Nur wenige Bücher haben eine solche Bedeutung für die Geschichte des Dritten Reiches, kaum eines hat eine so dunkle Entstehungsgeschichte und um keines ranken sich so viele Legenden und Mythen wie gerade um Hitlers Buch „Mein Kampf“. Licht in dieses Dunkel zu bringen, ist das Ziel der hier anzuzeigenden groß angelegten, umfänglichen Studie von Othmar Plöckinger.
Dazu analysiert der Autor in einem ersten großen Abschnitt die Entstehungsgeschichte, arbeitet sodann die komplizierte Publikationsgeschichte auf und untersucht schließlich die Rezeptionsgeschichte dieser Programmschrift im In- wie im Ausland. Auf dem letzten Abschnitt liegt das Schwergewicht der Darstellung mit rund 400 Seiten, weil es dem Verfasser vor allem auch um die Infragestellung der These von dem vielfach „ungelesenen Buch“ geht. Ob dies wirklich gelungen ist, bleibt fraglich, muss doch der Autor oft eingestehen, dass das von ihm genutzte Quellenmaterial problematisch ist oder schlicht nicht ausreicht. Unzweifelhaft ist dagegen das beeindruckende Bemühen Plöckingers, jedem noch so verstreuten Hinweis auf die Publikationsgeschichte, jeder irgendwie aufzuspürenden zeitgenössischen Äußerung über die Rezeption des Buches nachzugehen und diese für seine Darstellung fruchtbar zu machen. So ist ein Buch entstanden, das außerordentlich detailliert die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von „Mein Kampf“ nachzeichnet und daher sicherlich zu einem Referenzwerk für alle Fragen werden wird, die sich um diese zentrale Schrift ranken.
Plöckingers akribische Quellenrecherche deckt manche bislang unbekannten oder von Legenden überwucherten Zusammenhänge auf. Erst Ende 1923, so kann er nachweisen, lassen sich Vorarbeiten für das Buch sicher feststellen. An den in der Landsberger Haftzeit entstandenen Abschnitten dürfte entgegen allen immer wieder zu lesenden Behauptungen (so etwa auch in der Hitler-Biographie Ian Kershaws) der Anteil von Rudolf Heß weit weniger bedeutsam sein als bislang angenommen. Dies wurde schon 1934 im „Völkischen Beobachter“ richtig gestellt! Auch das Gerücht, der ehemalige katholische Pfarrer Bernhard Rudolf Stempfle habe das Buch beeinflusst, kann Plöckinger mit guten Gründen zurückweisen. Der Titel des Buches war wohl ein Zufallsprodukt: Erst im Februar 1925 tauchte er in Verlagsanzeigen auf, die das „Werk“ schon lange angekündigt hatten, das dann aber immer wieder auf sich hatte warten lassen. Ein Verkaufserfolg wurde es erst ab circa 1930, auch im Ausland, wo es vor allem in Palästina und im Irak interessierte arabische Leser fand.
Aus vielen Blickwinkeln arbeitet Plöckinger die Rezeptionsgeschichte auf. Beeindruckend ist die Vielzahl von Denkschriften staatlicher Dienststellen, von Zeitungsrezensionen unterschiedlichster politischer und konfessioneller Provenienz, die früh genug vor dem kommenden Diktator auf der Grundlage von „Mein Kampf“ warnten. Zu diesen Warnern gehörten vor allem katholische Blätter und geprägte Katholiken wie Fritz Michael Gerlich oder Ingbert Naab. Beeindruckend gleichwohl aber auch die Zahl derer, die das Buch und seinen Verfasser falsch einschätzten. Zu Letzteren gehörten auch die jüdische Presse oder die Demokraten der Weimarer Republik. Dass dennoch die Rede von dem weithin ungelesenen Buch aufkommen konnte, lag am Ende an Hitlers innerparteilichen Gegnern, vor allem an Otto Strasser, der sie in die Welt setzte, um das Buch als unwichtig zu brandmarken. Konrad Heiden tat nach Plöckinger sodann alles, um diese Vorstellung weiter zu verbreiten.
Sogar nach Spuren der Rezeption in der Wirtschaft oder bei den Gewerkschaften wie auch in der Wissenschaft wird vom Autor gefahndet, mit zum Teil bemerkenswerten Ergebnissen: Hjalmar Schacht hatte es z.B. gelesen, wohl aber kaum gründlich. Der Bonner Psychiater Walther Poppelreuter machte es 1932 erstmals zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Lehrveranstaltung, was Hitler schmeichelte. Nach 1933 freilich war die Partei bemüht, jede Form von Kommentierung oder öffentlicher Auseinandersetzung mit dem Buch zu verhindern, damit dem Ansehen des „Führers“ nur kein Schaden bereitet werde. Schade nur, dass Plöckinger die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung als gewerkschaftsähnliche Organisation offensichtlich übersieht. Angesichts der intensiven Auseinandersetzung und Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, die in diesen Kreisen schon lange vor 1933 gepflegt wurde, steht zu vermuten, dass die KAB-Presse noch einiges zur Rezeptionsgeschichte von „Mein Kampf“ hätte beitragen können.
Dass das Buch dann spätestens ab 1933 zu einer Art „Bibel“ des Nationalsozialismus wurde und weite Verbreitung erlangte, ist bekannt. Gemeinhin wird für die steigende Auflagenhöhe nicht zuletzt der Umstand verantwortlich gemacht, dass es von den Standesämtern bei Eheschließungen verschenkt worden sei. Auch dem geht Plöckinger nach und stellt die Richtigkeit dieser Erinnerung fest, gleichwohl mit Einschränkungen. Viele große Städte wie z.B. Frankfurt am Main weigerten sich beharrlich, das teure Buch, das die Stadtkasse erheblich belastet hätte, für solche Zwecke anzukaufen. Der Leipziger Oberbürgermeister und spätere Widerstandskämpfer Carl Goerdeler wehrte sich ebenso hartnäckig und mit fadenscheinigen Argumenten gegen eine solche Absatzförderung. Nimmt man alles zusammen und rechnet ebenso ein, dass die öffentlichen Bibliotheken zum Ankauf geradezu gezwungen wurden (wenn auch nicht gleich zum Erwerb von 120 Exemplaren wie in der Essener Stadtbibliothek), so weist der millionenfache Absatz immer noch auf ein erhebliches privates Kaufinteresse, das insbesondere für die Jahre bis etwa 1937 festzustellen ist. Danach und insbesondere in der Kriegszeit ließ das Verlangen nach dem Buch spürbar nach. Dies dokumentieren auch die nur spärlich überlieferten Ausleihzahlen der öffentlichen Bibliotheken. Offen muss freilich auch hier die Frage bleiben, wie intensiv das Buch wirklich rezipiert wurde. Vielleicht trifft da das Urteil von Stefan Zweig über die Lektüre seiner Schriftstellerkollegen auch auf die Allgemeinheit zu: „Die wenigen unter den Schriftstellern, die sich wirklich die Mühe genommen hatten, Hitlers Buch zu lesen, spotteten, anstatt sich mit seinem Programm zu befassen, über die Schwülstigkeit seiner papiernen Prosa.“ (S. 451)
Ganz ähnlich sahen die Verhältnisse auch bei der Auslandsrezeption aus, über die bereits Forschungsarbeiten, etwa im Hinblick auf Großbritannien und die USA, vorliegen. Hier ergänzt Plöckinger den Wissensstand, insbesondere auch über Frankreich, die UdSSR und die Komintern, wo man Hitlers Werk zwar früh las, sich in ideologischer Verblendung jedoch weigerte, den deutschen Diktator als Ideologen wahr- und ernst zu nehmen.
Recht unvermittelt hört Plöckingers Studie nach dem Blick ins Ausland auf, ohne ein Schlusswort oder eine Zusammenfassung. Letztere fehlt deutlich, auch wenn einzelnen Kapiteln Kurzresümees beigegeben sind. Auch wünschte man sich am Ende einen, wenn auch noch so kurzen Ausblick auf die Zeit nach 1945, die die Nachkriegsrezeption, den Streit um die Rechte an dem Buch und vieles mehr hätte thematisieren müssen. Aber das mag nach 577 Textseiten vielleicht auch zu viel verlangt sein, zumal dann, wenn es mit der gleichen Akribie bearbeitet worden wäre, mit der Othmar Plöckinger Maßstäbe gesetzt hat.