Die unter dem Begriff „Industrielle Revolution“ subsumierten Prozesse sind ohne Messtechniken, Elektrizität und Maschinen nicht denkbar. Doch worin liegt die Bedeutung von Maßeinheiten wie Meter und Ampere und der Nutzen von standardisierten Maschinenbestandteilen? Die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierenden wissenschaftlich-technischen Regeln hätten die Industrialisierung und die Technisierung maßgeblich gefördert, so die These des Rechtshistorikers Milos Vec in seiner Habilitationsschrift. Glänzend geschrieben, gelingt ihm eine pointierte empirische Studie. Für die Rechtsgeschichte handelt es sich um eine bedeutsame Neuerscheinung, weil sie ein Licht auf Normen wirft, die von Ingenieuren und Wissenschaftlern initiiert, von Juristen an technisch-wissenschaftliche Experten delegiert und deshalb lange nicht als Rechtsmittel begriffen wurden. Für die Technikgeschichte ist die Studie interessant, weil sie die komplexen Prozesse der Vergesellschaftung technischer Standards analysiert. Und für die Wirtschaftsgeschichte ist sie wichtig, weil sie die Verzahnung der vielfältigen Regulierungsmaßnahmen (internationale Verrechtlichung, nationale Vergesetzlichung und überbetriebliche technische Vernormung) während des „ersten deutschen Wirtschaftswunders“ (Hans-Ulrich Wehler) auf Basis von wissens- und technikbasierten Industrien (Maschinenbau, Chemie und Elektrotechnik) beleuchtet.
Zwischen 1850 und 1918 hätten sich in Deutschland, so der Ausgangspunkt von Vecs Studie, neue Strukturen der Normsetzung etabliert: Völkerrechtliche Verträge, eine nationalstaatliche Expertengesetzgebung und überbetriebliche Normungsbestrebungen. Diese Prozesse seien nicht einfach als reaktive Bewältigung der industriellen Revolution zu verstehen, sondern hätten diese vielmehr überhaupt erst ermöglicht. Vec interpretiert die oft als „verspätet“ kritisierte Verrechtlichung von Technik als eine von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft getragene Strategie der flexiblen Anpassung an die wissenschaftlich-technische Entwicklung.
Mittels dreier Fallstudien macht der Autor diese Thesen plausibel: Im ersten Teil widmet er sich den strukturellen Veränderungen der internationalen Beziehungen während des 19. Jahrhunderts am Beispiel der 1875 durch einen völkerrechtlichen Vertrag ins Leben gerufenen Meterkonvention. Als treibende Kräfte internationaler Beziehungen etablierten sich die Ingenieure und Wissenschaftler und sprengten damit die bislang ausschließlich auf Allianzen und Bündnissen beruhende Diplomatie. Während die Pläne zu einer Kodifikation des Völkerrechts im Laufe des 19. Jahrhunderts ins Stocken gerieten, fanden die punktuellen Vereinbarungen technischer und ökonomischer Sachverhalte breite Zustimmung und bereiteten das Terrain für eine Internationalisierung der Rechtsbeziehungen. Trotz Abkehr von internationalistischen Visionen entwickelte sich auf Basis der regelmäßig stattfindenden Konferenzen und der permanent operierenden Verwaltungsunionen eine internationalistische Eigendynamik.
Der Regulierung von Technik auf der Ebene nationaler Gesetzgebung widmet sich Vec im zweiten Teil am Beispiel des „Gesetzes über die elektrischen Maßeinheiten“ von 1898. Vec interpretiert das Gesetzesvakuum zwischen der Inbetriebnahme der ersten Elektrizitätswerke zu Beginn der 1880er-Jahre und dem Gesetzeserlass 1898 nicht als Verspätung des Gesetzgebers. Erst in der Ausreifungsphase der Technologie, als sich die Elektrizität zur Handelsware entwickelt hatte, entstand von Seiten der Elektroindustrie eine Nachfrage nach staatlicher Regulierung. Die Idee eines Rechtsvakuums vor 1898 sei auch deshalb falsch, weil sich bereits vor dem Gesetzeserlass durch den Reichstag außerjuristische Normen verdichtet hätten: Elektrotechnische Verbände wurden 1894 durch die Formulierung von Sicherheitsvorschriften selbst normsetzend aktiv, um eine gesetzliche Intervention des Staates zu verhindern. Obwohl Vec betont, dass sich kein einheitliches System zur Regulierung von Technik ausmachen ließe, seien die Gesetze zur Elektrizität insofern symptomatisch für die Vergesetzlichung von Technik, als sie in Spezialgesetzen außerhalb der Gesamtkodifikation und im Dienste des Aufbaus „technischer Systeme“ (Thomas Hughes) geregelt wurden. Ein wichtiges Fazit dieses Kapitels ist die Relativierung des Interventionsstaates als Charakteristikum des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts in Deutschland: Anders als im Bereich der sozialen Frage vertraute der Staat im Bereich der Technik auf Selbstorganisation und Selbstnormierung.
Schließlich wendet sich Vec im dritten Teil am Beispiel der Schrauben- und Gewindestandardisierung der überbetrieblichen Normung zu. Mit diesem Kapitel stößt er in eine Domäne vor, die traditionelle Rechtsbegriffe sprengt. Es ist der knappste, am wenigsten abgerundete und zugleich anregendste Teil der Studie. Während sich die gesellschaftliche Selbstnormierung wegen ihrer Flexibilität gegenüber der technischen Entwicklung bei der Elektrizitätsnormierung als Stärke präsentierte, zeigten sich bei der überbetrieblichen Normierung von Schrauben die Schwächen gesellschaftlicher Selbstorganisation. Der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt kam eine wichtige Rolle für die technische Normimplementierung von Schrauben auf nationaler Ebene zu. Weil die Standardisierung sich im Zeitalter des Weltverkehrs und des Welthandels nicht mehr national durchführen ließ, verlagerten sich die Normungsbemühungen der Schraube gegen Ende des 19. Jahrhunderts von den nationalen Verbänden zu den internationalen Expertennetzwerken. Nur wenige Firmen setzten allerdings die erste internationale Übereinkunft von 1898 um, der Markt konnte sich bis heute nicht für eine Welt-Gewinde-Ordnung begeistern.
Eine Vielzahl von wissenschaftlich-technischen Vereinen hatte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts um technische Normen bemüht. Die Normen reichten von technischen Vorschriften, verschriftlichten Geschäftsbedingungen bis zu Regelwerken juristischer Art und umfassten auf dem Gebiet der Elektrizität auch Sicherheitsbestimmungen. Bis zum Ersten Weltkrieg blieben die Normierungsbemühungen sehr punktuell und durchsetzungsschwach. Die Präferenz der Ingenieure für Selbstnormierung und die Ablehnung von Eingriffen des Parlaments in technische Angelegenheiten erklärt sich auch vor dem Hintergrund eines Kulturkampfes zwischen Ingenieuren und Juristen, die zwei gegensätzliche Paradigma vertraten: Der Präferenz für die Steuerung durch Technik stand jene der Steuerung durch Gesetze gegenüber. Der Erste Weltkrieg erwies sich als enormer Normbeschleuniger, allerdings nicht mittels Selbstorganisation, sondern durch zentralisierte Staatsintervention. Was die Selbstorganisation vor dem Krieg nicht geschafft hatte, gelang nun durch den autoritär erwirkten Zusammenschluss von Verbänden, Industrie und Staat: die Durchsetzung der in den Anfängen stecken gebliebenen Normungen und die Institutionalisierung eines „Normenausschuss der Deutschen Industrie“ im Jahr 1917. Diese Institution überdauerte den Krieg, auch wenn sich nun nach dem Kriegsintermezzo wieder eine Abkehr vom Staatsinterventionismus abzeichnete.
Vecs Vorgehen, die Geschichte des Metermasses, des Ampere und der genormten Schraube mikroskopisch zu beobachten und damit die Struktur eines industriegesellschaftlichen Regulierungsregimes offen zu legen, überzeugt durch die Verknüpfung von Detailanalyse und gesellschaftshistorischer Fragestellung und generiert damit ein Standardwerk, von dem künftig auszugehen sein wird. Die Studie bricht mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ab. Eine Ausdehnung des Forschungszeitraums auf die „goldenen Zeiten des Kapitalismus“ (Eric Hobsbawn) nach dem Zweiten Weltkrieg, die unter Einfluss des Keynesianismus von einer Planungseuphorie gekennzeichnet waren, scheint viel versprechend. Es wäre interessant die Verzahnung von nationalstaatlichen Gesetzen, internationalen Verträgen und technischen Standards im Zusammenspiel mit der Entstehung neuer, nationalstaatlicher Territorien sprengende Technologien genauer zu betrachten. Die Regulierung der Atomtechnologie zeigt etwa, dass die bei der Elektrizität erprobten Wege der Expertennormierung weiter ausgebaut wurden. Das industriegesellschaftliche Regime geriet allerdings bereits in den 1950er-Jahren von Juristen unter Kritik. Sie konstatierten eine Kapitulation des Rechts gegenüber der Technik. 1 Damit schlug die im 19. Jahrhundert von Ingenieuren geäußerte Staatsskepsis in eine von Juristen formulierte Kritik an der „Technokratie“ um.
Ein von Vec nicht betrachteter Aspekt technischer Normierung ist die mit der Technisierung einhergehende Option, gesellschaftliche Normen mittels Technik durchzusetzen. Elektronische Fußfesseln im Dienste des Strafrechts, oder digitale Sperrcodes als Instrument des Copyrights sind aktuelle Beispiele technischer Normerzwingung. Die normsetzenden Potentiale der Technik wurden 1995 in einer Konferenz zum Copyright unter dem Schlagwort “The answer to the machine will indeed be found in the machine“ auf den Punkt gebracht.2 Die Normdurchsetzung durch technische Artefakte ist allerdings nicht eine Innovation der Digitalisierung, sondern eine mögliche Funktion technischer Artefakte: Langdon Winner hat bereits in den 1980er-Jahren gezeigt, wie Autobahnbrücken die soziale Stratifizierung der New Yorker Gesellschaft aufrechterhalten und Bruno Latour hat das moralische Gewicht des Anhängers eines Hotelschlüssel entschlüsselt.3 Die Studie von Milos Vec ist auch als ein Beitrag für diese von den Technology Studies initiierte Betrachtung der Interdependenz von Technik und Gesellschaft zu verstehen, weil er gezeigt hat, wie viel Norm in Technik steckt.
Anmerkungen:
1 Beispielsweise: Huber, Hans, Das Recht im technischen Zeitalter. Rektoratsrede 1959, in: Bern Universität (Hg.), Dies Academicus 1959, Bern 1960, S. 3-27.
2 Clark, Charles, The Answer to the Machine is in the Machine, in: Hugenholtz, P. Bernt (Hg.), The Future of Copyright in a Digital Environment. Proceedings of the Royal Academy. Colloquium organized by the Royal Netherlands Academy of Sciences (KNAW) and the Institute for Information Law (Amsterdam, 6-7 July 1995), Den Haag 1996, S. 139-145.
3 Winner, Langdon, Do Artifacts Have Politics?, in: Daedalus, 109,1 (1980), S. 121-136; Latour, Bruno, Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin 1996, S. 53-61.