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Titel
Henry Kissinger. Wächter des Imperiums


Autor(en)
Greiner, Bernd
Erschienen
München 2020: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Schild, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Auf den ersten Blick erscheint die Amtszeit Henry Kissingers als Nationaler Sicherheitsberater und US-Außenminister von 1969 bis 1977 unter den Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford außerordentlich erfolgreich: Er leitete die Entspannungspolitik ein, die zu amerikanisch-sowjetischen Verträgen über Rüstungsbeschränkung, zum Viermächteabkommen über Berlin und zur Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki führte. Kissinger reiste nach Peking und legte den Grundstein für das Ende der politischen Isolation der Volksrepublik China. Schließlich handelte er ein Ende des Vietnamkrieges aus, wofür er (gemeinsam mit dem nordvietnamesischen Verhandlungsführer Le Duc Tho) 1973 den Friedensnobelpreis erhielt. Aber die Politik Kissingers hat immer auch Kritik hervorgerufen. Das betraf etwa die Strategie im Vietnamkrieg. Nixon und Kissinger wussten, dass der Krieg in Indochina nicht zu gewinnen war, dennoch weiteten sie ihn aus. Etwa ein Drittel der in Vietnam getöteten amerikanischen Soldaten starben in der Amtszeit Nixons. Die Zahl der in dieser Zeit getöteten Vietnamesen liegt noch um ein Vielfaches höher. Und es gibt Kritik an Kissingers Unterstützung für Menschenrechtsverletzungen nach dem Putsch Pinochets in Chile 1973 und während der Militärdiktatur in Argentinien.

Bernd Greiner gehört zur Gruppe der Kritiker. Er weiß wenig Gutes über den Menschen und Politiker Henry Kissinger zu berichten, den er für eitel (S. 83, 387), einen Egomanen (S. 126–127, 133), misstrauisch (S. 81), illoyal (S. 101, 142), einen Plagiator (S. 78), einen Narzissten (S. 243), hochmütig (S. 83), überheblich (S. 129) und intellektuell und politisch überschätzt (S. 388) hält. Was in dieser Ansammlung an kritischen Äußerungen zu kurz kommt, sind Urteile, die Erfolge und Unzulänglichkeiten Kissingers gegeneinander abwägen. Die Ausführungen zu Kissingers Überlegungen zu einem begrenzten Nuklearkrieg mögen dies deutlich machen. Greiner äußert sich an zwei Stellen – darunter einmal ganz prominent zu Beginn des Buches – zu Kissingers Studie Nuclear Weapons and Foreign Policy aus dem Jahr 1957. Kissinger war zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre alt und befasste sich an der Harvard University mit Fragen der internationalen Sicherheit. Greiner interpretiert Kissingers Überlegungen so, dass „begrenzte Atomkriege … militärisch machbar [sind]; sie zu führen, kann durchaus im nationalen Interesse liegen; politisch hellsichtig ist es, in Krisen damit zu drohen“ (S. 15). An anderer Stelle heißt es: „Man musste nicht zwischen den Zeilen lesen, um die Botschaft [Kissingers in Nuclear Weapons and Foreign Policy] zu verstehen: Ein Staat, der zum ‚begrenzten Atomkrieg‘ fähig und willens ist, kann es sich leisten, in die Offensive zu gehen, er agiert, statt nur zu reagieren“ (S. 66). Damit sind die Vorstellungen Kissingers jedoch nur unzureichend wiedergegeben. Wenn man Kissingers Buch liest wird deutlich, dass es ihm darauf ankam, das „Dilemma des nuklearen Zeitalters“ – wie er es nannte – zu überwinden. Wie konnte der Westen gegenüber dem atomar bewaffneten und aggressiv auftretenden Ostblock eigene sicherheitspolitische Handlungsoptionen aufrecht erhalten? Kissinger schrieb: „The enormity of modern weapons makes the thought of war repugnant, but the refusal to run any risk would amount to giving the Soviet rulers a blank check.“1 Den Gedanken an den Krieg a priori zu verwerfen, würde nur den Sowjets helfen. Das war kein Plädoyer für einen militärischen Konflikt. Im Gegenteil waren Kissingers Überlegungen eine Reaktion auf die als verfehlt und gefährlich angesehene Nuklearpolitik der Eisenhower-Administration. Eisenhower war der Auffassung gewesen, dass die bloße Drohung mit dem Einsatz einer großen nuklearen Bombe Moskau ängstigen und jegliche sowjetische Aggression verhindern würde. Die Suez-Krise von 1956 hatte jedoch deutlich gemacht, dass der Kreml die amerikanische Drohung als nicht glaubwürdig ansah. Eisenhower verfügte über keine militärischen Optionen jenseits des Nuklearkrieges und musste nachgeben. Kissingers Überlegungen stehen am Beginn einer grundsätzlichen Neuausrichtung der westlichen Verteidigungsstrategie in den sechziger Jahren hin zu größerer strategischer Flexibilität.

Indem Greiner im ersten Teil des Buches den jungen Kissinger als überzeugten Kalten Krieger darstellt, der sich mit der Existenz des UdSSR nur schwer abfinden konnte, steht er im zweiten Teil, der sich mit seiner Amtszeit als Sicherheitsberater und Außenminister befasst, vor der Herausforderung, den Schwenk hin zur Rüstungskontrollpolitik zu erläutern, die die Jahre Nixons und Kissingers charakterisiert. Der Verfasser geht soweit, zu erklären, dass die Administration Rüstungskontrolle zunächst gar nicht wollte. Allerdings sei in der Öffentlichkeit und im Ausland eine solche Forderung erhoben worden. „Diesen Umschwung in der öffentlichen Meinung zu ignorieren, wäre auch für einen selbstsichereren … Präsidenten schwierig gewesen“ (S. 205). Nicht aus Überzeugung, sondern aus "purer Zweckmäßigkeit" habe der Präsident Rüstungskontrollgesprächen zugestimmt. Dann jedoch scheint sich Kissinger intensiv mit der Materie befasst zu haben. Der Verfasser wirft ihm nun vor, dass er die Verhandlungen zur Rüstungskontrolle persönlich geführt und zuständige Diplomaten übergangen habe. Es kam zu Rüstungskontrollvereinbarungen, die im Rahmen von Nixons Moskaubesuch im Mai 1972 unterzeichnet wurden. Auch das entlockt Greiner kein Lob für Kissinger. Im Gegenteil: Als Nixon während des Besuchs mit Breschnew zu dessen Datscha aufbrach, „drehte [Kissinger] vollends durch“ (S. 213).2

Der dritte Teil des Buches behandelt Kissinger als „Pensionär“. Nach dem Ausscheiden aus dem Amt habe er sich allen späteren Präsidenten aufgedrängt und angebiedert. Jedes Mal sei er brüskiert worden. Warum? „Des Rätsels Lösung heißt Kissinger, er scheiterte an seiner Selbstüberschätzung“ (S. 386–387). Vielleicht lag es aber auch an etwas Anderem. Die Phase der amerikanischen Bereitschaft zur Rüstungskontrolle deckt sich weitgehend mit der Amtszeit Nixons und Kissingers. Die folgenden Präsidenten Jimmy Carter und Ronald Reagan setzten andere Prioritäten und rüsteten auf, um die UdSSR zu destabilisieren. War Kissinger für Neokonservative inakzeptabel, weil er in ihren Augen zu sehr der Entspannung verpflichtet war?

Der vielleicht deutlichste Hinweis, dass Kissinger jedoch keine „Taube“ war, ergibt sich aus seinen publizistischen Äußerungen für eine Irakinvasion in den Jahren 2002 und 2003.3 Greiner streift diesen Bereich kaum, obwohl es interessante Parallelen zum Vietnamkrieg gibt. Auch andere Fragen, die sich im Zusammenhang mit Kissinger stellen, werden eher beiläufig behandelt: Welches Deutschlandbild hatte er? Warum wurde aus einem Exilanten, der in seiner Jugend das Böse gesehen hat, ein Realpolitiker statt eines Idealisten? Welche Bedeutung hat die Entspannungspolitik aus heutiger Sicht für die Geschichte des Kalten Krieges? Greiner bietet auf diese Fragen knappe und einseitige Antworten, die der Komplexität des Menschen und Politikers Henry Kissinger nicht immer gerecht werden.

Anmerkungen:
1 Henry Kissinger, Nuclear Weapons and Foreign Policy, New York 1969, S. 4.
2 Greiners Quelle für Kissingers Wutausbruch in Moskau sind die Tagebücher von Nixons Stabschef H.R. Haldeman, URL: <https://www.nixonlibrary.gov/sites/default/files/virtuallibrary/documents/haldeman-diaries/37-hrhd-audiocassette-ac35a-19720526-pa.pdf>. Wenn man den Eintrag vom 27. Mai 1972 liest, kann man durchaus zu einer anderen Einschätzung der Ereignisse kommen als Greiner. Es geht um einen Konflikt mit Außenminister William Rogers, der Kissinger einen Auftritt bei einer Pressekonferenz untersagen wollte („under no circumstances to allow Henry [Kissinger] to have a press conference of any kind out of their presence“), damit nicht nur das Weiße Haus, sondern auch das State Department seine Rolle bei den Verhandlungen herausstellen konnte. Nach Haldemans Einschätzung teilte Nixon später Kissingers Position.
3 Henry Kissinger, Iraq is becoming Bush's most difficult challenge, Chicago Tribune, 11. August 2002.

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