Titel
Zlatá bula sicilská. Podivuhodný příběh ve vrstvách paměti [Die goldene sizilische Bulle. Ein bemerkenswertes Ereignis in den Schichten der Erinnerung].


Autor(en)
Wihoda, Martin
Reihe
Edice historické myšlení 26
Erschienen
Prag 2005: Argon Verlag
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
KrC 298,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karel Hruza, Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Die Habilitationsschrift Wihodas ordnet sich um drei im Prager Kronarchiv verwahrte Originalurkunden, die Kaiser Friedrich II. am 26. September 1212 in Basel ausfertigen und mit seinem sizilischen goldenen Königssiegel beglaubigen ließ. Das meist diskutierte Privileg (= GB1) empfing König Přemysl Otakar I. von Böhmen; es enthält Bestimmungen zur erblichen böhmischen Königswürde, zur Bischofseinsetzung und zu den Pflichten des böhmischen Königs bei Hoftagen und bei Romfahrten römisch-deutscher Herrscher. In einer zweiten Urkunde (= GB2) übertrug der Kaiser Otakar Güterbesitz außerhalb Böhmens. Das dritte Privileg (= GB3) empfing dessen Bruder Markgraf Vladislav Heinrich von Mähren, dem ein Besitz Mocran et Mocran zugewiesen wurde. Die Interpretation dieser umstrittenen Urkunde war es 1, die Wihoda zu einem völligen Überdenken der Ereignisse von 1212 veranlasste.

Wihodas in neun Kapitel gegliedertes Vorhaben zielt in zwei Richtungen: (1.) Die Analyse der Bedeutung der Urkunden im kollektiven Gedächtnis bis in die Gegenwart. Provokant fragt er, ob das „Ereignis“ Sizilische Goldene Bulle nicht sogar ein „virtuelles Konstrukt“ der „nationalen Mythologie“ darstellt. Der GB1 wurden immer wieder nationalpolitische Bedeutungen zugewiesen; ihre Inthronisation erreichte 1987 einen Höhepunkt, als sie von Žemlička zum staatstragenden Baustein erhoben wurde.2 Innerhalb der Analyse dieser Erfolgsgeschichte setzt sich Wihoda (2.) ausführlich mit dem historischen Kontext der Urkundenausstellung auseinander und präsentiert zahlreiche neue Einsichten. Zunächst bietet er einen Rückblick auf das „Leben“ der drei Urkunden, die seit dem 14. Jahrhundert durch Bestätigungen, Abschriften und die Historiografie wanderten. Nach der ersten seriösen Edition 1839 der GB1 und 3 begann Václav V. Tomek 1857 die wissenschaftliche Auseinandersetzung: Das Spiel mit und um die Urkunden war eröffnet. Im Mittelpunkt stand die GB1, gefolgt von der GB3, jene Stücke, die auch nationalpolitisch zu verwerten waren. Die GB2 blieb mit ihrer „einfachen“ Schenkung Beiwerk.

Im interessantesten Kapitel verfolgt Wihoda die Urkundenherstellung und zeigt, dass der Text der GB1 in seiner Mischung sizilischer und nordalpiner Kanzleigewohnheiten sowie die Person des Kanzleinotars Henricus de Parisius (von Pairis?) schwer lösbare Probleme aufwerfen. Innerhalb seiner ergebnisreichen Ausführungen unterläuft Wihoda aber der Fehler zu behaupten, dass „offensichtlich kein böhmischer Gesandter in Basel anwesend war“, ausgehend von seiner These, dass die ursprünglichen Konzepte vermutlich bereits 1211 aus Anlass der Kaiserwahl Friedrichs II. in Nürnberg ebendort oder schon in Böhmen von der Empfängerseite angefertigt und der nach Rom abziehenden Gesandtschaft der Wähler mitgegeben wurden. Im April 1212 hätte Friedrich die Konzepte in Rom entgegengenommen, sich über den Inhalt mit Papst Innocenz III. beraten und sie überarbeiten lassen, wobei die sizilischen Merkmale eingeflossen wären. Die neuen Konzepte hätte Friedrich dann auf seine Reise nach Deutschland mitgenommen und sei, im Grunde motu proprio, in Basel zur Ausfertigung der GB1–3 geschritten. Diese Ereigniskette scheint doch sehr konstruiert. Dass Wünsche der Wähler – vielleicht auch in Form von Empfängerkonzepten – von den Gesandten an Friedrich II. in Italien übermittelt wurden, ist möglich. Alles weitere ist Spekulation, die Urkundenausstellung motu proprio sehr unwahrscheinlich. Von den Grundsätzen des Kanzleibetriebs her ist es am wahrscheinlichsten, dass die Stücke in Basel verhandelt wurden, nachdem eine böhmische (-mährische?) Gesandtschaft dort zum Kaiser gestoßen war. Ob die vielgereisten „alten“ oder andere „neue“ Konzepte vorlagen, ist nicht zu beantworten. Entscheidend ist, dass sich im Umkreis Friedrichs II. einige Leute hätten aufhalten können, die zur Stilisierung eines Urkundentextes nach sizilischen Gewohnheiten fähig waren.

Anschließend widmet sich Wihoda der GB3: In Auseinandersetzung mit Hlaváček verteidigt er weitgehend überzeugend seine These, dass hinter dem eindeutig zu lesenden Mocran et Mocran der Urkunde ursprünglich Moraviam et Moraviam stand, womit das Olmützer Teilfürstentum und das Znaimer Teilfürstentum gemeint waren, die Vladislav Heinrich unter seiner Herrschaft vereinigen konnte.

Erwähnung verdienen ferner Ausführungen zur Möglichkeit einer „Reichslehenbarkeit“ Mährens, zur Rolle der verlorenen Privilegien Philipps von Schwaben von 1198 und Ottos IV. von 1203 für Otakar I. als Vorlagen für die GB1 sowie zur Königswürde Otakars I. und seinem „dritten Königreich Böhmen“. Angemerkt werden darf, dass es nicht erwiesen ist, dass die Privilegien von 1198 und 1203 bei der postulierten Konzeptherstellung seitens der Empfänger in Prag 1211 (oder 1212?) noch vorhanden waren, wie Wihoda annimmt. Der GB1 schreibt er insgesamt eine rückwärtsgewandte Funktion zu, da mit ihr bereits herrschende Zustände bestätigt wurden.

Nach dieser Entthronung verfolgt Wihoda das „zweite“ Leben der GB1 in den Synthesen zur tschechischen Geschichte und in den tschechischen und sudetendeutschen Schulbüchern: Entweder wurde „1212“ nicht angeführt, oder es wurden nationalpolitisch motivierte Forschungsmeinungen vorgestellt. Die gegenwärtige allgemeine Sicht korrespondiert mit obiger Darlegung Žemličkas: Für die tschechische Nation stieg die GB1 immerhin zu einem Baustein der nationalen Identität auf.

Abgeschlossen wird das Buch von einigen „Randglossen“ zum Thema. In einer Beilage folgen die Texte der drei GB und ergänzender Quellen, denen Übersetzungen beigefügt sind. Den Umschlag ziert wegen eines Fehlers des Verlags nicht die Abbildung eines sizilischen Goldsiegels Friedrichs II. von 1212, sondern ein Wachssiegel Phillips von Schwaben, das auf den Text einer Urkunde Friedrichs II. von 1216 projiziert wurde. Am Ende stehen das Literaturverzeichnis, 34 Schwarzweißabbildungen und ein Namenregister.

Wihoda bietet den bemerkenswerten Versuch einer ‚histoire totale’ dreier Urkunden, leider mit der Einschränkung, dass eine diplomatische Analyse fehlt. Zwar geht Wihoda gezielt auf viele Textstellen der GB ein, aber ein eigenes Kapitel zur Diplomatik vermisst der an Urkunden interessierte Leser. Leider vermisst man auch eine theoretische Reflexion des Vorhabens. Wihodas Analyse eines „Ereignisses“ vom 26. September 1212 und dessen Memoria erinnert nämlich an ein paradigmatisches Werk von Duby, das sich ebenfalls dem Ereignis eines einzelnen Tages widmet, der sogar mit den Vorgängen von 1212 in Zusammenhang steht: der Schlacht von Bouvines 1214.3 Wie Duby deckt Wihoda Schicht um Schicht der sich überlagernden und sich teilweise bedingenden Bedeutungen und Interpretationen auf, die Generationen von Kommentatoren (um die Urkunden) konstruiert haben. Aufschlussreich ist zudem die von Wihoda zu seinem eigenen Nachteil nicht gestellte Frage nach der Positionierung seines Buches in der Urkundenforschung: Monografien, die sich einer Urkunde oder kleinen Urkundengruppen widmen, sind eine Seltenheit. Insgesamt wurde in älteren Werken unter ereignis- und rechtsgeschichtlichen sowie diplomatischen Fragestellungen geforscht. Eine weit in die Zukunft weisende Ausnahme bot Lhotsky.4 Wihodas Buch erreicht eine neue Qualität, indem es nicht mehr von einem „Wissen“ um eine scheinbar tatsächlich vorhandene staatsrechtliche Bedeutung und Funktion des untersuchten Dokuments ausgeht: Wihoda hinterlässt drei entzauberte Pergamente und deren historisierte, von verschiedensten Motiven und Erkenntnissen gespeiste Verortungen an wechselnden Plätzen. Aber: Raum für weitere Spekulationen um die Urkunden bleibt genug; noch warten wir auf die kommende MGH-Edition, und dem Rezensenten stellte sich sogar die Frage, ob die Stücke schon unter Fälschungsverdacht gestanden haben (ohne diesen typischen Ausweg einschlagen zu wollen, der gewählt wird, wenn man nicht mehr weiter weiß).

Dem sehr anregenden Buch ist eine Übersetzung (Deutsch oder Englisch) zu wünschen, denn Wihoda stellt einen neuen erfrischenden Blick auf ein bisher sehr bedeutsames Ereignis der tschechischen Geschichte vor, das weiterhin bedeutsam bleiben wird: Er schwächt seine bisherige Gewichtung ab, verhilft ihm aber gleichzeitig zu einer neuen Bedeutung als Objekt im wissenschaftlichen Diskurs, gemäß dem von ihm verwendeten Zitat: „Jedes Dekodieren ist ein neues Kodieren.“ Geschrieben werden konnte das Buch anscheinend nur von einem jüngeren Autor, der nicht wesentlich durch die Hochschulen und Apparate der bleiernen 1970er und 1980er-Jahre der ČSSR geprägt wurde, der seine zahlreichen Auslandskontakte wirklich produktiv zu verarbeiten weiß und der sich vor allem aufgeschlossen gegenüber neuen Gedanken in der Mittelalterforschung zeigt.5

Anmerkungen:
1 Wihoda, Martin, Mocran et Mocran, in: Český časopis historický 92 (1994); Ders., Der dornige Weg zur „Goldenen Bulle“ von 1212 für Markgraf Vladislav Heinrich von Mähren, in: Hruza, Karel; Herold, Paul (Hgg.), Wege zur Urkunde – Wege der Urkunde – Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters, Wien 2005.
2 Žemlička, Josef, Zlatá bula sicilská [Die sizilische Goldene Bulle], Prag 1987, S. 40: „Das berühmte Privilegium, mit dem der römische Herrscher die faktische Unabhängigkeit des přemyslidischen Böhmen schriftlich anerkannte, bildete den abschließenden Kulminationspunkt der seit dem Frühmittelalter andauernden Auseinandersetzungen mit dem westlichen Nachbarn. Das Haupt des mittelalterlichen Reiches musste die alte böhmische Ansicht bestätigen, welche die Eigenart der heimischen Entwicklung hervorhob. […] Deswegen nahm die Goldene Bulle in der Reihe der staatsrechtlichen Dokumente eine Schlüsselstellung ein. Von ihrer Herstellung an wurde sie zu den grundlegenden Dokumenten des Königsreiches Böhmen gezählt und sorgfältig bewahrt. […] Als das wertvollste Stück des Archivs der böhmischen Krone erfreut sich die Sizilische Goldene Bulle des besonderen Schutzes und Pflege durch die Tschechoslovakische Sozialistische Republik.“
3 Duby, Georges, 27. Juli 1214. Der Sonntag von Bouvines, Berlin 1988 (französisch 1973).
4 Lhotsky, Alphons, Privilegium Maius. Die Geschichte einer Urkunde (1957); ähnlich: Spreitzhofer, Karl, Georgenberger Handfeste. Entstehung und Folgen der ersten Verfassungsurkunde der Steiermark, Graz 1986.
5 Eine ausführlichere Rezension des Buches in tschechischer Sprache erscheint in Časopis Matice moravské 125 (2006).

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