„Zum ersten Male steht Europa als eine Staatengemeinschaft da. Es erhalte sich als solche“ (Bd. III, S. 5), mahnt der preußische Diplomat Knesebeck in einer Denkschrift für den Wiener Kongress. Zwei Fragen seien deshalb dringlichst zu lösen: „Aus welchen einzelnen Staaten soll forthin die Europäische Gemeinde bestehen? Welches sollen jedes Staates Grenzen seyn?“ (ebd.). Knapp zweihundert Jahre später hat keine der beiden an Aktualität verloren – obwohl Wissenschaftler, Politiker und Publizisten seither alle erdenklichen Modelle einer idealen politischen Ordnung des europäischen Kontinents durchdacht und niedergeschrieben haben.
Mit „Option Europa“ liegt eine Edition eben dieser Quellen der politischen Ideengeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor. In einem von der VolkswagenStiftung geförderten und vom Institut für Europäische Geschichte Mainz koordinierten Projekt haben WissenschaftlerInnen aus Budapest, Mainz und Warschau drei Jahre lang nach „Europaplänen“ aus dem deutschsprachigen Raum, aus Polen und Ungarn gesucht. „Option Europa“ macht einen Korpus von 292 Texten als Regesten zugänglich, begleitet von einem Essayband und einem Textband mit einer Auswahl von 18 in voller Länge abgedruckten Schriftstücken.
Gesucht und gefunden wurden Monografien, die „einen konstruktiven Diskussionsbeitrag zur politischen Physiognomie eines zukünftigen Europa – Europa verstanden im Sinne einer Föderation gleichberechtigter Mitgliedstaaten – leisteten. [...] Entscheidend sollte sein, daß ein in die Zukunft weisender Gedanke oder gar ein ganzes Konzept zur Vereinigung Europas entwickelt wurde“ (Bd. I, S. 5f.) – so die Vorgabe der Herausgeber. Rein analytische wissenschaftliche Literatur schied damit ebenso aus wie Belletristik und Zeitschriftentexte. Für das 19. Jahrhundert wurde die Zäsur 1814/15 gesetzt, was dem mittlerweile stark gewachsenen Interesse am Europagedanken im frühen 19. Jahrhundert Rechnung trägt.1 Im 20. Jahrhundert wählte man unterschiedliche zeitliche Begrenzungen: 1933 für den deutschsprachigen, 1945 für den mittelosteuropäischen Raum.
Der Essayband (Bd. I) enthält je einen Einführungstext zu den drei Untersuchungsregionen, sowie vier Fallstudien zu Einzelaspekten. Heinz Duchhardts Überblick zu den deutschsprachigen Quellen (Bd. I, S. 15-42) setzt mit den frühen, in Auseinandersetzung mit dem zentralistischen Europa Napoleons entstandenen Plänen ein, die Forderungen nach nationaler Einheit mit der Idee des Mächtegleichgewichts verbinden. Die populären Texte des 19. Jahrhunderts propagieren unter dem der Forschung gut bekannten Mitteleuropabegriff ein Teil-Europa unter deutscher Herrschaft. Mit der Reichsgründung weitet sich das Blickfeld der Autoren auf die Stellung Deutschlands und Europas in der Welt: Die Argumentation entwickelt sich „vom eher innenpolitisch motivierten, sich aus der Sehnsucht nach dem Einheitsstaat speisenden Europa-Plädoyer hin zur machtpolitisch gedachten Sorge um den globalen Vorrang des europäischen Kontinents“ (Bd. I, S. 22). Zur besonderen Funktion des Schlagwortes der „Gelben Gefahr“ in diesem Kontext liegt eine Studie Duchhardts bei (Bd. I, S. 205-214). Die Zwischenkriegszeit mit ihrer weiteren Popularisierung des Europabegriffs, etwa durch die umtriebige Paneuropa-Bewegung, wird vergleichsweise kurz behandelt.
Die polnischen Quellen präsentieren Włodzimierz Borodziej, Błażej Brzostek und Maciej Górny (Bd. I, S. 43-134) im umfangreichsten Essay des Bandes. Im 19. Jahrhundert werden auch in Polen unerfüllte nationale Wünsche über den Umweg weitgreifender Föderationspläne problematisiert. Als besondere Eigenart polnischer Texte verfolgt der Artikel die Auseinandersetzung mit Russland. Nach 1830/31 ist das zentrale Motiv eine wiedererstandene „Rzeczpospolita“ und die erneuerte mittelalterliche Föderation mit Litauen, zum Schutz der Völker Mittelosteuropas vor dem despotischen Nachbarn im Osten. Zwischen den Weltkriegen, angesichts äußerer Gefahr durch die Sowjetunion und Deutschland, überlebt diese Idee als „Intermare“, als Plan eines vom Baltikum zum Schwarzen Meer reichenden Schutzbundes. Breiten Raum in der Darstellung nimmt die Kriegs- und beginnende Nachkriegszeit ein. Als „die Wendung gegen den Expansionismus der Sowjetunion [...] unüberhörbar“ wurde (Bd. I, S. 115), greifen polnische Exilpolitiker die alte Idee der mittelosteuropäischen Föderation wieder auf.
Ende des 19. Jahrhunderts versuchen einige polnische Autoren, Russland mit kultur- und rassentheoretischen Argumenten aus Europa auszuschließen. Neues hierzu bietet der Aufsatz von Maciej Górny (Bd. I, S. 187-203) über die Schriften der Theoretiker Frantiszek Duchiński und Stefan Buszczyński, die „Grenzen nicht durch Waffen, sondern durch Wissenschaft feststellen“ (Bd. I, S. 198f.) wollen. Sie unterscheiden die Russen als „turanisches“, also „minderwertiges“ Volk von den Slawen, denen sie (unter der Leitung Polens) die Erneuerung Europas zur Aufgabe machen, kämpfen also um eine europäische Identität Polens mit dem Mittel wissenschaftlich bald diskreditierter Volkstumsforschung.
Ignác Romsics stellt in seinem Beitrag zu Ungarn (Bd. I, S. 135-165) zunächst fest, dass dort „im 19. Jahrhundert kein einziger begründeter und umfassender Europa-Plan“ (Bd. I, S. 136) konzipiert wurde. Stattdessen beherrschte Regionalismus das politische Denken. Texte von Kossuth, Wesselényi oder Tancsics entwarfen Donauföderationen, die zugleich die nationalstaatliche Eigenverantwortlichkeit Ungarns stärken, und die Probleme der Vielvölkerregion durch föderative Lösungen (unter ungarischer Leitung, versteht sich) entschärfen sollten. Auf die großungarischen Pläne „größenwahnsinnige[r] Verfasser“ (Bd. I, S. 150) um die Jahrhundertwende und während des Ersten Weltkrieges folgt die Ernüchterung von Trianon: Mehr als „nur“ die Restauration der Grenzen von 1918 erscheint unrealistisch. Phantasievolle Pläne wie der József Pásztors, Europa aus vier bis acht Millionen Einwohner umfassenden Einheiten neu „zusammenzusetzen“, oder die Idee Nándor Ujhelyis, die Vereinigten Staaten von Europa als Aktiengesellschaft zu organisieren, werden von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Das Projekt einer demokratischen Einigung Europas beschäftigt eher die ungarischen Emigranten. Mit Oskar Jászis „The United States of Europe“ (1934) schließt Romsics seinen Überblick.
In Ungarn selbst ist inzwischen der von Gergely Varga (Bd. I, S. 215-228) analysierte – hier positiv verstandene! – „Turanismus“ populär, der von Europa weg, nach Asien blickt. Bis nach Japan werden ethnische Verwandtschaften konstruiert, um den pangermanischen oder panslawistischen „Völkerfamilien“ eine eigene entgegensetzen zu können. Mit Europaplänen im Sinne der Edition hat das nichts zu tun, aber der lesenswerte Aufsatz erhellt das zeittypische Großraumdenken. Die Fallstudien komplettiert Małgorzata Morawiec’ Aufsatz über „Die Schweiz als europäisches Integrationsmodell“ (Bd. I, S. 167-186) mit dem erstaunlichen Befund, dass „letztendlich nur in wenigen Texten eine Föderationsidee Schweizer Prägung als vorbildlich für die Gründung eines europäischen Staatenbundes propagiert wurde“ (Bd. I, S. 172).
Essays und Quellenedition halten der immer weiter spezialisierten ideengeschichtlichen Europaforschung eine weite Perspektive entgegen, wenngleich eine Synthese des dreiteiligen Vergleichs leider nicht versucht wurde. In der Zusammenschau werden der enge Bezug zu nationalen Problemstellungen und ein „innenpolitischer Impetus“ (Bd. I, S. 16) sehr deutlich. Außerdem, dass die ausgewerteten Texte mit einem heutigen Verständnis von „Europa“ oft wenig gemein haben. Die Werber der demokratisch konstituierten Vereinigten Staaten von Europa schrieben zumeist gegen den publizistischen Mainstream. In diesem Zusammenhang scheint die strenge Setzung der Herausgeber heikel, jeder „konstruktive [...] Diskussionsbeitrag“ müsse Europa „im Sinne einer Föderation gleichberechtigter Mitgliedstaaten“ verstehen (Bd. I, S. 5). Dem wird das vorgefundene Material in vielen Fällen nicht gerecht.
Das berührt auch die Entscheidung, deutsche Texte (zwischen deutsch und deutschsprachig wird nicht konsequent unterschieden) nur bis 1933 aufzunehmen, „weil die nationalsozialistischen ‚Europa’-Projekte, die danach publiziert werden durften, mit dem hier zugrundegelegten Verständnis von Europaplänen [...] wenig gemein haben“ (Bd. I, S. 9). Jene Autoren der intellektuellen Grauzone zwischen Reichsideologie, völkischem Denken und Konservativer Revolution, die über 1933 hinweg konsequent publizieren konnten sind auf diesem Wege schwer einzuordnen – aus den Regesten sei als Beispiel der Volkstumstheoretiker Max Hildebert Boehm („Europa Irredenta“, 1923) genannt.
Andere Schwierigkeiten bereiten die zahlreichen regionalen Föderationspläne. Sie erfüllen das Kriterium der Gleichberechtigung meist nur oberflächlich und sind im Kern Fantasien nationaler Machterweiterung, die sie zur Voraussetzung einer stabilen Friedensordnung in Europa erklären, sei es als Donaubund, Mitteleuropa oder wiederbelebtes Jagiellonenreich. Schon für Knesebeck ist Deutschland der „Central-Punkt [...] von Mittel-Europa“ (Bd. III, S. 9) – wobei er Schweiz, Niederlande und Belgien bedenkenlos mit einplant. Titel wie „Nagymagyarország“ („Großungarn“) von Pál Hoitsy (Bd. II, S. 175ff.) fanden ihren Weg in den Band. Die offensichtlich problematische Abgrenzung einer Textgattung „Europaplan“ hätte intensiver diskutiert werden können: Was ist „europäisch“ daran, einen Donaubund gründen zu wollen?
„Option Europa“ ist eine ausgesprochen gründlich erarbeitete, und in der dreibändigen Gliederung gut zugängliche Quellenedition. Der Regestenband ist benutzerfreundlich, da Exzerpte, bibliografische Informationen und Kurzbiografien der Autoren kurz gefasst sind. Die Einträge im Namensindex wurden restriktiv gehalten und verweisen in der Regel nur auf die Autorschaft des betreffenden Herrn (tatsächlich ist mit Emilie Lehnert nur eine einzige, biografisch nicht fassbare Autorin genannt!) – so dass der Band als Nachschlagewerk funktioniert. Die Auswahl der Texte für Band III musste verlegerischen Kriterien genügen. Aus jeder Beispielregion sind sechs Schriften abgedruckt, was deren Länge notwendigerweise Grenzen setzt. Die Wahl ist trotzdem repräsentativ und umfasst auch weniger prominente Texte. Hier ist – wie für den Regestenband – unschätzbare Übersetzungsarbeit im Dienste des deutschsprachigen Lesepublikums geleistet worden.
Für die Geschichte der Europapublizistik ist „Option Europa“ ein Referenzwerk, da es eine Quellenedition in vergleichbarer Breite nicht gibt, zudem eine Fundgrube bislang kaum beachteter Schriftstücke. Die geografische Osterweiterung eines am Beispiel Deutschlands und Frankreichs entstandenen Forschungsfeldes wird zum Vergleich einladen, ein weiterer Sammelband ist vor dem Hintergrund des Editionsprojekts bereits erschienen.2 Nun ist zu hoffen, dass die hier präsentierten Quellen auch rezipiert werden. Sie bieten außergewöhnliche Einblicke in die Anatomie politischen Denkens des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und sind Belege für eine regsame politische Fantasie, die von „EU-ropa“ und „Brüssel“ noch herrlich unberührt ist.
Anmerkungen:
1 Dazu zwei jüngere Dissertationen: Brendel, Thomas, Zukunft Europa?. Das Europabild und die Idee der internationalen Solidarität bei den deutschen Liberalen und Demokraten im Vormärz (1815-1848) (Herausforderungen. Historisch-politische Analysen; 17), Bochum 2005; Conter, Claude, Jenseits der Nation – Das vergessene Europa des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte der Inszenierungen und Visionen Europas in Literatur, Geschichte und Politik, Bielefeld 2004.
2 Duchhardt, Heinz; Németh, István (Hrsg.): Der Europa-Gedanke in Ungarn und Deutschland in der Zwischenkriegszeit (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Abteilung für Universalgeschichte; Beiheft 66), Mainz 2005.