Die Geschichte Ungarns nach 1945 wird in der deutschen Öffentlichkeit nur allzu häufig von plakativen Begriffen und Ereignissen wie Salamitaktik und Gulaschkommunismus, der spektakulären Grenzöffnung des Sommers 1989 und, wie im vergangenen Herbst allseits zu besichtigen, vor allem von der Revolution des Jahres 1956 her erschlossen. Auch dem ernsthaft Interessierten wird sie primär als eine besondere Spielart kommunistischer Herrschaft im östlichen Europa präsentiert, als auf sowjetischen Druck etablierte und von sowjetischen Panzern gestützte Diktatur, die seit den sechziger Jahren zwar gemildert wurde, aber letztlich bis 1989 von den traumatischen Ereignissen von 1956 geprägt blieb.
Hier setzt die Darstellung von Árpád von Klimó ein. Bewußt als Einführung auch für Leser gedacht, die sich bislang wenig mit ungarischer Geschichte befaßt haben, leitet sie in mehreren thematischen Längsschnitten die Geschichte Ungarns seit 1945 aus ihren langen Entwicklungslinien seit dem 19. Jahrhundert her. Auf diese Weise werden die sechs Jahrzehnte seit 1945 in längere strukturelle Entwicklungen der ungarischen Gesellschaft eingeordnet, so dass hinter der Frage nach dem Verhältnis von Repression und Freiräumen unter der kommunistischen Diktatur die „Eigenlogik der ungarischen Geschichte“ (S. 43) sichtbar werden soll. Fluchtpunkt der Darstellung ist das heutige Ungarn. Dessen innere Spannung erläutert Klimó in historischer Perspektive aus der Frage nach der diskursiven Verortung Ungarns zwischen Ost und West. Nicht der Ostblock, sondern Europa im weitesten Sinne bildet somit den Kontext dieser Geschichte Ungarns seit 1945.
Klimó benennt eingangs vier Leitfragen als Gerüst seiner Darstellung: die Frage nach der Kontinuität ungarischer Staatlichkeit, nach der spezifischen Entwicklung der ungarischen Gesellschaft, nach kulturellen Wechselwirkungen und schließlich nach Vorbildern und Leitlinien in europäischer und globaler Perspektive. Den Anfang macht auch hier allerdings eine knappe Darstellung des Jahres 1956. Gegen das klassische Narrativ der tragisch gescheiterten Auflehnung gegen die übermächtige Sowjetunion setzt Klimó das Bild einer geradezu rauschhaften Entstalinisierung, hinter deren improvisierter Programmatik als treibende Kraft die Rückgewinnung einer vom Stalinismus usurpierten nationalen Identität sichtbar wurde. Der derart freigesetzten Dynamik wurde Imre Nagy zu keinem Zeitpunkt Herr, so dass der sowjetische Einmarsch schließlich geradezu unvermeidlich wurde. Die Folge war eine resignierte Entstalinisierung, die erst 1989 jene engen Grenzen überwand, innerhalb derer sich ein gemilderter Staatssozialismus mit ungarischem und europäischem Anstrich entwickelt hatte.
Diese Perspektive bestimmt die weitere Darstellung. Die Entwicklung staatlicher Institutionen begreift Klimó aus dem radikalen Bruch der stalinistischen Verfassung von 1949 mit der alten Ordnung. Nach einer Reihe behutsamer Anpassungen wurden die neuen Institutionen erst nach 1989 zumindest teilweise mit nationalen Traditionen versöhnt. Einem ähnlichen Muster folgte die ungarische Außenpolitik. Die starre Unterwerfung unter die Sowjetunion wurde seit den sechziger Jahren durch eine vorsichtige Öffnung zum Westen abgelöst, die nach 1989 relativ rasch den lange erträumten Beitritt zu dessen Institutionen ermöglichte. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht beschreibt Klimó die stalinistische Ära als harten Bruch. Der Versuch, erstarrte Strukturen durch bescheidene Reformen aufzulockern, beschleunigte allerdings nur die immer tiefere Krise des staatssozialistischen Sektors. In dem Maße, wie die bewußt eingeführten marktwirtschaftlichen Elemente durch eine aktive Sozialpolitik ausbalanciert wurden, näherte sich Ungarn auch auf diesem Gebiet allmählich an allgemeineuropäische Entwicklungen an.
Der radikalen Entmachtung der alten Eliten nach 1945 folgten neue gesellschaftliche Differenzierungen bis hin zur Formierung einer schmalen Kaderelite, die auch den Systemwechsel von 1989 weitgehend unbeschadet überstand. Ausführlich schildert Klimó die Pluralisierung der Lebensstile, welcher der Beat nach einer langen, von traditionellen Moral- und Geschlechtervorstellungen geprägten Phase zum Durchbruch verhalf. Damit einher ging eine weitreichende ethnische Homogenisierung, die durch die Vertreibungen der unmittelbaren Nachkriegszeit eingeleitet wurde, letztlich aber vor allem als kulturelle Assimilation zu verstehen ist. Eine Minderheitenpolitik, die auf die Bewahrung kultureller Eigenart zielte, wurde erst nach 1956 überhaupt als Politikfeld entdeckt und kam noch wesentlich später, mit dem Nationalitätengesetz von 1993, voll zur Geltung.
Es folgt ein Abschnitt über die lang angelegte Entkirchlichung, die vorerst nur dadurch verdeckt blieb, dass die Kirche durch die Umarmung des höheren Klerus seitens des Regimes und durch die Repression der Basisgemeinden ungewollt aufgewertet wurde. Ein abschließendes Kapitel behandelt die Transformationsjahre, die Klimó von erinnerungskulturellen Fragestellungen her erschließt. Hier sieht er das zentrale Feld, auf dem sich die starke Polarisierung der politischen Landschaft abspielt, deren tiefere Wurzeln in der schwachen Ausprägung zivilgesellschaftlichen Engagements zu suchen seien. Da der Systemwechsel gefestigte Machtstrukturen hervorgebracht habe, die nur geringe Spielräume aktiver staatsbürgerlicher Beteiligung ermöglichten, würden die symbolbeladenen erinnerungspolitischen Debatten um so heftiger geführt, erst recht da die Transformation von einer breiten Mehrheit der ungarischen Bevölkerung als sozialer Abstieg bis hin zum Ringen um die alltägliche Existenz verstanden wurde. Auch wenn sich hinter der oberflächlichen soziostrukturellen Angleichung an den Westen tiefe Verwerfungen verbergen, formuliert Klimó in einem kurzen Ausblick doch die optimistische Erwartung, dass Politik und Gesellschaft sich allmählich beruhigen werden – eine Erwartung, die in angenehmem Kontrast zu der zuvor geschilderten „Entzauberung Westeuropas“ steht. Hinter diesen Grundlinien wird somit die Geschichte eines radikalen Strukturbruchs im Stalinismus sichtbar, der mit den widersprüchlichen Traditionen vorangegangener Entwicklungen aufräumte und innerhalb kaum eines Jahrzehnts einer allmählichen Annäherung an den Westen Raum gab. Diese ist mit dem Beitritt zu Nato und Europäischer Union zwar mitnichten abgeschlossen, scheint aber doch die weitere Entwicklung mit all ihren Chancen und Problemen vorzuzeichnen.
All dies ist souverän vorgetragen, flott, schnörkellos und mit viel Gespür für die für Ungarn so typische Symbolik erzählt. In dem Zugriff, Probleme der ungarischen Gegenwart aus historischer Perspektive zu erschließen, vermeidet Klimó affirmative Teleologien und kommt zu überzeugenden, mitunter überraschenden Deutungen. Dieser Ansatz fordert jedoch seinen Preis. Denn die Orientierung an langen, sektoralen Entwicklungslinien zwingt den Autor geradezu, historische Zusammenhänge und Konstellationen darstellerisch aufzulösen. Wer sich einen Überblick über das Jahr 1956 verschaffen will, muß neben dem einschlägig betitelten Kapitel auch die Ausführungen zur Außenpolitik lesen und erfährt doch nichts über die vieldiskutierte Frage, welche Motive Chruščev dazu bewogen, sich für die gewaltsame Behauptung eines Sozialismus sowjetischer Prägung zu entscheiden. Auch die Probleme der Transformation sind auf verschiedene Kapitel verteilt. Von der ungarischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit wie von der kurzen, aber prägenden Pfeilkreuzlerherrschaft Szálasis, die doch den Ausgangspunkt der Geschichte nach 1945 bildete, erhält der Leser kaum einen plastischen Eindruck. Auch die kleine, aber intellektuell bedeutsame Dissidentenszene kommt nur verstreut ins Bild.
Bei der durchaus erhellenden Gliederung nach langen Entwicklungslinien sind solche kontextuellen Brüche wohl unvermeidlich. Für die ärgerliche Vielzahl sachlicher Fehler kann diese Entschuldigung hingegen kaum gelten. So war der östliche Nachbar Ungarns nach 1867 nicht das Fürstentum Moldau, sondern bereits das Fürstentum Rumänien, das sich im Übrigen schon 1881 und nicht erst 1886 zum Königreich erklärte (S. 16). Der ehemalige Ministerpräsident Lajos Batthyány wurde nicht im Herbst 1848 erschossen, sondern am 6. Oktober 1849, und dies auch nicht in Wien, sondern in Pest (S. 29). Solch missliche Fehler bleiben nicht auf die knappen Bezüge zum 19. Jahrhundert beschränkt. Petru Groza, der Gründer der von kommunistischer Seite als agrarisch-sozialistische Tarnorganisation verstandenen „Pflügerfront“, war sicher kein „bürgerlicher Ministerpräsident“ Rumäniens (S. 72). Dass der Schauprozess gegen Kardinal Mindszenty nicht im Frühjahr 1948, sondern erst im Frühjahr 1949 stattfand, hätte dem Autor schon deshalb auffallen müssen, weil er dessen Verhaftung an anderer Stelle korrekt auf Dezember 1948 datiert (S. 77, S. 186). Der Publizist István Bibó starb nicht 1986, sondern bereits 1979. Und der blutige Zusammenstoß rumänischer und magyarischer Bevölkerung in Târgu Mureş fand nicht im März 1992 statt, sondern bereits zwei Jahre zuvor (S. 184).
Hinzu kommt eine manchmal allzu saloppe Wortwahl, wenn beispielsweise erläutert wird, wie im Zuge der Reformation „ein großer Teil der ungarischen Stände […] vom römischen Glauben abfielen“ (S. 14), oder wenn der Friede von Trianon als „Zerschlagung des ungarischen Königreichs“ (S. 185) aufscheint. Wie soll man ein solches Buch Studierenden empfehlen, denen man einen sorgfältigen Umgang mit ihrer Begrifflichkeit beibringen möchte? Denn zu empfehlen ist dieses Buch allemal, löst es doch in überzeugender Weise den Anspruch ein, gerade Außenstehenden eine erste und noch dazu deutungsstarke Orientierung zu bieten. In seinen großen Linien, im Entwurf eines neuen Zugriffs auf die ungarische Zeitgeschichte in europäischem Kontext setzt es Maßstäbe. Die hier so kleinlich bemängelten Fehler werden sich in einer späteren Auflage sicher bereinigen lassen, die dem Buch schon jetzt zu wünschen ist.