K. Capková: Ceši, Nemci, Zidé? Národní identita Zidu v Cechách 1918-1938

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Titel
Ceši, Nemci, Zidé?. Národní identita Zidu v Cechách 1918-1938


Autor(en)
Capková, Katerina
Anzahl Seiten
355 S.
Preis
Kc. 299,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinrich Georg Jiri Kosta, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Die Juden in West- und Mitteleuropa, die seit Jahrhunderten in der Diaspora leben, haben mit der Aufklärung und der mit ihr einhergehenden Emanzipation einen bemerkenswerten nationalen Identitätswandel vollzogen. Hatten sie ihrem Selbstverständnis gemäß ebenso wie in der Sicht ihrer jeweiligen Umwelt zuvor eine eigenständige ethnische Gemeinschaft gebildet, so war im 19. Jahrhundert im Zuge der sukzessiven Assimilation und Säkularisierung des Judentums dessen nationale, mitunter auch konfessionelle Identität nicht mehr eindeutig zu bestimmen. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts deutete das Nationalbewusstsein der west- und mitteleuropäischen Juden bereits auf eine weitgehende Integration in das jeweilige nationale Umfeld hin, wobei sie ungeachtet der Säkularisierung ihre Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft – wenngleich häufig nur mehr formell – aufrechterhielten. Dennoch bleibt die Frage, ob jüdische Bürger in der Diaspora nach der vollzogenen Emanzipation immer noch eine eigene nationale Volksgruppe gebildet haben bzw. bilden, oder ob sie bereits ihre nationale Identität zugunsten des sie umgebenden Umfeldes aufgegeben haben, immer noch umstritten.

„Die nationale Identität der Juden in Böhmen“ wirft sowohl unter den Bedingungen der österreichisch-ungarischen Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg, als auch nach der Gründung der Tschechoslowakei im Jahre 1918 ein spezifisches Problem auf. Der kulturelle Integrationsprozess des Judentums in Böhmen (und auch in Mähren) verlief hier infolge der Existenz von zwei vorherrschenden Volksgruppen – den Tschechen und den Deutschen – doppelgleisig. Hielt zudem ein Teil der Betroffenen, die sich der Integration verweigern wollten, an ihrer bisherigen der Tradition verhafteten Identität fest, dann entsteht die dreifache Frage, ob bzw. inwieweit die Juden in Böhmen zur Zeit der ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-1938) unter nationalen Gesichtspunkten als "Tschechen, Deutsche (oder) Juden" (vgl. den Titel des Buchs) zu betrachten waren. Dies bildet die Thematik der Analyse von Katerina Capková. Das Fazit der in fünf Kapiteln durchgeführten aufschlussreichen Untersuchung wird einleitend vorweggenommen: "Für die jüdische Bevölkerung war eine Pluralität der Identitäten besonders typisch" (S. 12). Es geht um ein "komplexes und nur sehr mühsam zu entschlüsselndes Problem", da sich die unterschiedliche Gewichtung der drei ethnischen Elemente in der jüdischen Gemeinschaft in drei sich ab und zu überlagernden Strömungen widerspiegelt, nämlich den Juden, deren Identität jeweils als deutsch ("deutsche Juden"), als tschechisch ("Tschecho-Juden") oder schließlich als jüdisch ("Zionisten") definiert wird.

Ehe die Autorin auf diese drei Strömungen näher eingeht, werden zunächst die spezifischen Wesenszüge der jüdischen Kommunität in ihrer Gesamtheit herausgestellt (Kap. I). So gab es unter den böhmischen Juden keine nennenswerte Arbeiterschaft, ferner fand keine Einwanderung von Glaubensgenossen aus Osteuropa nach Böhmen statt, und schließlich nahm seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der Zuzug von Landjuden in die Städte, allen voran nach Prag, enorme Ausmaße an. All das trug dazu bei, dass der Prozess der Säkularisierung des Judentums in Böhmen (nicht ganz so sehr in Mähren) weiter vorangekommen war als in anderen west- und mitteleuropäischen Ländern einschließlich Deutschlands.

In Kapitel II wird anhand statistischer Daten die sich wandelnde Zusammensetzung der jüdischen Bürger Böhmens nach ihrer nationalen Identität in groben Zügen nachvollzogen. Es war ein Unikum der tschechoslowakische Statistik, dass in den zwei Volkszählungen (1921, 1930) neben der konfessionellen Zugehörigkeit auch aufgrund der eigenen Option eines jeden Bürgers Angaben über dessen "Nationalität" ausgewiesen wurde. Dies war auf den Wunsch der jüdisch-national orientierten Gruppierungen zurückzuführen, die – von führenden Persönlichkeiten der tschechischen Eliten an der Spitze mit dem ersten Präsidenten Tomás G. Masaryk unterstützt – sich nicht als (konfessionelle) Juden deutscher bzw. tschechischer Nationalität deklarieren wollten. Statistische Daten für das Jahr 1921 zeigen, dass die nationale Zusammensetzung in den vier Landesteilen der Republik deutlich differierte. So bekannte sich eine knappe Hälfte der Juden in Böhmen zur tschechischen Nationalität, mehr als ein Viertel zur deutschen, und die restlichen etwa zehn Prozent zur jüdischen Nationalität (abgesehen von einem geringfügigen Anteil anderer Nationalitäten). In Mähren hingegen optierten knapp 50 Prozent der Juden für die jüdische, und – grob gerechnet – je ein Viertel für die deutsche bzw. tschechische Nationalität. In der Slowakei und noch stärker in östlichen Karpatorussland dominierte der Anteil der "Juden jüdischer Nationalität". Eine andere Statistik, in welcher die Veränderung der nationalen Zugehörigkeit der böhmischen Juden im ersten Jahrzehnt des Bestehens der Tschechoslowakei ausgewiesen wird, zeigt das folgende Bild: der Anteil der Juden tschechischer Nationalität lag 1921 in Böhmen bei knapp 50 Prozent und 1930 bei 46 Prozent, der Anteil der sich als deutsch erklärender jüdischen Bürger bei 35 Prozent (1921) resp. 31 Prozent (1930). Die Anteile der "Juden jüdischer Nationalität" Böhmens stiegen hingegen von 15 Prozent (1921) auf 20 Prozent (1930) an. Da es bis zum Ende der ersten Republik im Jahre 1938 keine weitere Volkszählung gab, können lediglich Vermutungen über den Trend der Veränderung in den letzten acht Jahren des Bestehens der Vorkriegstschechoslowakei angestellt werden. Wie an etlichen Stellen des Buchs angedeutet wird, hat im Hinblick auf die politischen Entwicklungen nach 1933 im Dritten Reich und etwas später in den Sudeten eine radikale Abkehr der Juden in Böhmen und Mähren von ihrer Affinität zum deutschen Kulturkreis zugunsten der Hinwendung zu den beiden anderen Optionen, zu ihrer tschechischen Umwelt und zu einem national jüdischen Identitätsbewusstsein, stattgefunden.

Das III. Kapital befasst sich mit den deutschen Juden, deren Assimilation zum Ende des 18. Jahrhunderts mit den Reformen Josefs II. die Emanzipation der Juden (und anderer Minderheiten) im Vielvölkerstaat der Habsburger einleitete. Die zügige Integration eines beträchtlichen Teils des böhmischen Judentums in das Milieu der deutschen Oberschicht war durch mehrere Faktoren begünstigt worden: so zunächst durch die Ideen der europäischen Aufklärung, die sich nahezu gleichzeitig im deutschsprachigen Mitteleuropa und unter maßgebenden Vertretern/innen der sich von der Orthodoxie abwendenden böhmischen Juden vollzog; weiter durch die Migration jüdischer Familien vom Land in die Städte, wobei das Zuzugsziel neben Prag vor allem die von Deutschen besiedelten wirtschaftlich und kulturell hoch entwickelten Städte Nord- und Westböhmens bildeten; und schließlich durch den vom Thron ausgeübten Druck in Richtung Germanisierung (im Bereich des Schulwesens, hinsichtlich beruflicher Karrierechancen etc.). Die Verfasserin versäumt es nicht, auf den einmaligen intellektuellen Aufstieg der deutschsprachigen Juden hinzuweisen, der in der Ära der Ersten Republik gipfelte. In diesem Kontext werden von der Autorin berühmte Schriftstellern/innen und Literaten/innen genannt – unter anderem Franz Kafka, Max Brod, Egon Erwin Kisch, Franz Werfel, deren Namen durch weitere namhafte Persönlichkeiten aus den Bereichen von Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik ergänzt werden könnten. Abschließend wird in dem Kapitel darauf hingewiesen, dass sich in den 1930er-Jahren die Juden im deutschen Grenzgebiet den zionistischen Strömungen angenähert haben, im Binnenland zudem eine rapide Abkehr vom deutschen Kulturkreis zum tschechischen Milieu unverkennbar war.

Deutlich später als die Angleichung an das deutsche Bildungsbürgertum zeichnete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Bemühen von Teilen der jüdischen Bevölkerung um eine Integration in ihre tschechische Umwelt ab (Kap. IV). Ein Zeichen setzte in dieser Richtung die 1876 vollzogene Gründung des Vereins der tschechisch-jüdischen Akademiker/innen in Prag. Den Anstoß zu dessen Konstituierung gaben jüdische Hochschulstudenten/innen, die vorwiegend vom tschechisch geprägten Land in die Hauptstadt Prag gezogen waren. Die zunehmend weitere Kreise des böhmischen Judentums erfassende Strömung der "Tschecho-Juden" ("Cechozidé") unterschied sich in der Stoßrichtung von den deutsch orientierten Juden: bekämpften die deutschen Juden in erster Linie den sie ausgrenzenden Antisemitismus der Deutschnationalen, so betrachteten die Tschecho-Juden diejenigen ihrer Glaubensgenossen/innen als die zu bekämpfenden Gegner, die sie abfällig als Vorreiter/innen der Germanisierung apostrophierten. Nach Gründung der Tschechoslowakei wandten sich die tschechischen Juden zunehmend gegen die aufkommende zionistische Bewegung. Die Autorin beschreibt ferner ausführlich die Konflikte, die innerhalb der tschecho-jüdischen Strömungen immer wieder aufflammten. Dabei ging es, vereinfacht wiedergegeben, um einen Widerstreit zwischen eng nationalistisch orientierten Gruppierungen einerseits und den Vertretern/innen einer weit gefassten national-liberalen Gesinnung.

Die dritte Gruppe der böhmischen Juden, die sich von den beiden ersten, auf Assimilation hinsteuernden Strömungen unterschied, bildeten die "Zionisten" (Kap. V). Während der Zionismus meist als Plädoyer für eine Rückführung der Juden in das Land Israel definiert wird, sind in der vorliegenden Arbeit unter die Gruppe der Zionisten/innen alle jüdische Bürger einbezogen, die ihre nationale Identität als jüdisch erklären, und zwar unabhängig davon, ob sie eine Auswanderung in "ihren" Staat anstrebten oder im Land bleiben wollten. Auch in der zionistischen Bewegung macht die Autorin zwei widerstreitende Konzeptionen aus, eine an Theodor Herzl anknüpfende, eher pragmatisch orientierte Richtung, die als Reaktion auf den Antisemitismus die Errichtung eines eigenen Staates der Juden postulierte, und ein zweites Konzept, das den Ideen von Martin Huber folgend für eine Renaissance jüdischer Traditionen, für das Wiedererwecken eines jüdischen Gemeinschaftsgeistes plädierte, ein Ansinnen, das für das Judentum unabhängig davon gelten sollte, ob es im eigenen Staat oder in der Diaspora lebte. Interessanterweise waren es nach der Staatsgründung nicht die Tschecho-Juden, sondern vor allem Zionisten/innen der zweit genannten Gruppe (Max Brod und andere), die sich als Sprecher/innen der jüdischen Bevölkerung in Verhandlungen mit der neuen politischen Führung unter Masaryk durchsetzten. Es würde den Rahmen der Besprechung sprengen, wollte man die detaillierten Ausführungen der Verfasserin zur Entwicklung der jüdischen Nationalbewegung in der ersten Republik, zu weiteren Auseinandersetzungen einzelner zionistischer Gruppierungen nach 1918, sowie zu den folgereichen Auswirkungen der dramatischen Ereignisse auf die zionistische Bewegung nachzeichnen.

Im Schlusskapitel hebt die Autorin die folgenden bemerkenswerten Charakteristika der Stellung des böhmischen Judentums in der Vorkriegstschechoslowakei hervor: 1) die jüdische Gemeinschaft Böhmens wies alle Merkmale der Westjuden auf – so einen hohen Urbanisierungsgrad, einen mehrheitlichen Anteil der Mittelklasse, eine Abkehr von der Orthodoxie sowie eine zügige Integration in Sprache und Kultur der Umwelt; 2) die rasch vorankommende Assimilierung der Juden war durch die Aufgeschlossenheit der umliegenden Bevölkerung, den hohen Säkularisierungsgrad der Juden sowie deren nichtjüdischer Mitbürger/innen, und nicht zuletzt durch die positive Einstellung der politischen und intellektuellen Eliten des Staates gegenüber der jüdischen Gemeinschaft begünstigt worden; 3) abgesehen von einigen Ausschreitungen gegen jüdische Bürger kurz nach dem ersten Weltkrieg gab es in der tschechischen Gesellschaft keinen nennenswerten Antisemitismus – dies galt in geringerem Maß für die Slowakei und vor allem nach 1933 kaum für die deutschen Grenzgebiete; 4) im Verlauf des zwei Jahrzehnte währenden Bestehens der Republik hat sich eine Umorientierung der weit überwiegenden Mehrheit der Juden in Böhmen und Mähren von der deutschen Sprache und Kultur auf die Sprache und Kultur ihrer tschechischen Mitbürger vollzogen: 5) alle drei politischen Strömungen, die innerhalb der jüdischen Kommunität agierten – die der tschechischen, der deutschen und der zionistisch ausgerichteten Juden – verband ihre Loyalität zur Tschechoslowakei, ja ein vielfach inniges Verhältnis zu "ihrem" Land.

Die Literatur zur neueren Geschichte der Juden in Böhmen ist mit dem Buch von Katerina Capková um eine Reihe neuer, bislang kaum bekannter Erkenntnisse erweitert worden, an denen die Forschung nicht vorbeigehen kann. Es wäre wünschenswert, wenn diese herausragende Arbeit durch eine deutsche oder zumindest englische Übersetzung einem breiteren Kreis von Historikern/innen zugänglich gemacht würde.

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