E. Schubert: Königsabsetzung im Mittelalter

Cover
Titel
Königsabsetzung im deutschen Mittelalter. Eine Studie zum Werden der Reichsverfassung


Autor(en)
Schubert, Ernst
Reihe
Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse 3. Folge 267
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
613 S.
Preis
€ 146,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karel Hruza, Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften in Wien

Der im März 2006 gerade zwei Monate vor seinem 65. Geburtstag verstorbene Göttinger Mediävist konnte noch das Erscheinen seines großen, breit angelegten Werkes erleben, wohl wissend, dass es zu seinem Vermächtnis für die Fachwelt werden würde. Das Buch bietet eine grandiose Synthese, die auf der ca. 30-jährigen analytischen Beschäftigung Schuberts mit dem Thema ‚Reichsverfassung’ gründet, und markiert einen Meilenstein (oder einen der letzten großen Meilensteine?) der klassischen Verfassungsgeschichtsforschung, wie sie sich während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik entwickeln konnte. Das ist als ein wirkliches Kompliment zu verstehen, denn es scheint, dass solche Bücher nur noch äußerst selten erarbeitet und geschrieben werden: Klar gegliedert und die einzelnen Teile gut aufeinander bezogen, souverän im Umgang mit Quellen und Literatur unter Verzicht auf einen überbordenden Apparat, nicht spekulativ, dafür direkt und sicher im überzeugenden Urteil, ohne dabei auf die eine oder andere Pointierung zu verzichten, oder offen eingestehend, dass es keine Antwort auf eine gestellte Frage gibt und so Ergebnisse ausbleiben, sehr gut lesbar und stellenweise geradezu spannend. Mehr kann von einem Werk der Verfassungsgeschichte wahrlich nicht erwartet werden, und der Leser sollte sich nicht von dem konservativ anmutenden, ein „deutsches Mittelalter“ anführenden Buchtitel irritieren lassen. Schubert spricht von der „ungebrochenen Kraft der deutschen Mediaevistik“ und ihrer „Fähigkeit zur Quellenerschließung und Quelleninterpretation jenseits aller aufgeregten ‚Neuansätze’“, um sich selbst zu verorten: „In dieser Tradition stehe ich, an ihren Werten möchte ich gemessen werden.“ Dabei verschweigt er freilich, dass er es war, der mit seinem grundlegenden Buch „König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte“ (1979) und anderen Beiträgen wesentlich zu dieser Tradition im positiven Sinn beigetragen hat.

Schubert verfolgt die Problematik der „Königsabsetzungen“ vom Frühmittelalter bis ins 18. Jahrhundert hinein, im Mittelpunkt steht jedoch die Spanne vom 11. bis zum 16. Jahrhundert. In sechs von einer Einleitung und einer Zusammenfassung flankierte Teile hat Schubert sein Buch gegliedert: I. „Schrift und Verfassungsbildung. Mittelalterliche Theorien der Herrscherabsetzung und ihr Realitätsbezug.“ II. „Königsabsetzungen, Absetzungspläne und Abkehr vom König in der salischen Zeit.“ III. „Königswahlen und Herrscherabsetzungen zwischen 1138 und 1298. Konstituierung, Krisen und Nachwirkungen staufischer Herrschaft.“ IV. „Das Entstehen einer kurfürstlichen Reichsverantwortung, das angefochtene Königtum Ludwigs des Bayern und die Absetzung Wenzels im Jahre 1400.“ V. „Die Absetzungspläne des 15. Jahrhunderts.“ VI. „Die spätmittelalterlichen Grundlagen der neuzeitlichen Reichsverfassung aus der Sicht der Kaiserwahlen.“ Dieser über weite Teile chronologisch orientierte Aufbau entspricht der Zielsetzung Schuberts, (konstitutiven) Elementen des „Werdens“ der Reichsverfassung auf die Spur zu kommen. Schubert hat demnach nicht eine Geschichte der Königsabsetzungen verfasst – obwohl seine Studie letztlich auch das als Nebenergebnis beiträgt –, er beschreibt auch nicht die Reichsverfassung, sondern er benutzt Königsabsetzungen als „Ereignisse“, in denen sich verschiedenste Diskurse kreuzen und bündeln, beginnen und enden oder auch – entgegengesetzt zu bisherigen Meinungen – gar nicht vorkommen, und versucht, daraus Rückschlüsse auf das „Werden“ der Reichsverfassung zu ziehen.

Ein Leitgedanke Schuberts ist die Frage nach den Entstehungsbedingungen und Formen damaliger Konsensbildung und ihrer Abbildung und welche Bedeutung dem „Herkommen“ als auch dem „Zufall“ zukommt. „Das konsensbildende Prinzip der Verfassung ist unter Voraussetzungen der öffentlichen Meinung entstanden […].“ Und: „,Herkommen’ und Ereignisgeschichte hängen, wenn es gilt, die verfassungsgeschichtlichen Strukturen im Alten Reich zu erfassen, insofern zusammen, als das Wichtige vom dem Unwichtigen zu trennen ist. […] Das Bemühen, an der Abfolge von Absetzungen das Werden der Reichsverfassung abzulesen, vereinfacht die Unterscheidung von Wichtigem und Unwichtigem insofern, weil es vor allem auf die Folgewirkungen von Ereignissen ankommen muß. ‚Herkommen’, Kontinuitätsstiftung und Verfassungsbildung hängen eng zusammen. Die Absetzung Friedrichs II. war eine europäische Sensation, wurde im Dekretalenrecht als erinnerungswürdig kommentiert – und wirkte dennoch im Reich nicht verfassungsbildend. Hier sind die Schlüsselereignisse mit den Jahreszahlen 1273, 1338, 1400 und (wegen der Rezeption der Goldenen Bulle in das Wahlverfahren) 1411 markiert.“ Die Problematisierung des „Zufalls als geschichtsmächtiger Faktor“ führt Schubert zu Aussagen wie: „Es gibt nicht unbedingt eine von vornherein angelegte Entwicklungslogik verfassungsgeschichtlicher Prozesse.“ Und: „Zum Wesen der Verfassungsbildung gehört die Begrenzung der Folgen von Zufällen – für die Zukunft. Hier liegt der tiefste Grund für die Sicherung des Wahlprinzips als des leitenden Prinzips der deutschen Königsgeschichte. In dem weiten Feld zwischen Recht und Macht mußten alle, die einem König nicht mehr gehorsam sein wollten, um Begründungen bemüht sein, die eine künftige Herrschaft erst ermöglichen konnten.“

In Anlehnung an Nikolaus’ von Kues Wahldefinition (in: De Concordantia catholica) unterscheidet Schubert vier „Entmachtungsvorgänge“: „Verurteilung, Herrscherverlassung, Anfechtung und Abkehr.“ Und Schubert stellt am Schluss seines Buches mehrere Ergebnisse vor: 1.) „Das tragende Prinzip der Reichsverfassung ist seit spätsalischer Zeit der Konsens zwischen Herrscher und Großen. Mit jeder Königswahl wird dieser Konsens erneuert, mit jedem Absetzungsplan […] eingeklagt.“ 2.) Da vor 1273 „keine verbindliche Wahlform“ im Reich existent war, entwickelte sich dementsprechend auch „nicht einmal ansatzweise ein Verfahren, an das sich Königsgegner halten konnten, wenn sie eine Entmachtung ihres Herrschers planten“. Der „Umkehrschluß vom Wahl- auf ein Absetzungsrecht“ wurde sogar erst nach der Absetzung Wenzels 1400 „allmählich vollzogen“. Noch bei Wenzel behaupteten die Kurfürsten keinesfalls, dass aus ihrem Wahlrecht ein Absetzungsrecht abzuleiten sei. Damit sah sich erst Friedrich III. konfrontiert. Wenzel bedeutete einen Präzedenzfall, der freilich nie zu einem solchen wurde. 3.) „Die in der freien Wahl [des Königs] enthaltene Begrenzung des Gehorsamsgebotes mußte nicht nur gegen den Herrscher, sondern auch gegen den Papst verteidigt werden. Eine andere Form von Gehorsam, die der Untertänigkeit, wurde in Rom und später Avignon gefordert – und im Reich verweigert. Die bedeutende Deklaration von Rhens 1338 über die Freiheit der Königswahl wurzelte tief in der Geschichte seit spätsalischer Zeit. Tatsächlich war die Reichweite der päpstlichen Exkommunikationen von Königen begrenzt. Sie entsprachen nach unseren Kriterien einer Anfechtung, aber nicht einer Entmachtung des Königs.“ 4) „Das Werden der Reichsverfassung lasen wir nicht scheinbaren ‚Grundgesetzen’ wie der Goldenen Bulle ab. Wir werteten selbst die berühmtesten dieser Texte zunächst nicht als Normierungen, sondern als zeitgebundene Geschichtsquellen, deren Wirkungen einer besonderen Prüfung unter den Kriterien von Rezeption und Tradition bedürfen.“ „Das ‚Reichsherkommen’ [und damit eine „Tradition“] ist der Hauptgrund der Verfassungsbildung.“ 5.) „Insbesondere in der Zeit Ludwigs des Bayern erwies sich, welche Kraft die öffentliche Meinung bei der Stabilisierung der königlichen Stellung haben konnte. Sie ließ selbst eine generationenlang währende Bekämpfung dieses König- und Kaisertums lediglich als Anfechtung erscheinen. Dem Begriff der Öffentlichkeit ordnen wir auch jene verallgemeinerbaren Wandlungen im Rechtsdenken zu, die bei unserem Thema vor allem mit dem Reichsbegriff zusammenhängen. Erst mit den Grundsatzdiskussionen zur Zeit Ludwigs des Bayern verbreiten sich Auffassungen von der Transpersonalität des Reiches. Es bildet eine der Voraussetzungen für die Absetzung Wenzels, daß der König ‚von Reiches wegen’ herrsche.“

Den Einfluss der römischen Kirche relativiert Schubert: „Die verfassungsbildende Kraft insbesondere der Kanonistik ist überschätzt worden.“ Und: „Über die Schrift und die Kanonistik schien die Kirche zunächst den entscheidenden Beitrag zur Verfassungsbildung zu leisten zu können [sic]; die Kanonistik hatte ein wesentlich festeres Lehrgebäude errichtet als das weltliche, vom Gedanken des alten Herkommens geprägte Recht. So stand […] die Absetzung von 1245 auf gesichertem kanonistischen Rechtsboden, während im Jahre 1400 bis hin zur Improvisation des Königslagers noch nach den weltlichen Rechtsregeln gesucht werden mußte. Wir unterschätzen gewiß nicht den wachsenden Einfluß des Kirchenrechts auf den königlichen und fürstlichen Amtsgedanken, halten jedoch aus der Perspektive der Königsabsetzungen daran fest, daß die Kirche immer mehr an Einfluß auf die verfassungsprägenden Vorgänge verlor.“

Das Buch bietet eine Fülle weiterer Ergebnisse (und Nebenergebnisse), wie auch der von Schubert am Ende durchgeführte Vergleich europäischer Königsabsetzungen höchst verdienstvoll ist und einer eigenen Bearbeitung wert wäre. Die Zusammenfassung im Umfang von 30 Seiten vermag dementsprechend nicht das weite Panorama zu reflektieren, das insgesamt vom Buch durchmessen wird. Dass das Buch, wie jedes große Werk, da und dort wenige kleine Fehler aufweist, ist mehr als nebensächlich. (In der Literaturliste fehlen manche im Apparat angeführte Titel. Die Stelle „Innozenz III., der die wichtigsten Dekretalen zum Thema Regnum und Sacerdotium geschaffen hat […]“ oder „Dekretalen erlassen hatte“ [S. 541f.], müsste dahingehend korrigiert werden, dass Dekretalen erst durch Kompilation und Aufnahme in eine Dekretalensammlung „entstehen“.) Die Orientierung im umfänglichen Buch wird durch ein Register, das Orte, Personen und Sachen ausweist, sehr gut ermöglicht.

Fazit: ein großes Werk von höchstwahrscheinlich langer Nachhaltigkeit!

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