T. Röder: Rechtsbildung im wirtschaftlichen "Weltverkehr"

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Titel
Rechtsbildung im wirtschaftlichen "Weltverkehr". Das Erdbeben von San Francisco und die internationale Standardisierung von Vertragsbedingungen 1871-1914


Autor(en)
Röder, Tilmann J.
Reihe
Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 206
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
XII, 394 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Luebken, Environmental History, German Historical Institute, Washington, DC

Pünktlich zum 100. Jahrestag des Erdbebens von San Francisco hat Tilmann Röder eine Studie vorgelegt, die sich an der Schnittstelle von Wirtschaftsgeschichte, Globalisierungsforschung und transnationalen Fragestellungen bewegt. Die Ausgangsfrage lautet: “Führte die Internationalisierung wesentlicher Wirtschaftsbranchen ab den 1870er- Jahren zur Herausbildung einer lex mercatoria oder ähnlicher transnationaler Rechtsstrukturen?” (S. 1) Zur Beantwortung dieser Frage untersucht Röder exemplarisch die Geschichte der “Erdbebenklausel” in Feuerversicherungsverträgen von 1871 bis 1914. Aus drei Gründen eigne sich diese Fallstudie besonders gut für die Analyse der Rechtsbildung im wirtschaftlichen “Weltverkehr”. Zunächst sei in der internationalen Versicherungswelt ab 1906 kein Thema so intensiv und kontrovers diskutiert worden wie der künftige Umgang mit der Feuergefahr nach Erdbeben. Zweitens erlaube es die gute Quellenlage, “mit außergewöhnlich hoher Präzision Rechtsveränderungen zu rekonstruieren, die fast ausschließlich auf selbstorganisatorischen Aktivitäten innerhalb einer Wirtschaftsbranche beruhen” (S. 3). Schließlich könne am Beispiel der Erdbebenklausel gezeigt werden, vor welchen Hintergründen die internationale Standardisierung von Vertragstexten Erfolg hatte bzw. scheiterte.

Dieser Einführung in den Untersuchungsgegenstand folgt das frappierend knappe Kapitel über “Forschungsstand und Quellenlage”, dessen Kürze von gut einer Seite Röder damit rechtfertigt, dass sich bislang nur wenige Autor/innen mit der von ihm behandelten Thematik beschäftigt hätten. Im sich hieran anschließenden Kapitel wird dann aber deutlich, dass, wenn auch nicht über die Erdbebenklausel, so doch über “Vertragsbedingungen im nationalen und internationalen Wirtschaftsverkehr” (S. 37-49) einiges geschrieben worden ist. Wie in Technik und Wirtschaft wurden auch im Recht zunehmend Prozesse der Standardisierung wirksam. Industrialisierung und Ausweitung des Handels hatten den ökonomischen Regulierungsbedarf auf nationaler und internationaler Ebene enorm erhöht. Vertragstexte und deren Inhalte wurden ebenso vereinheitlicht wie Schrauben und Gewinde. Insbesondere Formularverträge ermöglichten es dabei, von den oftmals starren gesetzlichen Vorgaben abzuweichen und neue, der wirtschaftlichen Dynamik angepasste Vertragstypen zu entwickeln.

Den Kern des Buches bilden zwei Hauptkapitel, in denen Röder der “Entstehung eines Standards” und den “Grenzen der Standardisierung” nachgeht. Der erste dieser beiden Abschnitte behandelt die unmittelbaren Folgen des Erdbebens in San Francisco 1906 und des dadurch induzierten Großfeuers, die Regulierungspraxis der Versicherer sowie die ersten Ansätze zu einer Vereinheitlichung der Erdbebenklausel. Das natürliche Extremereignis in der amerikanischen Westküstenmetropole hatte mehr als 30 Brände ausgelöst. Gleichzeitig war die Wasserversorgung zusammen gebrochen. “Feuerwehr und Bewohner mußten hilflos mit ansehen, wie die Brände in der Innenstadt zu einem einzigen Riesenfeuer verschmolzen, während Millionen Gallonen Wasser in dem sumpfigen Boden um die Stadt verschwanden.” (S. 55) Dem Beben der Erde folgte ein weltweit spürbares “Nachbeben in der Versicherungswirtschaft” (S. 57), da sich die Einwohner, Unternehmer und städtischen Einrichtungen San Franciscos in großer Zahl gegen Feuerschäden versichert hatten und nun von den Unternehmen Entschädigung erwarteten.

Als sich die Versicherer an die Schadensregulierung machten, zeigte sich nicht nur das Ausmaß der materiellen Zerstörung, sondern auch die völlig uneinheitliche Rechtslage, die insbesondere den europäischen Kommentatoren als “chaotisch” erschien (S. 64). Gestritten wurde vor allem über den Zusammenhang zwischen Erdbeben und Feuerschäden. Während die Versicherten versuchten, den Einfluss des Erdbebens auf das Feuer zu minimieren, um somit den Versicherungsschutz gegen Brand auf jeden Fall in Anspruch nehmen zu können, bemühten sich die Versicherer aus den entgegen gesetzten Motiven, den Erdstößen möglichst viel Verantwortung für die Feuersbrunst zuzuschreiben. Röder schildert in beeindruckender Detailfülle die Vielzahl unterschiedlicher Klauseln, die bei der Regulierung zur Anwendung kamen und die ebenso zahlreichen Interpretationen dieser Texte. So hatten etliche Versicherer die “Fallen Building Clause” der New Yorker Standard Fire Insurance Policy übernommen, die ursprünglich als Instrument gegen den Versicherungsbetrug eingeführt worden war und die die Entschädigungspflicht aufhob, wenn ein Gebäude abbrannte, nachdem es eingestürzt war. Wie aber sah es bei nur teilweise beschädigten Häusern aus, die dann den Flammen zum Opfer fielen? “Nicht nur über den Zustand der Gebäude vor dem Ausbruch der Brände konnte gestritten werden, sondern auch darüber, ob die nachgewiesenen Einsturzschäden ausreichten, um den Versicherungsschutz zum Erlöschen zu bringen.” (S. 68) Ähnlich kompliziert war es um die “earthquake clauses” bestellt, die die Versicherer von der Zahlungspflicht für Feuerschäden entband, die direkt oder indirekt von Erdbeben verursacht worden waren. Auch bei dieser scheinbar eindeutigen Klausel, von denen alleine in San Francisco fünf verschiedene Varianten kursierten, kam es zu vielfältigen Deutungskonflikten. Nach Ansicht der Versicherer betraf die Erdbebenklausel vor allem solche Schäden, die durch Kerzen, umgestürzte Öfen oder Kurzschlüsse verursacht worden waren. Die meisten Gebäude waren jedoch “in den tagelangen Feuerstürmen vernichtet” worden, so dass eine unmittelbare Ursache nicht mehr zurechenbar war (S. 69).

Die Auseinandersetzungen wurden dementsprechend immer öfter vor Gericht ausgetragen. Von den mehreren Hundert Prozessen, die in den nächsten drei Jahren geführt werden sollten, wurde die Mehrzahl im Sinne der Versicherten entschieden. Trotz dieser juristischen Streitigkeiten wurden die meisten der über 90.000 gemeldeten Schäden noch im Jahr der Katastrophe reguliert. Während sich amerikanische und britische Firmen relativ kulant zeigten – letztere nicht zuletzt deshalb, weil sie es sich auf Grund ihrer großen Finanzkraft leisten konnten – weigerten sich insbesondere deutsche und österreichische Unternehmen, den Forderungen nach Entschädigung nachzukommen. Zwei Gesellschaften, die Transatlantische und die Norddeutsche Feuer, gaben ihr US-Geschäft infolge dieser Konflikte ganz auf.

Die Katastrophe in San Francisco hatte für alle im Feuerversicherungsbereich tätigen Unternehmen enormen Handlungsdruck erzeugt. In der Folgezeit waren es vor allem die Rückversicherungsgesellschaften, die sich gegen hohe Zusatzprämien und für einen strikten Ausschluss der Erdbebengefahr aus Feuerversicherungspolicen einsetzten. Gesucht wurde daher “nichts weniger als die perfekte Erdbebenklausel” (S. 132), und erreicht werden sollte dieses Ziel durch die Einführung eines weltweit einheitlichen Standards. Der zweite Hauptteil des Buches befasst sich mit der in verschiedenen Staaten unterschiedlich erfolgreichen Umsetzung des Vorhabens. Die “idealtypische” Anordnung dieses Kapitels nach “rechtsvergleichender Methode” (S. 3) erhöht zwar nicht gerade den Lesefluss, ermöglicht Röder aber eine differenzierende Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den 14 für den internationalen Versicherungsmarkt wichtigsten Geschäftsgebieten.

Wie in Spanien, Portugal, Frankreich und Belgien gelang auch in Deutschland die Einführung einer einheitlichen Erdbebenklausel. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Rückwirkungen der Katastrophe in Kalifornien auf die deutschen Versicherer, die nach den US-amerikanischen und britischen Unternehmen die meisten Ersatzansprüche zu erfüllen hatten, enorm waren. “Viele deutsche Gesellschaften konnten geplante Dividenden nicht auszahlen, mußten ihr Grundkapital erhöhen, ihre Eigenständigkeit in Fusionen aufgeben oder ähnlich einschneidende Maßnahmen vornehmen.” (S. 196) Von Vorteil für die Einführung der standardisierten Erdbebenklausel war es, wenn ohnehin grundlegende Revisionen des Versicherungsmarktes anstanden, wie es in Deutschland der Fall war. Im neuen Versicherungsvertragsgesetz (VVG) von 1909 fand sich dementsprechend folgender Passus wieder: “Der Versicherer haftet nicht, wenn der Brand oder die Explosion durch ein Erdbeben [...] verursacht wird.” (S. 214) Von dort aus gelangte die Bestimmung in die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Unternehmen, die mit dem VVG vereinbar sein mussten. Der Einfluss des Staates war offensichtlich. “Hier konnte man nur noch bedingt von autonom geschaffenen Rechtsstrukturen sprechen.” (S. 216) Ganz anders sah die Situation auf stark umkämpften und international verflochtenen Märkten wie denen in Großbritannien oder den Niederlanden aus, wo einzelne Unternehmen immer wieder aus der Phalanx derjenigen Gesellschaften ausbrechen konnten, die sich für die Einführung einer einheitlichen Erdbebenklausel einsetzten und somit das ganze Projekt unterminierten. In Kalifornien existierte darüber hinaus ein immenser Druck der Öffentlichkeit, die nach Schutz vor der Erdbeben- und Feuergefahr verlangte.

Insgesamt ergibt sich ein uneinheitliches Bild. Die Einführung der Erdbebenklausel gelang dort, wo “mehrere förderliche Umstände zusammentrafen” (S. 314). Hierzu zählten neben unmittelbar bevorstehenden Reformierungsbestrebungen der Allgemeinen Versicherungsbedingungen eine enge Verzahnung der Direkt- mit den Rückversicherern sowie die Befürchtung, dass die Versicherungswirtschaft des jeweiligen Landes durch solche Katastrophen in ihren Grundfesten erschüttert werden könnte. Hinderlich waren dagegen großer Konkurrenzdruck, der ein einheitliches Vorgehen verhinderte, die Dominanz öffentlich-rechtlicher Versicherungsgesellschaften (wie in der Schweiz) oder von Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit (Skandinavien und Russland).

Röders auf breiter Quellenbasis angelegte Studie offenbart somit die Möglichkeiten und Grenzen einer transnationalen Perspektive für die Analyse des wirtschaftlichen “Weltverkehrs” um die Jahrhundertwende. Bemerkenswert sind neben den unzähligen, an Ländergrenzen nicht Halt machenden ökonomischen Verflechtungen und Verbindungen ebenso die nationalen und regionalen Restriktionen, die einer autonomen Rechtsbildung international operierender Unternehmen immer wieder Einhalt geboten. Folgerichtig kommt Röders Analyse zu dem Schluss, dass sich vor 1914 “keine lex mercatoria und auch kein eigenständiges transnationales Handelsrecht” entwickelt habe (S. 333). Dennoch können die Versuche, mit der Erdbebenklausel eine global einheitliche Vertragspraxis durchzusetzen, als Vorläufer einer Rechtsordnung betrachtet werden, die immer unabhängiger von staatlichen Akteuren wird und deren Problematik aktueller ist denn je.

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