"Wann besteht der Staat: wenn er die Chance hat, daß man ihm gehorcht!" In seiner letzten Vorlesung im Sommer 1920 in München, vor dem Erfahrungshintergrund von Niederlage, Revolution und Räterepublik in Bayern griff Max Weber auf seine Definition von Herrschaft zurück. Diese stellt die Notwendigkeit der Akzeptanz durch die Beherrschten in den Mittelpunkt. Lapidar konstatierte Weber, "Existenz des Staates: Gehorsamschance."1
Die historische Analyse des politischen Eids, die Vanessa Conze vorlegt, führt damit in einen Kernbereich staatlicher Verfaßtheit. Genauer gesagt, zur Frage, wie politische Ordnungen die Stabilität ihrer Ordnung sichern, die Chance erhöhen können, daß staatliche Vorgaben umgesetzt werden. Dafür versucht der moderne Staat auch einzelne Funktionsgruppen auf besondere Weise an die Herrschaftsträger bzw. die politische Ordnung zu binden und diese besondere "Treue" hervor- und herauszuheben. Vanessa Conze konzentriert sich in ihrer Arbeit zeitlich auf Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert., vor allem auf die vier politischen Systeme seit dem Kaiserreich, wodurch die jeweiligen Herrschaftsbrüche und die Legitimationswechsel – 1918, 1933, 1945/1949 – in den Mittelpunkt rücken. Nach einem ersten, ziemlich kurzen Abschnitt zum Eid in der Ära zwischen revolutionärem Umbruch nach 1800 und der Reichsgründung – in der sich der von liberaler Seite propagierte Bezug des Eids auf die Verfassung an Stelle des Schwurs auf den Monarchen nicht durchsetzen konnte – bilden die vier Kapitel zum politischen Eid im Kaiserreich, in Weimar, im "Dritten Reich" und in der Bundesrepublik die eigentliche Arbeit. Die DDR bleibt bis auf ein paar Bemerkungen ausgespart.
Die Arbeit konzentriert sich aus pragmatischen Gründen auf zwei besondere staatliche Funktionsträger, die Beamtenschaft und das Militär, und die Eidleistungen dieser beiden Gruppen. Die Gebrochenheit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert findet auch hier ihren Niederschlag, erfuhr die Eidesformel jeweils scharfe Kehren. Der Bezug auf den Monarchen (Kaiserreich) verlangte vom Beamten "treu und gehorsam" zu sein und "zu Gott" zu schwören, nach 1919 wurde "Treue auf die Reichsverfassung" geschworen, nun aber ohne Verweis auf Gott. Nach 1934 – bezeichnender Weise erst nach dem Tod Hindenburgs – schwor man wieder "bei Gott", aber jeweils ad personam Hitler. Das Militär verpflichtete sich auf "unbedingten Gehorsam" ihm gegenüber, die Beamten, ihm "treu und gehorsam" zu sein. In der Bundesrepublik schließlich schwört der Beamte, das Grundgesetz und alle geltenden Gesetze "zu wahren" und "die Amtspflichten gewissenhaft zu erfüllen". Wer will, mit der Formel "so wahr mir Gott helfe" (S. 44, 98, 162, 240). Ein symbolisch hervortretendes Ende dieser Entwicklung war in den 1970er-Jahren erreicht, als Gustav Heinemann die Bindung an Gott als Bestandteil des Eides offen ablehnte, mit dem Argument, die Würde des Menschen sei als oberster Wert anzurufen. An die Stelle des Eides traten damit immer mehr andere Formen wie etwa das Gelöbnis, das jedoch heute im Alltagsverständnis wohl kaum klar unterschieden wird vom Eid.
In empirisch gut fundierten Darstellungen schildert die Autorin jeweils die Genese der Eidesformeln und analysiert den rechtsgeschichtlichen, ideellen und politischen Kontext der Neuregelungen. Dem Anspruch, sowohl diskursgeschichtlich wie praxeologisch vorzugehen (S. 14), wird sie gerecht, wobei der Schwerpunkt deutlich auf der öffentlichen und politischen Diskussion über die Bedeutung und die konkrete Regelung des politischen Eids liegt. Ihre Interpretation des Eides ist eingebettet in zwei historisch übergreifende Perspektiven. Zum einen betont sie die religiöse Substanz des Eides in der Vormoderne. Geschworen wurde vor Gott, d.h. vor einer religiösen Autorität, womit sich der Eidleister auch der göttlichen Strafe unterstellte, wenn er gegen den Eid verstoßen sollte. Das göttliche Gesetz war gewissermaßen der Dritte, der am Schwurakt beteiligt war und als Garantieträger für die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit des Eides fungierte. Der Eid als "Sakrament der Herrschaft"2 war in dieser Form nicht in die Moderne zu überführen. Das betont Conze zu recht. Das allmähliche Verschwinden von Bekräftigungsformeln wie "so wahr mir Gott helfe", bzw. ihre Freiwilligkeit, spiegelt das. Zum zweiten betont sie die Wirkung des Eides, als ein Ritual, durch das Herrschaft erst "gestiftet" und Loyalitäten "begründet" würden.
Der historische Entstehungs- und Verständigungskontext der jeweiligen Eidformeln nach den politischen Brüchen im 20. Jh. wird in der Arbeit präzise und systematisch dargestellt. Zwei Fragen stellen sich jedoch nach der Lektüre, die auf Problemdimensionen verweisen, die in der Arbeit kaum angesprochen werden. Etwas kategorisch betont die Autorin die herrschaftsstiftende Wirkung des Rituals, als welches sie den Eid beschreibt. Hier bleibt es letztlich bei einer Setzung. Dem kann man entgegenhalten, daß Kulturanthropologen Rituale nicht als Ursache für Einstellungen interpretieren, sondern als "Ausdrucksformen", deren praktischer Vollzug "Bedeutungen" sichtbar macht, sie darstellt.3 Welche sozialen Leidenschaften stellt der politische Eid dar, welche symbolische Struktur von "Treue" etwa zu jemandem oder zu einer Ordnung drückt er aus? Insofern wäre es präziser, den politischen Eid als Indikator für das jeweilige Herrschaftsverständnis und -verhältnis zu interpretieren, und nicht als Faktor, auf welchem sich eine politische Ordnung nach einem Systembruch, neu etablieren konnte. Als "Verbrüderungsvertrag" (Max Weber) beruht der Eid auf einem gemeinsamen Wertebezug von Eidgeber und -nehmer. Gerade die Abfolge der Systemwechsel und die letztlich sehr kleine Zahl von Personen, welche den vorherigen Eid zum Maßstab genommen haben, auch in der neuen Ordnung daran festzuhalten, spricht dafür. Ein ausführlicherer Blick auf die Funktion des Eides in der Moderne, könnte das sichtbarer machen.
Das langfristige Verblassen der religiösen Legitimationsbasis des Eids dürfte unstrittig sein. Reizvoll wäre es dennoch, epochenübergreifende Vergleiche anzustellen. Wenn der religiöse Deutungsrahmen im Prozeß der Säkularisierung verblaßt, rückte komplementär dann nicht die Entstehung des modernen Gewissens, die zunehmende Innenleitung des Menschen, funktional an die Stelle, um eine Stabilität von Handlungen zu garantieren?4 Auch das säkular gehaltene Gelöbnis bleibt auf einen Bezugspunkt verwiesen, in dem die Stabilität des Gelobten verankert werden kann. Die Frage des Eids verweist damit auf das fundamentale Problem des modernen Staates, das Ernst-Wolfgang Böckenförde vor Jahrzehnten, ebenfalls in Auseinandersetzung mit der Entsakralisierung von politischer Ordnung, aufgeworfen hat. "Woraus lebt der Staat, worin findet er die ihn tragende, homogenitätsverbürgende Kraft und die inneren Regulierungskräfte"? Weder Religion, noch Nation, noch sozialstaatliche könnten das leisten, so Böckenförde in den 1960er-Jahren, geprägt vom Bruch nach 1945. Gehören aber für den säkularisierten Staat zu den "Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann", um das berühmte Theorem zu zitieren, nicht immer noch jene inneren Antriebe und Bindungskräfte, die "der religiöse Glaube" der Bürger vermittelt?5 Das kann man übertragen: warum der politische Eid immer noch eine Wirkung hat, wie groß oder klein sie auch sein mag, diese Frage ist mit der vorliegenden Arbeit zwar nicht beantwortet. Aber sie läßt sich nun genauer stellen.
Anmerkungen:
1 Max Weber, Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie), Tübingen 2009, (MWG III/7), S. 68 u. 69.
2 Paolo Prodi, Das Sakrament der Herrschaft. Der politische Eid in der Verfassungsgeschichte des Okzidents, Berlin 1997.
3 Klassisch Clifford Geertz, Dichte Beschreibung, Frankfurt 1983, etwa S. 246 (in der Analyse des Hahnenkampfes auf Bali): das Ritual ist eine "Ausdrucksform", seine Funktion ist es weder, soziale Leidenschaften zu "zähmen", noch sie zu "schüren", sondern sie "darzustellen".
4 Verwiesen sei nur auf Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt 1991.
5 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt 1991, S. 92–114, hier 111, 112f.