Mit dem von Thomas Maissen und Gerrit Walther herausgegebenen Band ‚Funktionen des Humanismus’, der die Ergebnisse einer Tagung in Weingarten im April 2005 zusammenfasst, findet eine kleine Reihe von Tagungsbänden zum Renaissance-Humanismus ihren Abschluss, die aus dem von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Projekt 'Forschungen zum Humanismus' hervorgegangen sind.1
Der Band versammelt 14 Aufsätze sowie Einleitung und Schlusswort der Herausgeber. Dabei vertreten Gerrit Walther in seiner Einleitung unter dem Titel „Funktionen des Humanismus. Fragen und Thesen“ (S. 9-17) und Thomas Maissen („Schlußwort: Überlegungen zu Funktionen und Inhalt des Humanismus“, S. 396-402) zwei deutlich unterschiedliche Ansichten zu der Frage, wie sich Humanismus definieren lässt. Walther kommt zu dem Ergebnis, dass der Humanismus letztendlich der Summe seiner Funktionen entsprach. Er sei vor allem deshalb erfolgreich gewesen sei, weil er Komplexität reduziert habe: Der Humanismus „siegte, weil er so simpel war“ (S. 14). Dem widerspricht Maissen: Der Humanismus habe im Gegenteil durch die Verbindung antiken und christlichen Gedankengutes das Spektrum möglicher Weltdeutungen sogar noch vergrößert. Außerdem müsse er über die funktionalen Aspekte hinaus auch inhaltlich definiert werden. Maissen hebt die Antike als Bezugspunkt und Handlungshorizont hervor und betont die zentrale Rolle der Sprache für die neuen Gelehrten. Damit entwerfen die Herausgeber zwei unterschiedliche, wenn auch komplementäre Definitionen von Humanismus, zwischen denen sich die restlichen Beiträge bewegen können und die auf diese Art glücklich eingerahmt erscheinen.
Den Auftakt zu dem weiten Themenspektrum des Bandes, das von der Rhetorik über die Philologien und Naturwissenschaften, die höfische Kultur und die Lebenswelt des Klosters bis hin zu Fragen humanistischer Kriegslegitimation reicht, bildet ein Aufsatz des Berliner Mediävisten Johannes Helmrath unter dem Titel „Der europäische Humanismus und die Funktionen der Rhetorik“ (S. 18-48). Helmrath betont, dass die durch die Humanisten erneuerte Redekunst einen akuten Bedarf der gesellschaftlichen und politischen Eliten deckte, warnt aber zugleich davor, als Beweggrund für die Beschäftigung mit der Rhetorik lediglich materielle oder Karriereinteressen sehen zu wollen. Vielmehr seien ein echtes Interesse an der Antike und den artes ausschlaggebend gewesen.
Auf das spannungsreiche Verhältnis von humanistischen Gelehrten und höfischem Leben gehen Gábor Almási und Harriet Rudolph ein. Während sich Almási („Humanisten bei Hof. Öffentliche Selbstdarstellung und Karrieremuster“, S. 155-165) in erster Linie mit den Karrieremöglichkeiten der Humanisten beschäftigt, antwortet Rudolph („Humanistische Feste? Habsburgische Festkultur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts“, S. 166-190) auf die Frage, welchen Anteil Humanisten an der höfischen Festkultur hatten, dass ihnen mit Entwurf und Umsetzung der Festprogramme zunächst eine zentrale Rolle zukam. In dem Maße jedoch, in dem der Humanismus zum Bildungsgemeingut wurde, wurden die Gelehrten von humanistisch ausgebildeten Künstlern verdrängt. Den Humanisten verblieb als Betätigungsfeld lediglich der Bereich der Festbeschreibung.
Mehrere Beiträge behandeln den Humanismus im Zusammenhang der Konfessionalisierung, so Manfred Rudersdorf und Thomas Töpfer („Fürstenhof, Universität und Territorialstaat. Der Wittenberger Humanismus, seine Wirkungsräume und Funktionsfelder im Zeichen der Reformation“, S. 214-261), Peter Wolf („Humanismus im Dienst der Gegenreformation. Exempla aus Böhmen und Bayern“, S. 262-302) und Raingard Eßer („Gelehrte in der Stadt im Spiegel niederländischer Chorographien des 17. Jahrhunderts“, S. 325-342). Rudersdorf und Töpfer konstatieren die Indienstnahme des Humanismus für die Reformation. Diesen Befund bestätigt Peter Wolf für die katholische Seite. Er spricht von einer Amalgamierung humanistischer Konzepte mit katholisch-gegenreformatorischen Tendenzen. Außerdem sieht er in der humanistischen Gelehrsamkeit eine Brückenfunktion zwischen den Konfessionen, da alle Seiten „das Gefäß des Humanismus mit ihren Glaubensüberzeugungen“ (S. 300f.) gefüllt hätten. Dem pflichtet Eßer bei, die für die Niederlande zugleich deutliche konfessionelle Unterschiede benennen kann: Typisches Merkmal der nordniederländischen Stadt- und Landesbeschreibungen sei eine Verbindung zwischen Antike und Gegenwart, die die mittelalterlich-katholische Geschichte ausblendete. Die Rolle der Gelehrsamkeit oszillierte zwischen einem Identitätsmerkmal für die gesamte Republik und der nützlichen Bildung des mercator sapiens. Dagegen kippte in den südlichen Niederlanden die anfängliche Verbindung humanistischen Bildungsgutes mit einem gegenreformatorischen Programm im Verlauf des 17. Jahrhunderts ins rein Hagiografische: Weltliche Gelehrsamkeit spielte keine Rolle mehr.
Der Aufsatz von Arne Karsten mit dem Titel „Gräber für Gelehrte? Anmerkungen zu den römischen Papst- und Kardinalsgrabmälern im Zeitalter der Katholischen Reform“ (S. 303-324) beleuchtet die künstlerische Indienstnahme des Humanismus durch die Kurie. Hier zeigen sich allerdings die Grenzen des humanistischen Einflusses: Karsten selbst spricht von einem ernüchternden Befund, da die visuelle Inszenierung von Gelehrsamkeit im Verlaufe des 16. Jahrhunderts immer weiter zurücktrete. Hingegen betont Anton Schindling („Scarabaeus aquilam quaerit. Humanismus und die Legitimation von Krieg und Frieden“, S. 343-361), der Humanismus habe zum Überdenken der traditionellen christlichen Lehre vom Gerechten Krieg gezwungen, und hebt in seiner Darstellung vor allem die einflussreiche Rolle des Erasmus von Rotterdam hervor.
Leider gehen nicht alle Beiträge des Bandes in der wünschenswerten Deutlichkeit auf die konkreten Funktionen ein, die den jeweils untersuchten Aspekten innewohnten. Dies gilt insbesondere für den Text von Gerlinde Huber-Rebenich („Neue Funktionen der Dichtung im Humanismus?“, S. 49-75) und denjenigen des Medizinhistorikers Klaus Bergdolt über „Naturwissenschaften und humanistisches Selbstverständnis“ (S. 103-124). Das Verdienst des letztgenannten Beitrags ist es allerdings, auf knappem Raum einen überzeugenden Überblick über die Entwicklung der Beziehung von Humanisten und Naturwissenschaften zu entwerfen.
Im Gegensatz zu diesen beantworten vier Aufsätze die Leitfrage des Bandes besonders überzeugend. Zu ihnen gehört der Beitrag „Auf der Suche nach der verlorenen Antike. Humanisten als Philologen“ von Elisabeth Stein (S. 76-102). Sie konzentriert sich auf den Frühhumanismus und untersucht, welche Funktion die antiken Texte und die Suche nach Handschriften für die Humanisten selbst hatten. Einleuchtend ist hier beispielsweise die Betonung materieller und kommerzieller Aspekte, die für humanistische „Handschriftjäger“ wie Poggio Bracciolini neben der Begeisterung für die Antike eine wichtige Rolle gespielt hätten.
Einen lesenswerten Überblick über die jüngste Forschung zu Fragen von Hof und Patronage bietet Dieter Mertens („Der Preis der Patronage. Humanismus und Höfe“, S. 125-154), insgesamt einer der gelungensten Beiträge des Bandes. Mertens analysiert Nutzen und Nachteile der Verbindung von Humanisten und Höfen aus der Perspektive beider beteiligter Parteien. Er zeichnet das für die Humanisten zwiespältige Bild, einerseits auf Schutz und materielle Unterstützung angewiesen zu sein, sich andererseits gerade dadurch der gelehrten Freiheit beraubt zu sehen. Gegenüber dieser letztendlich für beide Seiten zumindest potenziell profitablen Verbindung, betont Harald Müller („Nutzen und Nachteil humanistischer Bildung im Kloster“, S. 191-213), dass die humanistische Beschäftigung den Mönchen innerhalb ihrer Gemeinschaften in vielen Fällen nicht nur keinen konkreten Nutzen lieferte, sondern bisweilen sogar dysfunktionale Effekte hatte, wenn die humanistische Gelehrsamkeit sie auf der Suche nach Gesprächspartnern aus der relativ abgeschlossenen Sphäre der Klöster herausführte. Allein die utilitas bestimmte, ob eine Beschäftigung mit humanistischen Texten und Themen im Kloster als legitim galt. Letztendlich blieb der Spielraum für humanistische Interessen sehr beschränkt.
Caspar Hirschi schließlich nimmt in seinem Beitrag „Vorwärts in neue Vergangenheiten. Funktionen des humanistischen Nationalismus in Deutschland“ (S. 362-395) das Thema seiner 2005 veröffentlichten Dissertation2 auf und verdeutlicht den maßgeblichen Anteil der Humanisten an der Entstehung des neuzeitlichen Nationalismus. Seinen Konstrukteuren erlaubte der humanistische Nationalismus, gesellschaftliche Veränderungen nicht nur zu bewältigen, sondern auch für das eigene Fortkommen nutzbar zu machen. Dabei war der nationale Ehrdiskurs auf die „Öffentlichkeit der Herrschaftsträger“ (S. 383) gerichtet, die allein den Humanisten Profit und Prestige sichern konnten. Die humanistische Nation blieb also die Sache einer Minderheit mit Eigeninteressen.
Der Band versammelt die wichtigsten deutschsprachigen Humanismusforscher und bietet damit einen exzellenten Überblick über die gegenwärtige Forschungslage. Hingegen fehlt die ausländische Beschäftigung zu diesem Thema weitgehend, die das Panorama sicherlich um einige wertvolle Perspektiven bereichert hätte. Davon unbeschadet ist er für alle, die sich mit der Erforschung des Renaissance-Humanismus beschäftigen, ganz unverzichtbar, zumal er in erfreulich kurzer Frist nach der Tagung in Weingarten erschienen ist.
Anmerkungen:
1 Vorgängig in dieser „Trilogie“: Hammerstein, Notker; Walther, Gerrit (Hrsg.), Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, Göttingen 2000 und Helmrath, Johannes; Muhlack, Ulrich; Walther, Gerrit (Hrsg.), Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten. Göttingen 2002. Vgl. die Rezension dazu in H-Soz-u-Kult unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1320> und <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-1-033>.
2 Hirschi, Caspar, Wettkampf der Nationen. Konstruktion einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005. Vgl. dazu die Rezension in H-Soz-u-Kult unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-018>.