Im September 1923 trafen sich in Wien Delegierte von Polizeibehörden aus 16 europäischen Staaten sowie aus den USA, Ägypten, der Türkei und Japan und gründeten die Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission (IKPK) – die direkte Vorgängerin der heutigen Interpol. Der Vor- und Frühgeschichte dieser Organisation und damit der Genese einer internationalen Polizeikooperation widmet sich der Historiker Jens Jäger mit seiner nun in Buchform erschienenen Kölner Habilitationsschrift aus dem Jahr 2004.
Jäger kombiniert verschiedene methodische Ansätze der Historiografie wie der Kriminologie in reflektierter Weise – auch wenn sich viele Freunde der Diskursgeschichte wundern mögen, dass er auch diesen Ansatz für sich reklamiert – und hat für sein Thema französische, britische, niederländische, deutsche und österreichische Archivquellen neu erschlossen. Vor allem führt die Studie eine bereits etablierte Tendenz der Polizeigeschichtsschreibung fort, indem sie – wie es zum Beispiel schon die Arbeiten von Peter Becker getan haben – die Wechselbeziehung zwischen der institutionellen Entwicklung der Sicherheitsorgane einerseits und deren Konzeptionen des Phänomens Kriminalität und des Kriminellen als Typus andererseits in den Mittelpunkt der Analyse rückt. Konkret bedeutet dies hier: Jäger untersucht die „Erfindung“ des Tätertypus „internationaler Verbrecher“ in der Ermittlungspraxis und in den konzeptionellen Texten europäischer Kriminalisten/innen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Er fragt danach, welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (zu nennen wären hier vor allem die Urbanisierung, die steigende geografische Mobilität der Menschen, aber auch die zunehmende Vernetzung von Wirtschaftsräumen), welche Erfahrungen alltäglicher Polizeiarbeit, aber auch welche institutionellen Interessen der meist großstädtischen Polizeibehörden dazu führten, dass die Kriminalisten grenzüberschreitende Kriminalität als zunehmend dramatisches Phänomen wahrnahmen, zu dessen Abwehr sie die nationale wie internationale Vernetzung ihrer eigenen Strukturen, Datensammlungen und Zugriffsrechte propagierten.
Ansätze zu einer internationalen Zusammenarbeit von Polizei und Justiz gab es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, aber sie betrafen zunächst Felder, die aus Sicht der Polizeipraktiker nicht dazu taugten, die Bedeutung ihrer Apparate für die Sicherheit der bürgerlichen Gesellschaft wirkungsvoll zu konturieren. Denn entweder ging es um die grenzüberschreitende Verfolgung politischer Opposition, der weite Teile der Öffentlichkeit kritisch gegenüber standen, oder es ging um die Bekämpfung von Phänomenen wie Mädchenhandel oder Opiummissbrauch, bei der sich statt der Polizei philanthropische Organisationen und Eiferer in den Vordergrund gedrängt hatten. Erst als sich die Kriminalisten ab etwa 1880 mit dem international und auf hohem Niveau operierenden Eigentumsdelinquenten (dem reisenden Juwelendieb, Hochstapler, Taschendieb, Geldschrankeinbrecher, Hotel- oder D-Zug-Dieb) eine ihrem alleinigen Zugriff überlassene Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaft geschaffen hatten, besaßen sie Anlass und Raum zu einer eigenständigen internationalen Vernetzung ihrer Apparate.
Grenzüberschreitende Kriminalität war zu diesem Zeitpunkt kein Novum, man denke an die verbreitete Bandenkriminalität der Frühen Neuzeit wie des frühen 19. Jahrhunderts. Aber, wie Jens Jäger eindrucksvoll zeigen kann, lag den Kriminalpolizisten des späten 19. Jahrhunderts viel daran, den internationalen Straftäter ihrer Gegenwart als gänzliches neues, spezifisch modernes Phänomen zu deuten. Um sich aus ihrer Rolle als subalterne Zuarbeiter der Justiz und sozial wenig geachtete Büttel zu emanzipieren, entwickelten die Beamten der großstädtischen Kriminalpolizeien ein Selbstbild des professionellen, stets mit modernsten Techniken arbeitenden, ergo fortschrittlichen, einer Elite innerhalb der staatlichen Verwaltung angehörenden Ermittlers, das des Spiegelbildes eines professionellen, jeden Fortschritt sofort nutzenden und innerhalb der kriminellen Milieus eine elitäre Spitze bildenden Verbrechers – des „internationalen Verbrechers“ eben – bedurfte. Hinzu kamen die Notwendigkeiten der polizeilichen Alltagsarbeit, wie zum Beispiel die möglichst effektive Strukturierung jener Datensammlungen, auf die sich die Ermittlungen wesentlich stützten (z.B. der „Verbrecheralben“). Es lag ermittlungstaktisch nahe, die Datensammlungen nach Tat- und Tätertypen zu ordnen, bei der Reflektion über das „Wesen“ der Kriminalität aber verführte dieser durch Erfolge immer wieder in seiner Richtigkeit bestätigte „praktische Blick“ (Peter Becker) die Kriminalisten/innen zur Überschätzung der Bedeutung der Rückfalltäter und zur Konstruktion einer vermeintlich hierarchisch gegliederten Unterwelt – an deren Spitze wiederum die international operierenden Berufsganoven zu stehen schienen.
Was Jäger über das Gegnerbild sich modernisierender Kriminalpolizeien herausarbeitet, ist nicht an sich innovativ oder auch nur originell. Vielmehr fügen sich seine Befunde bruchlos in das bereits zuvor von der Historiografie entworfene Bild ein, und mitunter hätte Jäger darauf verzichten können, Ergebnisse älterer Arbeiten noch einmal umständlich neu zu erarbeiten. Dennoch bedeutet die Untersuchung einen Fortschritt für die Polizeigeschichtsschreibung. Denn diese verharrte bislang weitgehend in einem jeweils nationalgeschichtlichen Rahmen. Jens Jäger dagegen legt seine Studie einerseits konsequent komparativ an und rekonstruiert andererseits die Debatten der internationalen kriminalistischen und kriminologischen Fachtagungen und damit den Prozess einer grenzüberschreitenden Verständigung über das Phänomen „Kriminalität“ und die Wege seiner Bekämpfung. Jäger kann so zeigen, dass sich die Kriminalpolizeien europäischer Staaten, die vermeintlich in jeweils sehr nationalspezifischen Polizeitraditionen standen, um 1900 in den Grundtendenzen erstaunlich parallel entwickelten. In Deutschland, Österreich, Frankreich und Großbritannien orientierten sich die großstädtischen Kriminalpolizeien gleichermaßen an den Idealen einer Standardisierung, Zentralisierung, Verwissenschaftlichung und einer als Professionalisierung verstandenen Spezialisierung der Ermittlungsarbeit. Am Beispiel der Einführung neuer Techniken im polizeilichen Erkennungsdienst – Fotografie, Anthropometrie, Daktyloskopie – wird die schrittweise nationale, dann ansatzweise internationale Standardisierung kriminalistische Methoden bereits vor 1914 deutlich. Damit begann zugleich ein Prozess der internationalen Vernetzung der Ermittler – zunächst in Gestalt einiger Kongresse, ab 1923 in Gestalt der IKPK.
Zwar erhöhte sich die Zahl der der IKPK angeschlossenen Staaten bis zum Jahr 1938 auf 40. Das reale Ausmaß international koordinierter Polizeiarbeit blieb jedoch bis zum Zweiten Weltkrieg gering. Die IKPK wurde nie eine wirklich multi- und damit tendenziell supranationale Institution; allzu dominant blieben in ihren Strukturen die Beamten der Wiener Kriminalpolizei, bei der die IKPK-Zentrale angesiedelt worden war. Nach 15 Jahren Arbeit waren 1938 in der Kartei der Wiener Zentrale noch nicht einmal 5.000 Menschen als international operierende Straftäter registriert. Die Zahl der Anfragen ermittelnder Kriminalisten bei der IKPK blieb klein, die Pariser Polizei etwa bat die IKPK im Jahr 1932/33 nur in 22 Fällen um Informationen. Aber indem die Kriminalisten auf ihren internationalen Kongressen Konsens über eine Fülle ihrer zunächst im lokalen/nationalen Rahmen entstandenen Annahmen herstellen konnten – so etwa über die immense Bedrohung durch internationale Straftäter allgemein, über den hohen Anteil „ostjüdischer“ Täter unter reisenden Taschendieben und die Gefährlichkeit von „Zigeunern“ im besonderen –, konnten sie die Richtigkeit dieser Annahmen zuhause mit dem Verweis auf ihre internationale Akzeptanz um so plausibler behaupten. Insofern besaß die Internationalisierung der Kriminalpolizei vor allem eine immens „affirmative Funktion“ für die jeweiligen lokalen bzw. nationalen Konzepte, Praktiken und Interessen.
In der Summe: Wer sich für Polizeigeschichte in ihrer internationalen Dimension interessiert, der sollte sich das Buch von Jens Jäger nicht entgehen lassen. Und auch demjenigen, der nicht jedem Bedrohungsszenario heutiger Sicherheitsexperten unreflektiert folgen möchte, bietet diese Untersuchung die Chance historischer Tiefenschärfe.