Titel
Verdun. Mythos und Alltag einer Schlacht


Autor(en)
Münch, Matti
Erschienen
München 2006: Martin Meidenbauer
Anzahl Seiten
565 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Pöppinghege, Historisches Institut, Universität Paderborn

Vom Westen wenig Neues erfährt der Leser dieser Konstanzer Dissertation, wenn er sich zuvor bereits mit der Militär- und Diskursgeschichte des Ersten Weltkriegs auseinandergesetzt hat. Als Gliederungskriterium dient Münch – wie im Titel angedeutet – die Beschreibung des Frontalltags sowie die Rezeption der Schlacht um Verdun, die sich fast über das gesamte Jahr 1916 hinzog. Der Beschreibung des Frontalltags ist mehr als die Hälfte des Umfangs (über 300 Seiten) gewidmet. Vielversprechender, weil hinsichtlich der Fragestellung innovativer und mit deutlich mehr Gewinn zu lesen kommt der letzte, leider mit 135 Seiten recht knapp gehaltene Teil über die Verdun-Rezeption daher. Ein eigenes Kapitel ist der posttraumatischen Verarbeitung durch die Verdun-Kämpfer gewidmet.

Münch attackiert die gängige These, der Verdun-Mythos – unter anderem die Einzigartigkeit der physischen und psychischen Belastung sowie die aufopferungsvolle Bindung französischer Kräfte – sei schon zu Kriegszeiten entstanden. Dem setzt er seine spätere Datierung für die 1920er Jahre entgegen und zeigt dies unter anderem an der bereits 1916 nachlassenden Berichterstattung in Teilen der Tagespresse. Als Vergleich dient ihm wiederholt die andere Materialschlacht des Weltkriegs an der Somme, die die Verluste und Leiden weiter südwestlich noch in den Schatten stellte. Das Ausharren an der Somme ließ sich propagandistisch zunächst besser darstellen als die erfolglose Bestürmung der Höhen von Verdun. Erst „Mitte der 1920er Jahre beginnt jedoch eine verklärende Interpretation der Schlacht“. (S. 446) Maßgeblich beteiligt hieran war das Reichsarchiv mit seinen umfänglichen Publikationen zum Weltkrieg.1 Ihrem Höhepunkt strebte die Mythisierung unter den Nationalsozialisten zu: Gefragt war nicht mehr der ausharrend-verteidigende Typ Frontsoldat wie in der Schlacht an der Somme. Das neue Frontkämpferbild verlangte nach charakterstarken, opferbereiten Angreifern, wie sie bei den Kämpfen am Douaumont vermeintlich anzutreffen waren – und wie sie andernorts bereits klar beschrieben worden sind. 2 An dieser Stelle wäre ein Vergleich mit dem Langemarck-Mythos nutzbringend. Denn die vorwärts stürmenden Studenten des Jahres 1914 dienten den Nationalsozialisten mindestens ebenso sehr zur Mythisierung wie die Verdunschlacht von 1916. Als zentraler Gründungsmythos des Dritten Reiches taugte „Verdun“ nicht, spätestens mit der Niederlage vor Stalingrad sei der öffentliche Verdun-Diskurs zurückgetreten, so Münch. In der Bundesrepublik nahm „Verdun“ die Funktion einer allgemeinen Metapher für den Materialkrieg und die Sinnlosigkeit des Krieges schlechthin an.

Wenig reflektiert wird von Münch das Sample seiner benutzten Quellen, die eher auf zufällige Verfügbarkeit vor Ort denn auf gezielte Auswahl schließen lassen: da müssen allein der Schwäbische Merkur, die Berliner Illustrierte Zeitung sowie einige Feld- und Armeezeitungen als Beispiele für die feldgraue Tagespresse im Deutschen Reich herhalten. Sie mögen hierfür repräsentativ sein oder nicht, doch hätte dies in einer historiografischen Qualifikationsarbeit wenigstens methodisch reflektiert werden dürfen. Ausgiebig zitiert werden außerdem Zeitschriften und Zeitungen von einigen Tübinger Studentenverbindungen. Als problematisch erscheint auch die Verwendung der vielen anderen Quellen wie Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Regimentsgeschichten und nach Kriegsende erschienene Autobiografien. Es mag zunächst erstaunen, dass Münch dieselben Quellen heranzieht, um den Frontalltag und den Verdun-Mythos gleichermaßen zu erklären. Bunt gemischt tauchen Tagebuchauszüge neben Zitaten zeitgenössischer Romanhelden als Beleg für den „realen“ Frontalltag auf. In diesen Fällen mangelt es schlichtweg an quellenkritischer Distanz: So werden Romane nicht aus der Perspektive der Wahrnehmungsgeschichte, sondern tatsächlich als historische Quellen gelesen. Zitate – und leider auch viele Banalitäten – werden unreflektiert aneinandergereiht und nicht zielführend im Sinne einer durchgängigen Fragestellung interpretiert: „Die Anwesenheit von Läusen löste als Reaktion ,Beißen und Kratzen’ aus.“ (S. 121) Wer dies bis hierhin noch nicht geglaubt hat, wird mit weiteren ungezählten Zitaten auf den folgenden sechs (!) Seiten davon überzeugt, dass deren „Anwesenheit“ im Schützengraben für die Soldaten unangenehm war. Oder: „Die extremste Form der Selbstverstümmelung ist der Suizid.“ (S. 326) Wohl wahr!

Vielfach präsentiert Münch seinen umfangreichen Zitatenschatz ohne weiterführende Analyse. Da hat dann der Soldat XY dies gesagt, ein anderer etwas Ähnliches. Und ein Dritter bringt eine weitere Zitat-Variante ein. Das Spezifische des Frontalltags vor Verdun wird nicht so recht deutlich, was ja eben auch eine wichtige Erkenntnis sein kann. Doch reicht es dazu, sich allgemein beispielsweise in der „Enzyklopädie Erster Weltkrieg“ 3 oder im Sammelband „Frontalltag im Ersten Weltkrieg“ 4 zu informieren, die übrigens auch von Münch ausgiebig benutzt wurden. So findet sich vieles, was richtig, aber keineswegs neu ist. Der Rezensent fragt sich, wozu es gut sein soll, mehr als 300 Seiten zu lesen, um dann mit der wenig überraschenden Aussage konfrontiert zu werden, der Frontalltag vor Verdun habe sich nicht von dem an der Somme oder in Flandern unterschieden. Um die sicherlich berechtigte Frage zu beantworten, welche Rolle „die Schlacht von Verdun 1916 im kollektiven deutschen Gedächtnis während des 20. Jahrhunderts“ (S. 2) spielte, hätte es eines neuerlichen Aufgusses der Frontalltagsthematik in derartiger Ausgiebigkeit und quellenkritischer Unzulänglichkeit nicht bedurft.

Dem Autor ist allerdings eine ungeheure Fleißarbeit zugute zu halten, die sich sowohl auf die Quellen als auch die einschlägige Forschungsliteratur erstreckt. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass die mittlerweile in der Historiografie zum Ersten Weltkrieg aufgeworfenen Fragen zur Geschlechtergeschichte oder die Totalisierungsdebatte unberücksichtigt bleiben. Angesichts der (Selbst-)Stilisierung der Verdun-Kämpfer als Männer in „Stahlgewittern“ wäre daher auch ein geschlechtergeschichtlicher Zugriff naheliegend gewesen. Matti Münch hat viele wichtige und richtige Fragen zum Verdun-Mythos aufgeworfen. Seine zentrale These, die Mythisierung sei vor allem von rechten Kreisen und später von den Nationalsozialisten vorangetrieben worden, erscheint trotz aller Kritik plausibel.

Anmerkungen
1 Die Arbeit von Pöhlmann, Markus, Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik: der Erste Weltkrieg: die amtliche deutsche Militärgeschichtsschreibung 1914–1956, Paderborn 2002, wurde nicht rezipiert.
2 Die Arbeit von Schilling, René, „Kriegshelden“. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813-1945, Paderborn 2002, wurde nicht rezipiert.
3 Hirschfeld Gerhard; Krumeich, Gerd; Renz, Irina (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003.
4 Ulrich, Bernd; Ziemann, Benjamin (Hrsg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1994.