Es gibt Bücher, die zunächst durch ihren ansprechenden oder sogar aufreizenden Titel auffallen, was nicht selten den Verdacht weckt, ihr Inhalt könnte enttäuschen. Und es gibt Bücher, die einen eleganteren und ansprechenderen Titel wahrhaft verdient hätten. Zu letzteren gehört Michael Peseks Dissertation über "Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880". Denn was Pesek in dieser Studie leistet, ist viel mehr als was die eher willkürlich zusammengesetzten Schlagworte des Titels andeuten. Statt der erwarteten Ereignischronologie und Strukturanalyse erzählt das Buch die hinter- und untergründige Geschichte Ostafrikas, indem es seinen Blick auf die Innenseite der kolonialen Eroberung richtet, auf die Wahrnehmungen und Fantasamen, aber auch auf die Missverständnisse und Verwirrtheiten der kolonialen Begegnung. Bei Pesek wird deutlich, was Kolonisierung diesseits der offiziellen Installierung eines neuen Herrschaftsraums auf der praktischen und alltäglichen Ebene war: eine körperliche Praxis des Reisens und der Bewegung, der räumliche Durchdringung und zeitlichen Orientierung, eine Ökonomie der Routen und allmählichen Erschließung, immer verbunden mit den prekären Versuchen des Kulturkontakts, mit der Verwirrung von Sprachen und mit kaum gelingenden Kommunikationsbemühungen. Erst im weiteren Verlauf der Kolonisierung stifteten dann die Disziplinierung der Körper und das sich ausbildende Netz kolonialer Stationen eine erste Machtordnung, die bestimmte Subjektpositionen ausbildete, in ihrem Innern aber immer labil und von Auflösungstendenzen geprägt blieb.
Pesek schließt damit an die von der jüngeren Geschichtswissenschaft und Soziologie betonte These einer strukturellen Instabilität kolonialer Herrschaft an. Doch während diese meist entweder nur theoretisch hergeleitet oder durch Strukturanalysen aufgezeigt wird, rekonstruiert Pesek für den ostafrikanischen Raum ihre historische Genese: von den ersten Expeditionen bis zur endgültigen Stabilisierung der Kolonie 1903, kurz bevor sie im Maji-Maji-Aufstand dann von der ersten großen anti-kolonialen Bewegung erfasst wurde. Pesek geht es nicht darum, das Prekäre und Labile der kolonialen Herrschaft als ihre Schwäche aufzuzeigen. Vielmehr will er, in recht deutlichem Anschluss an Hannah Arendt und Michel Foucault, die "lokalen Wurzeln" der koloniale Machtordnung freilegen und nachweisen, dass sich ihre typischen Merkmale aus den je spezifischen Formen der Durchdringung des kolonialen Raums entwickelten. Entsprechend untersucht er zuerst die politische, ökonomische und symbolische Dimension des Karawanenhandels, jener im ostafrikanischen Raum lange vorherrschenden Form des translokalen Austauschs, die nicht nur erste Stufe der Einbindung dieser Region in den globalen Wirtschaftsraum war, sondern auch ein weit verzweigtes Netzwerk von Wegen und Wissensbeständen kreierte, in dessen Bahnen sich auch die spätere Erforschung und Kolonisierung durch die Europäer weitgehend vollzog.
Deren Erschließung des ostafrikanischen Raums und vor allem das von ihnen an einem bestimmten Punkt vollzogene Umschalten von der wissenschaftlich motivierten Erforschung zur machtpolitisch motivierten Eroberung illustriert Pesek an der berühmten Usagara-Expedition Carl Peters'. Aus einer fast kompletten Unwissenheit heraus, angewiesen auf spärliche Informationen über die Karawanenwege und allein mit Hilfe einer angelesenen Symbolik versuchte Peters, seine Eroberungen durch abstruse Rituale zu markieren, die fast ausschließlich seiner kolonialen Phantasie entsprangen und die Tradition jener "Gesten der Inbesitznahme" fortsetzten, wie sie Stephen Greenblatt für die 'conquistadores' des 16. Jahrhunderts analysiert hat. Doch so absurd diese Formen der Machtinstallation rückblickend auch erscheinen, Pesek argumentiert überzeugend, dass sich in diesen Formen der kolonialen Theatralik eben jene auf Unsicherheit, Missverständnis, Rollenspiel, Täuschung und Inszenierung beruhende Machtordnung des kolonialen Raums herausbildete, die gerade aufgrund ihrer inneren Labilität ständig zur Gewalt neigte. Damit begann mit Peters' Theater der Inbesitznahme für Ostafrika genau das, was Hannah Arendt später mit einer Redewendung Rudyard Kiplings das "große Spiel" der kolonialen Herrschaft nannte, das erst vorbei ist, "wenn alle tot sind".
Entsprechend blieb auch im weiteren Verlauf der Kolonisierung Ostafrikas, wie Pesek sie darstellt, der koloniale Raum über weite Strecken offen wie ein Spielfeld, begrenzt und markiert allein durch das Wissen von einem metropolitanen Machtzentrum, durch immer umkämpften Grenzen zu konkurrierenden Imperien und durchzogen von einem anfänglich sehr dünnmaschigen Netz kolonialer Stationen, die Pesek treffend als "Herrschaftsinseln" bezeichnet. Erst von diesen Stationen aus begann die allmähliche Transformation der Kolonisierung von einer auf Wege und Bewegungen angewiesene Erschließung in eine auf Durchdringung und Stabilisierung angewiesene koloniale Herrschaftsordnung. Dieser Wandel ging vor allem mit zwei neuen Entwicklungen einher: mit der Disziplinierung der Kolonisierten durch bevölkerungspolitische Maßnahmen der medizinischen und sozialen Kontrolle sowie mit ihrer Integration als Arbeitskräfte oder auf dem Wege der Ausbildung afrikanischer Truppenkontingente. Erst mit diesem Umschlag von der Erschließung kolonialer Räume zur Kontrolle kolonisierter Bevölkerungen, so macht Pesek deutlich, lässt sich für Deutsch-Ostafrika von einer kolonialen Herrschaft im engeren Sinne sprechen. Doch blieben auch hier die bürokratischen und administrativen Formen der Macht so labil wie willkürlich und war der "koloniale Staat" weit davon entfernt, eine berechenbare Ordnung darzustellen. Die "Entropie", die von Anfang an in ihm wohnte, verschwand nie und konnte allein durch massive Gewalt, wie 1905 bei der Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands, zeitweilig aufgehalten werden.
Peseks Studie lebt nicht nur von einer umfangreichen Quellensammlung und klugen Quellenauswahl, sondern noch mehr von einer besonderen Lesart seines Materials. Als ausgebildeter Theaterwissenschaftler versteht er es, aus den Akten, Berichten und Darstellungen die tatsächlichen Praktiken und Gesten, Handlungen und Selbstpräsentationen der Akteure zu rekonstruieren und in ausgesprochen lesbarer Form vor Augen zu führen. Seine Form von Geschichtsschreibung achtet auf die Performanz dessen, wovon die Quellen berichten, ist aber ebenso sensibel gegenüber ihrem Sprachgebrauch und hat einen besonderen Blick für symbolische Ordnungen und für Widersprüche ebenso wie für Zusammenhänge, die manchen Historiker/innen, die ihre Quellen allein als Informationsbestände und Belege lesen, entgehen. Damit zeigt Peseks Studie, dass die Geschichte des Kolonialismus ein Feld ist, das nicht nur erst in den vergangenen Jahren überhaupt wieder mehr ins Blickfeld der Forschung gerückt ist, sondern sich auch in besonderem Maße für eine interdisziplinäre Erforschung anbietet. Denn was in Peseks Blick auf die vermeintlich fremden, obskuren und performativen Aspekte der Kolonisierung vor allem beeindruckt, ist, dass gerade in ihnen die langfristigen Kontinuitäten der europäischen Expansion deutlich werden, die unsere heutige globalisierte Welt sehr viel mehr geprägt haben als die bekannten Fakten ihrer Chronologie.