Title
Utopias of Nation. Local Mass Killing in Bosnia and Herzegovina, 1941-42


Author(s)
Dulić , Tomislav
Series
Studia Historica Upsaliensia
Published
Extent
413 S.
Price
€ 23,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Alexander Korb, Humboldt-Universität Berlin/Hamburger Institut für Sozialforschung

Obwohl es – vor allem in serbokroatischer Sprache – tausende Titel über die während des Zweiten Weltkrieges auf jugoslawischen Territorium verübten Gewalttaten gibt, liegt mit Tomislav Dulićs am geschichtswissenschaftlichen Institut der Universität Uppsala eingereichter Dissertation über lokale Massentötungen in Bosnien und Herzegowina 1941/42 erstmals eine englischsprachige Studie vor, die auf breiter empirischer Grundlage den Ursachen für die Gewalt auf den Grund zu gehen versucht. Dulić vergleicht hierbei Massentötungen, die durch die kroatisch-nationalistische Ustaša-Bewegung verübt wurden, mit Massakern der serbisch-nationalistischen Četnik-Verbände. Die Ustaša regierten von 1941-1945 den mit dem Deutschen Reich verbündeten Unabhängigen Staat Kroatien (NDH), gegen den sich die Četnici im Aufstand befanden. Beide Gruppen bekämpften dabei die kommunistische Partisanenbewegung unter Tito und gingen Bündnisse mit den im Land stationierten deutschen und italienischen Armeen ein. Zwischen den Fronten befanden sich die bosnischen Muslime. Diese Konstellation verlieh der militärischen sowie der gegen Zivilisten gerichteten Gewalt im NDH eine besondere Komplexität.

Während der Jahre 1941 bis 1945 wurden etwa eine Million Menschen auf dem Gebiet des ehemaligen jugoslawischen Staates getötet. Dulić konzentriert sich auf das erste Kriegsjahr 1941/42, in dem die Massenmorde den breitesten Umfang annahmen. Bosnien und Herzegowina wiederum bildete den Teil Jugoslawiens, der am stärksten von Gewalt durch verschiedene Gruppen in Mitleidenschaft gezogen wurde. Umso erstaunlicher ist es, dass die so genannte vergleichende Genozidforschung die Geschehnisse in Jugoslawien während des Zweiten Weltkriegs bisher weitgehend ausgeblendet hat. Dass mit Tomislav Dulić ein Wissenschaftler diese Lücke zu füllen beginnt, der den Gegenstand ausgesprochen analytisch untersucht, sensibel beschreibt und seine Folgerungen vorsichtig setzt, da er sich der methodischen Schwierigkeiten bei der vergleichenden Untersuchung von Massentötungen bewusst ist, macht „Utopias of Nations“ zu einem Meilenstein nicht nur für die Gewaltgeschichte Jugoslawiens, sondern setzt auch Maßstäbe für die Gewaltforschung insgesamt.

In seinem Buch schreibt Dulić gegen die verbreiteten Stereotype von balkanischer Gewalt an, die als Teil der ethnischen Konflikte in der Region quasi unausweichlich gewesen sei. Die Ausbrüche moderner Gewalt seien Phänomene der Moderne, die zu inkompatiblen Nationen-Konzepten der einzelnen ethnischen Gruppen gerierten. Dies ist die Grundannahme, mit der im Gepäck Dulić seine Untersuchung beginnt. Warum begannen zwei nationalistische Gruppen, die Ustaše und die Četnici, mit Massentötungen, und wie führten sie diese sowie die nicht-tödlichen Formen der Verfolgung durch? Was motivierte die Täter, sich an Gewalttaten zu beteiligen, was waren die Strategien der Verfolgten, ihnen zu entgehen? Und was waren die öffentlichen Antworten auf die Gewalt? In der Studie gelingt es Dulić, dieses komplexe Set an Fragen teilweise zu beantworten, teilweise zu Hypothesen zu gelangen, die durch weitere empirische Forschungen untermauert werden müssen.

Dulić nimmt sich vor, zu beschreiben, was für die Realisierung der meisten Massentötungen unumgänglich ist: das Zusammenspiel der Gewalt durch Tätergruppen auf der Makroebene sowie auf lokalem Niveau. Der Begriff „Massentötungen“ soll erlauben, verschiedene Modelle von Massenmorden an bestimmten Gruppen wie „Massaker“, „Ethnozid/Ethnische Säuberung“, „Versuchtem Genozid“ und „Genozid“, zu integrieren. Im ersten, theoretischen Teil des Buches (S. 3-49) präsentiert der Autor ein Modell, das die Übergänge der einzelnen Formen der Massentötungen verdeutlichen soll. Dazu dient ihm der Analysestrang „Dimension“, der für die Felder „Intention“, „Systematik“ und „Ausmaß des Verfolgungsgeschehens“ analysiert wird. Unter „Intention“ versteht Dulić die verschiedenen Ziele, die mit Massentötungen verbunden sind: Sind diese „genozidal“, geht es den Tätern um die absichtliche Tötung eines Teils einer ethnischen, religiösen oder national definierten Gruppe. Die „Systematik“ beschreibt die den Tätern zur Verfügung stehenden Mittel, Massentötungen zu verüben. Erst wenn ein hohes Maß an Organisiertheit der Verfolgung erreicht ist, die sich durch tödliche wie durch nicht tödliche Maßnahmen gegen die Bevölkerungsschichten über Geschlechter- und Altersgrenzen hinweg richtet, kann man nach Dulić von einer institutionalisierten Systematik sprechen. Der Blick auf das Ausmaß der Massentötungen erlaubt es laut Dulić, die Unterscheidung zwischen „versuchten Genoziden“ zu getätigten „Genoziden“ zu ziehen. Dabei tut er sich allerdings schwer zu bestimmen, an welchem Punkt genau die Schwelle überschritten wird, und verdeutlicht, dass juristische Genozid-Definitionen wie diejenige der UN, die auch für einen lokal begrenzten Raum wie z.B. Srebrenica Gültigkeit beanspruchen können, für die Geschichtswissenschaft keinen Nutzen haben. Dulić schlägt das Verfahren einer „contextual disaggregation“ (S. 17) vor. Eine näher zu bestimmende Region müsse den Untersuchungsrahmen bilden, während die untersuchte Gruppe mit anderen von Gewalt betroffenen Gruppen zu vergleichen sei (z.B. Juden mit Polen), um den Kontext bestimmen zu können, in dem Massentötungen stattfinden. Somit würden normative Eingrenzungen vermieden und ein flexibler Einsatz des Verfahrens ermöglicht. Erst wenn die Intention wie auch die praktizierte Gewalt eine substanzielle oder totale Dimension aufweise und die Systematik des Mordens institutionalisiert werde, könne von einem „Genozid“ gesprochen werden.

Dulićs Verdienst ist es, dass sein Modell einer wissenschaftlichen Genozid-Definition der vergleichenden Forschung eine operationalisierbare Analyse-Einheit zur Verfügung stellt. Dies ist ein Vorteil gegenüber zahlreichen anderen Studien, die einen schwammigen und zugleich normativen Genozid-Begriff im Schilde führen. Dennoch entgeht auch Dulić nicht dem Problem, dass der Genozid-Begriff die Ethnisierung durch die Täter teilweise fortschreibt, dass gesamtgesellschaftliche Gewaltdynamiken zu Gunsten untersuchter Staatsverbrechen aus dem Blick geraten sowie der Tatsache, dass „Genozid“ ein hochgradig moralisch aufgeladener Begriff ist.

Das Buch von Dulić ist im Wesentlichen chronologisch aufgebaut: Nach einem einleitenden Teil, in dem die zunehmende Desintegration des jugoslawischen Staates geschildert wird, werden im Kapitel „Konzeptualisierung“ zunächst die Ideologie und die politischen Ziele der Tätergruppen untersucht. Im größten, zweiten Teil beschreibt der Autor die Gewalt der Ustaše in der östlichen Herzegowina und der Četnici in Zentralbosnien sowie Formen der Gewalt, die im Zuge des Partisanenkrieges sowie in Lagern stattgefunden haben. Das folgende Kapitel nähert sich der Struktur der Mordpolitik sowie den Opferzahlen und damit einem Feld, das auf Grund der Kämpfe nationalistischer kroatischer und serbischer Historiker/innen bis heute schwer umkämpft und vernebelt ist. Das Schlusskapitel führt die untersuchten Ebenen zusammen.

Die Motivlage für die Ustaša-Verfolgung der jeweiligen Bevölkerungsgruppen auf der Makroebene sei laut Dulić unterschiedlich ausgefallen: Während Juden und Roma aus rassistischen Motiven getötet wurden, richtete sich die Serbenverfolgung primär gegen eine als fremd und minderwertig angesehene Kultur sowie gegen eine potentielle Bedrohung für die Errichtung eines monoethnischen kroatischen Nationalstaates. In einer ersten Phase der Machtstabilisierung durch die Ustaše zwischen April und Juni 1941 hatte deren Gewalt zunächst einen funktionalen und selektiven Charakter und sollte die Beherrschung des Landes begünstigen. Doch seit Ende Juli 1941 kulminierten die Deportationen breiter serbischer Bevölkerungsschichten nach Serbien vermehrt in Massentötungen. Diese wurden aber durch Faktoren wie den bewaffneten Widerstand der Betroffenen und das Verhalten der Okkupationsarmeen eingeschränkt und kamen daher im Laufe des Jahres 1941 weitgehend zum Stillstand. Die Ustaša-Führung schien eingesehen zu haben, dass gewaltsame Mittel nicht zum Verschwinden der zwei Millionen Menschen zählenden serbischen Minderheit aus dem zu bildenden ethnisch homogenen großkroatischen Nationalstaat führen würde. Der Massenmord an Juden und Roma hingegen erfuhr parallel eine Intensivierung. Auch die Četnici versuchten, unerwünschte Teile der Gesellschaft in ihrem Machtbereich zu beseitigen, und auch sie waren Einschränkungen durch äußere Faktoren unterworfen. Die Mittel dafür waren wie bei den Ustaše Deportation und Massenmord. Die Gewalt der Četnici richtete sich vornehmlich gegen Muslime, deren Deportation nach Albanien oder in die Türkei sie anvisierten.

Dulić benennt ein Set an Motiven, das den jeweiligen Tätergruppen das Töten ermöglichte. Die Rolle ideologischer Motive setzt er dabei eher niedrig an. Aus der Tatsache, dass der Vernichtungsprozess stets von Plünderungen begleitet war, folgert er die Bedeutung individueller Bereicherung als Tötungsmotiv. Vor allem aber seien lokale Dynamiken, die aus der revolutionären Situation nach der Zerschlagung Jugoslawiens resultierten, ursächlich für die Gewalt gewesen. Die ethnischen Spannungen hätten die Implementierung derselben lediglich begünstigt. Unterschiedlich seien die Wege einzelner Täter zur Gewalt gewesen. Doch ist die Quellenlage zu den beteiligten Tätern dünn, und demnach sieht Dulić selbst seine Schlussfolgerungen als vorläufig an. Er sieht sich daher nicht in der Lage, allgemeingültige Muster von Tätergruppen und ihrem Verhalten zu benennen.

In seinem Schlusskapitel betont Dulić als wichtigsten Unterschied zwischen den lokalen Massentötungen durch Ustaše und Četnici den kleineren Organisierungsgrad der Gewalt durch die Letzteren. Diese seien nicht von langer Hand vorbereitet worden, sondern hätten in erster Linie einen ad hoc-Charakter gehabt. Der Autor beschreibt sie als vormoderne Vernichtungsformen, die primär durch den Verlauf ihrer militärischen Operationen bedingt gewesen seien. Da den Četnici als einer Guerilla-Bewegung die Infrastruktur für systematische Formen der Verfolgung gefehlt hätte, blieb das Ausmaß ihrer Gewalt weit unter dem Niveau der Ustaša. Daher folgert Dulić, dass die systematische physische Vernichtung von ganzen Bevölkerungsgruppen eine Infrastruktur erfordert, die nur durch staatliche Bürokratien gestellt werden kann, während nichtstaatliche Akteure nicht in der Lage seien, ein sporadisches, zeitlich und räumlich begrenztes Gewaltniveau zu überschreiten. Die Verfolgungen durch die Ustaše im Zweiten Weltkrieg seien demgegenüber weit organisierter und systematischer gewesen. Regierungsorgane ordneten die Angriffe auf die serbischen Gemeinden sowie auf Juden und Roma an und organisierten ein landesweites Netz an Konzentrationslagern sowie mobile Tötungseinheiten. Je lokaler die untersuchten Gewaltformen jedoch waren, als desto ähnlicher habe sich das Verhalten der Täter vor Ort erwiesen.

Die methodologischen Schlussfolgerungen Dulićs bestehen aus dem Postulat, dass Gewaltprozesse aus der Analyse des Verhaltens und der Intentionen der obersten Führungsebene allein nicht zu erklären sind. Vielmehr müssten sie durch Untersuchungen der lokalen Dynamiken und Anwendungsformen der Gewalt komplettiert werden, da die Täter vor Ort nicht gezwungenermaßen die politischen Prämissen ihrer Vorgesetzten teilen, sondern ihre Spielräume mit ihren eigenen Interessen ausfüllen. Die ist zwar keine neue Erkenntnis, wird jedoch in der empirischen Forschung bisher selten umgesetzt. Dulićs Studie ist daher ein gelungenes Beispiel für eine integrierte Untersuchung des Täterverhaltens von „oben“ wie von „unten“, die noch dazu die Perspektive der Verfolgten wie der „bystander“ mit einbezieht. Der Autor gibt zu, dass durch die Untersuchung nur einige seiner Thesen Bestätigung gefunden haben. Er erklärt dies mit dem Mangel an vorhandenen Daten, der Inkonsistenz der Mordprozesse, aber auch mit der schlichten Tatsache, dass die Muster menschlichen Verhaltens theoretischen Modellen nie vollständig entsprechen. Insbesondere lässt er die Frage unbeantwortet, ob die Gewalt gegen die Serben gleich dem Roma- und dem Judenmord den Tatbestand eines „Genozids“ erfüllt habe oder bei einem „versuchten Genozid“ stehen blieb. Hierfür seien weitere empirische Forschungen von Nöten.

Dulićs ursprüngliches Konzept für seine Dissertation war es, die Gewalt ausgewählter Regionen in Bosnien und Herzegowina über das gesamte 20. Jahrhundert asynchron zu vergleichen, und somit das langfristige Gewaltpotenzial, das mit dem Import westlicher Nationalstaatskonzepte in multiethnische Gesellschaften Einzug hielt, in einer langfristigen Perspektive zu beleuchten. Es bleibt zu wünschen, dass Dulić diesen Plan weiterverfolgt und mit einer zusätzlichen hellsichtigen Studie dazu beiträgt, Gewalt in Südosteuropa zu demythologisieren sowie ihre Muster zu erklären.

Editors Information
Published on
Contributor
Edited by
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Subject - Topic
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Country
Language of review