Die steigende Zahl an Forschungsprojekten zu Überlebenden des Naziregimes nahmen Johannes-Dieter Steinert von der Universität Wolverhampton und Inge Weber-Newth von der London Metropolitan University im Jahr 2003 zum Anlass, im Imperial War Museum eine Konferenz zu veranstalten, die einen Überblick über den internationalen Forschungsstand bieten sollte. Überwältigt von der Resonanz ihres Call for Papers luden sie schließlich über 70 Wissenschaftler aus dem Westen und aus Israel, aber auch aus Osteuropa ein, ihre Erkenntnisse der wissenschaftlichen Öffentlichkeit darzulegen. In Anlehnung an die Konferenz gliederten die Herausgeber des vorliegenden Sammelbands die Aufsätze in Kapitel, die den Panels entsprachen. Nur vereinzelt wurde diese Einteilung überarbeitet. Grob wird zwischen einem ersten Teil, der die „Bedingungen für das Überleben“ thematisiert, und einem zweiten unterschieden, in dem die „Auswirkungen auf das Überleben“ analysiert werden.
Gerade der erste Teil setzt sich mit Fragen auseinander, die die Geschichtswissenschaft seit Jahrzehnten beschäftigen, die aber nun differenzierter beantwortet werden. In seiner Problematisierung des Begriffs „Überlebender“ weist Henry Huttenbach darauf hin, dass eine bisher ethnozentrische durch eine eher wissenschaftliche Sicht abgelöst werden müsse, da diese Gruppe äußerst heterogen sei. So waren neben den rassistisch verfolgten Juden und Zigeunern auch deutsche Kommunisten, russische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter Opfer des Nationalsozialismus. In seinem Beitrag über britische Nichtregierungsorganisationen, deren Angehörige sich um die Überlebenden des Konzentrationslagers Bergen-Belsen kümmerten, richtet der Mitherausgeber Steinert seinen Blick auch auf die Wahrnehmung der Überlebenden.
Die Darstellung der „Wahrnehmung“ beleuchten viele Autoren im ersten Teil, so z. B. Peter Bergmann die amerikanische und deutsche Wahrnehmung der Zwangsarbeiter und Displaced Persons (DPs) oder Angelika Eder diejenige der Alliierten. Die seit Jacobmeyers Pionierstudie stark ins historische Bewusstsein gerückten DPs werden auch hier immer wieder thematisiert.1 Für einen größeren Weitblick sorgt dabei ein Projekt an der Universität Växjo, Schweden, an dem gleich drei Beiträger mitarbeiten. Dort werden Überlebende untersucht, die die Verfolgung durch das Nazi-Regime nach Schweden verschlug. Eine Gruppe bildeten Polinnen, die das Martyrium von Ravensbrück überlebten. Sowohl das politische Interesse an ihnen als auch ihr persönliches Schicksal beschreiben Lars Olsson und Wirginia Bogatic. Die dritte Projektmitarbeiterin, Malin Thor, widmet sich der Identitätsfindung junger Juden, die bereits 1933 nach Schweden kamen. Dieses geografische Ausgreifen über Deutschland und die Hauptzielländer der Überlebenden hinaus belegt die inhaltliche Breite der hier versammelten Beiträge.
Kennzeichnend für viele der vorliegenden Aufsätze ist zudem ihre Methodik. Zahlreiche Autoren beziehen sich wohl auch deswegen auf Interviews, weil sich die Zahl der Zeitzeugen ständig verringert. Der Reiz dieses Ansatzes liegt vor allem in der Veranschaulichung von Gefühlen und Erlebtem, während schriftliche Quellen oftmals „entemotionalisiert“ sind. Doch warnen die beiden bulgarischen Forscher Elena Marushiakova und Vesselin Popov zurecht davor, dass die Verlässlichkeit von Erinnerungen abhängig ist von der Zeit und dem Kontext, in dem sie abgerufen werden.
Dieser quellenkritische Hinweis beschreibt „Auswirkungen auf das Überleben“. Dabei zeigt sich, dass einzelne Ereignisse große Wirkungen entfalten können. Bei der Staatsgründung Israels etwa entstand bei dem traumatisierten Volk der Juden die Hoffnung, dass man den Holocaust vergessen könne. Wie Gulie Ne’eman Arad nachweist, stand die Shoah erst nach dem Eichmann-Prozess wieder im Zentrum der nationalen Identität. David Cesarini verweist darauf, dass dieses Gerichtsverfahren auch verfahrensrechtlich einen „Wendepunkt“ bedeutete (S. 280), kamen hier doch erstmals Überlebende der NS-Verfolgung zu Wort. Aber nicht nur in Israel zeigte der Prozess Wirkung: „Wenn es nicht den Eichmann-Prozess gegeben hätte, wären viele Verfahren und Prozesse in Österreich in den 1960er und 1970er Jahren, wie auch in anderen Ländern, nicht geführt worden“, meint Martin F. Polaschek (S. 242).
Das Beispiel des Eichmann-Prozesses veranschaulicht die gelungene Synthese des interdisziplinären Ansatzes der Konferenz. Neben Historikern kommen Psychologen, Soziologen, Kulturwissenschaftler und Juristen zu Wort. Dies dokumentiert eine neue Sichtweise auf die Überlebenden, die oft zu Objekten psychologischer und juristischer Untersuchungen wurden. Erst auf diese Weise wird die ältere (Todes-)Opfer-Perspektive abgelöst. Die Anwendung der Oral history erfordert die Nutzung von zur Geschichtswissenschaft benachbarten Disziplinen, um ein objektiveres Bild der Verfolgung in der NS-Zeit und danach zu gewinnen. Deshalb ist auch die Sammlung von Aufsätzen zur künstlerischen Bewältigung der Vergangenheit von Überlebenden in Kapitel 2.2 zu begrüßen. Aber auch auf dem Feld der Historiografie tut sich Erfreuliches. Stellten die Beschäftigung mit Überlebenden aus Osteuropa oder solchen aus Reihen der Zeugen Jehovas vor kurzem noch Desiderata dar, so werden diesen Gruppen hier ganze Kapitel eingeräumt.
Bei den mehr als 70 und überwiegend sehr interessanten Aufsätzen des Sammelbandes überrascht es nicht, dass die Qualität der einzelnen Beiträge variiert. Wertvoll macht das Buch vor allem seine heterogene Struktur, die bisher vernachlässigte Gebiete beleuchtet oder bereits untersuchte Gebiete in neue Zusammenhänge stellt. Deutlich wird dabei, wie viele unterschiedliche Forschungsgebiete einbezogen werden müssen. Auch in der zeitlichen Perspektive wird klar, dass sich die Spätfolgen der Nazi-Tyrannei oft erst im hohen Alter der Überlebenden zeigen und teilweise an die nachgeborenen Generationen weitergegeben werden – so etwa im Kapitel „Weitergabe zwischen den Generationen“. Ausreichend berücksichtigt wird auch der Aspekt des unterschiedlichen Erlebens und der Bewältigung von Kindern (Kapitel 2.6) und Frauen (Kapitel 2.7).
Einzig der Preis für diese Medienkombination irritiert. Aus gutem Grund haben sich die Herausgeber für die Publikation in Form eines gut 100seitigen Buches, das eine Zusammenfassung der Aufsätze, das Autoren- und Inhaltsverzeichnis umfasst, sowie einer CD-ROM mit einer 800seitigen pdf-Datei, in der sich die eigentlichen Beiträge befinden, entschieden. Damit wurde vermieden, ein – vermutlich mehrbändiges – Werk in Druck zu legen, das hohe Kosten verursacht hätte. Dennoch verlangt der Verlag für die – physisch – recht dünne Ausgabe knapp 70 Euro. Auch hätte man sich von einer elektronischen Publikation ein zur Konferenz zeitnäheres Erscheinen gewünscht.
Anmerkung:
1 Jacobmeyer, Wolfgang, Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951, Göttingen 1985.