Es sei ein Experiment, schreiben die Autor:innen in der Einleitung, ein Experiment, das mit dem Anliegen beginnt, Zeitgeschichte anders zu denken und zu praktizieren als häufig üblich. Wissenschaft begibt sich, so die Idee, aus dem Elfenbeinturm hinaus und stellt ihre Ergebnisse zur Diskussion, bevor sie publiziert werden. Die „lange Geschichte der ‚Wende‘“ (ein Zeitraum, den die Autor:innen von den 1970er-Jahren bis in die 2000er-Jahre verorten) bildet den inhaltlichen Schwerpunkt des Buchs. „Geschichtswissenschaft im Dialog“ ist das kommunikative Anliegen. Die Publikation ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts, das zwischen 2016 und 2020 unter der Leitung von Kerstin Brückweh am ZZF Potsdam durchgeführt wurde. Das Buch diskutiert zum einen die empirischen Befunde des Projekts, zum anderen dokumentiert und reflektiert es die Erprobung verschiedener Dialogformen zwischen Wissenschaft und diversen (Teil-)Öffentlichkeiten.
Der Fokus der Untersuchungen liegt auf Lebenswelt und Alltag, mithin auf den Praktiken, Handlungsweisen und Strategien der Menschen in DDR-, Wende- und Transformationszeit. Diese werden ausgehend von den Themenfeldern Wohnen und Wohneigentum (Kerstin Brückweh), Konsum und Konsumkultur (Clemens Villinger) sowie Schule (Kathrin Zöller) untersucht. Im Rahmen ihrer Mikrostudien arbeiteten die Historiker:innen mit unterschiedlichen Methoden und Quellen: Sie führten biographische Interviews, werteten Archivmaterial aus und unterzogen quantitative und qualitative sozialwissenschaftliche Studien aus den 1990er-Jahren einer Relektüre.
Mit dem Konzept der „langen Geschichte der ‚Wende‘“, das den Systemwechsel vom Herbst 1989 bis zum Beitritt der DDR zur BRD 1990 ebenso wie die Vor- und Nachgeschichte in die Analyse einbezieht, unterbreiten die Autor:innen ein begriffliches Angebot zur Fassung des Zeitraums. Dieses verortet sich jenseits einer ereignis- und politikgeschichtlich orientierten Engführung, distanziert sich von dem geschichtskulturell und -politisch geprägten Begriff „friedliche Revolution“ und versucht, den umstrittenen „Wende“-Begriff für die historische Forschung anschlussfähig zu machen. Der Begriff „Wende“ ist für 1989 zum einen eng verbunden mit den Versuchen der SED unter Egon Krenz, durch Reformen der revolutionären Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zugleich fand „Wende“ früh Eingang in die Alltagssprache im Osten, um Erfahrungen mit dem gesellschaftlichen Umbruch zu beschreiben und chronologisch zu fassen. Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung der Autor:innen durchaus plausibel, für die Untersuchung von Alltags- und Erfahrungswelt einen alltagsweltlichen Beschreibungsbegriff zu favorisieren und ihn durch die Rahmung als „lange Geschichte“ zu konkretisieren. Das begriffliche Angebot von Brückweh et al. ist zugleich Teil einer kontinuierlichen, in den letzten Jahren wieder kontroverser geführten Debatte um Analysebegriffe zur Beschreibung von 1989/90ff. So hat jüngst Ralph Jessen die Debatte noch einmal reflektiert und mit dem Begriffspaar „Transfergesellschaft“ und „Revolution nach der Revolution“ ein begriffliches Angebot unterbreitet, das zum einen auf die massiven Unwuchten im Vereinigungsprozess abhebt (wesentlich bedingt durch den Transfer eines fertigen politischen Modells auf ein anderes und damit zusammenhängenden Anerkennungskonflikte) und zum anderen die tiefgreifenden Veränderungen und biographischen Brüche als Teil einer „sozialen Revolution“ in den 1990er-Jahren fasst.1
Im ersten Teil des Buchs werden die Forschungsergebnisse im Rahmen eines Schriftgespräch entlang verschiedener Thesen diskutiert. Ein zentraler Befund ist die „Gleichzeitigkeit der Unsicherheiten“ (S. 32) als prägendem Charakteristikum der Transformationsphase. Für alle drei Forschungsfelder können die Autor:innen den gleichzeitigen Verlust von Stabilitäten und Vorhersehbarkeiten nachzeichnen: Wohnräume wurden prekär (Stichwort Restitution von Wohneigentum). Die Teilhabe an Konsum war durch eine neue Unübersichtlichkeit geprägt und durch die Bedrohung von Arbeitsplätzen verunsichert. Schule als Ort relativer Stabilität war zugleich verknüpft mit Zukunftsangst und Orientierungslosigkeit vor allem der „Generation der Unberatenen“.2
Die Darstellung der Forschungsergebnisse ist im Buch Ausgangspunkt für die folgenden Kapitel, die verschiedene dialogische Formen praktizieren, dokumentieren und reflektieren. In „Persönliche Blicke“ äußern sich vormals befragte Zeitzeug:innen erneut – nun zu den Forschungsergebnissen. Ihre Reaktionen sind unterschiedlich sowohl in dem, was erzählt wird als auch wie dies geschieht: Wurden die Zeitzeug:innen ursprünglich in einer bestimmten Rolle befragt, reflektieren sie nun das Ergebnis der Forschung, das nur noch bedingt mit der eigenen biographischen Erzählung zu tun hat, sondern zu einer abstrakten Form von Wissen geronnen ist. Dies ruft ebenso Irritationen hervor wie die Wahrnehmung, dass eine historisierende Perspektive zum Verstehen historischer Zusammenhänge und zur Einbettung der individuellen Biographie beitragen kann. Das anschließende Kapitel „Wissenschaftliche Blicke“ versammelt Rezensionen im Rezensierten, in dem Wissenschaftler:innen anderer Disziplinen (u.a. Osteuropageschichte, Soziologie) auf der Grundlage des Manuskripts Vergleichsperspektiven aufrufen.
Die folgenden Kapitel sind in Auseinandersetzung mit einer Dialogreise entstanden, die am Ende der Projektlaufzeit 2020 stattfand. Die Reise führte die Historiker:innen zum Teil zurück an ihre Untersuchungsorte (nach Meiningen in Thüringen, Garrey im Südwesten Brandenburgs, nach Kleinmachnow bei Berlin) sowie nach Leipzig. Den Verlauf der Reise hat der Journalist Christian Bangel kommentiert, der das Team begleitete. In seinem Beitrag „Stunde null, Jahr dreißig“ reflektiert er auch den tagespolitischen Kontext. Es ist Januar 2020, die Regierungskrise in Thüringen hatte sich auf Bundesebene zugespitzt, in Halle wurde gerade das Büro eines SPD-Politikers angegriffen. Bangel, der sich seit Jahren mit Ostdeutschland und Rechtsextremismus beschäftigt, fragt mit Blick auf diesen, sich in den Ereignissen vergegenwärtigenden „wütenden Gegenwartsosten“: Kommen wir nicht zu spät für einen Dialog, wie ihn das Buch anstrebt? (S. 225f.) Auch der künstlerische Kommentar der Fotografin Clara Bahlsen ist kritisch. Über 60 ihrer Fotografien, die während der Dialogreise entstanden, wurden in das Buch aufgenommen. Wo das Historikerteam nach Brücken suchte, manifestiert sich in Bahlsens Fotografien vor allem eine Atmosphäre der Abgrenzung: geschlossene Tore und Fensterläden, hohe Zäune und menschenleere Szenerien. In Reaktion auf diese kritischen Kommentare entschied das Forschungsteam, ein weiteres Schriftgespräch zu führen. Unter dem Titel „Die Alltäglichkeit von Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus in der langen Geschichte der ‚Wende‘“ diskutierten sie mit der ZZF-Historikerin Henrike Voigtländer erneut ihr empirisches Material.
Die Heterogenität der Perspektiven zwischen Zeitzeugenschaft, Wissenschaft, Journalismus und Kunst greifen die Autor:innen in der Zusammenfassung explizit auf. Differenz sei die neue Meistererzählung (S. 258) heißt es dort, eine gerade über ihre Widersprüchlichkeit wirkende Pointe3, die das Anliegen der Autor:innen unterstreicht, zu einer Pluralität der Perspektiven auf die „lange Geschichte der ‚Wende‘“ beizutragen, eine Geschichte, die sich nach wie vor massiv in die Gegenwart einschreibt, emotional verhandelt wird und Teil (geschichts-)politischer Konflikte ist.
Welche Rolle kann in dieser Gemengelage Zeitgeschichtsforschung spielen? Zum einen verfügt sie über methodische und theoretische Ansätze, um Differenz in ihrer Komplexität darstellbar zu machen und historisch zu kontextualisieren. Zugleich benötigt dieser Prozess Zeit und Ressourcen und konkurriert mit anderen Deutungsangeboten, die nicht nur schneller, sondern auch stärker gegenwartsbezogen sind. Die Autor:innen versuchen in ihrem Buch, dieses Nebeneinander nicht aufzulösen, sondern wechselseitig in einen Dialog zu bringen. Ihre Aufgabe sehen sie nicht zuletzt darin, historisches Forschen als Praxis transparent zu machen: Spielt es eine Rolle für die Forschenden, ob sie aus dem Osten kommen oder nicht? Behindert biografische Nähe den Erkenntnisprozess oder kann sie ihn erleichtern? Wie werden Quellen erhoben und ausgewertet? Welche Vorannahmen werden getroffen? Wo liegen die Unterschiede zwischen historischem Forschen, biographischem Erinnern, journalistischer Recherche, künstlerischer Reflexion? Welche Rolle spielt Zeitgeschichte in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen? Wie kann eine 'Übersetzungsarbeit' von Wissenschaft in nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeiten funktionieren? Mit welchen wechselseitigen Erwartungen ist dieser Prozess verbunden? Das Buch greift diese Fragen auf, ohne sie abschließend zu klären. Vielmehr macht es sie selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung und ruft die grundsätzliche Frage auf, ob und inwiefern Zeitgeschichte als „Vorgeschichte der Gegenwart“ verstanden werden kann.4 Vor diesem Hintergrund kann das Buch als ein Beitrag zu einem Forschungsfeld gelesen werden, das sich in einem grundlegenden Umbruch befindet, der bedingt ist durch den Zugang zu neuen Quellen nach 30 Jahren, einen generationellen Wandel (auch in der Forschung) sowie eine (erinnerungs-)politische Brisanz und Aktualität des Themas, die neue Perspektiven (gerade auch bisher marginalisierte) und Fragen notwendig machen. Darüber hinaus kann das Buch als Lehrbuch verstanden werden, als ein Angebot zur Vermittlung von Komplexität. Dass es dabei Lücken aufweist, Widersprüchliches, Vorläufiges kann als Teil eines konstruktiven Verunsicherungsprozesses verstanden werden, der auf Verständigung wie Erkenntnis gleichermaßen zielt.
Anmerkungen:
1 Vgl. Ralph Jessen, Revolution und Transformation. Anerkennungskämpfe in der Vereinigungsgesellschaft, in: Marcus Böick / Constantin Goschler u.a. (Hrsg.), Jahrbuch Deutsche Einheit, Berlin 2020, S. 24–45.
2 Vgl. Bernd Lindner, Die Generation der Unberatenen. Zur Generationenfolge in der DDR und ihren strukturellen Konsequenzen für die Nachwendezeit, in: Annegret Schüle / Thomas Ahbe / Rainer Gries (Hrsg.), Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006, S. 93–112.
3 Bereits Konrad H. Jarausch sah in der Vielstimmigkeit aufeinander bezogener historischer Erzählungen die Möglichkeit zur Herstellung größerer Komplexität im Verständnis von Vergangenheit, ohne dass diese in ein neues dezentrales Narrativ der Vielfalt einmünden sollte. Vgl. Konrad H. Jarausch, Die Krise der nationalen Meistererzählungen. Ein Plädoyer für plurale, interdependente Narrative, in: Ders. / Martin Sabrow (Hrsg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 140–162.
4 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael u.a. (Hrsg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016.