlich nichts anderes als deren Profilierung bezweckte, kann an keiner Stelle hinreichend nachgewiesen werden.
So liest sich die Studie überwiegend wie eine Zusammenfassung der umfänglichen Forschung zu den nationalen Denkmälern und Festen des Deutschen Kaiserreichs, in die nur ab und zu das Licht einer neuen Interpretation hineinfällt, einer Interpretation allerdings, die ihre Gewaltsamkeit nur schwer verbergen kann. Grundsätzlich löst Klein sich nur selten vom Gestus des Referierens. Kein Ende finden schon seine einleitenden Bemerkungen. Zugespitzt lässt sich sagen, dass sie das halbe Buch füllen: Erst auf Seite 189 beginnt die eigentliche Untersuchung. Trotz des weitschweifigen Literaturreferats hat Klein aber ausgerechnet die wichtigste neuere Monografie zu seinem Thema nicht mehr in die Buchfassung eingearbeitet. 1 Von einer gewissen Laxheit zeugen auch etliche kleinere Fehler und Versehen: Tilmann Buddensieg firmiert zum Beispiel als Thomas Buddensieg (S. 257), Andreas Dörner wird unter dem Namen Dürner geführt (S. 65, 370); im Geleitwort wird die stolze Zahl von 25 benutzten Archiven genannt (S. 7), wenn man umblättert, hat sie sich auf der ersten Seite des Vorworts schon auf 23 reduziert (S. 9).
So wichtig die Frage nach dem Wechselspiel von verschiedenen Identitätsvorgaben für die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs also ist, so wenig kann man Klein bescheinigen, einen Durchbruch bei ihrer Beantwortung erzielt zu haben. Seine Studie ist eher dort zu empfehlen, wo nach einer komprimierten Überblicksdarstellung über die Geschichte der deutschen Nationalidee seit dem 18. Jahrhundert und der großen Denkmalsbauten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland verlangt wird. Möglicherweise wäre Klein doch besser beraten gewesen, nicht noch einmal die ausgetretenen Pfade der Denkmals- und Gedenktagsforschung zu betreten, sondern dem Problem von nationaler und regionaler Identität in einem anderen Realitätsbereich nachzuspüren. Schließlich haben nicht nur Geschichte und Erinnerung eine Identität bildende Kraft. Auch die miteinander gedeutete Erfahrung der Gegenwart, auch gemeinsame Zukunftsentwürfe oder -erwartungen können den Kitt bilden, der soziale Gruppen, auch große Verbünde wie Nationen zusammenhält.
Anmerkungen
1 Weichlein, Siegfried, Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarck-Reich, Düsseldorf 2004.