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Titel
Legal Sabotage. Ernst Fraenkel in Hitler's Germany


Autor(en)
Morris, Douglas
Reihe
Cambridge Studies in Constitutional Law Series
Erschienen
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
$ 110,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Wildt, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Ernst Fraenkel (1898–1975), bekannt durch seine Studie „The Dual State“, die 1941 im Exil in den USA, erst 1974 auf Deutsch erschien und als grundlegende, bis heute nachwirkende Analyse des NS-Regimes der Vorkriegszeit gilt, gehörte in der Weimarer Republik wie Franz Neumann, Otto Kirchheimer und andere zu den jungen, linken, jüdischen Juristen, die sowohl praktisch als Rechtsanwälte für die SPD und die Gewerkschaften arbeiteten als auch theoretisch das Recht in der neuen deutschen Republik demokratisieren wollten.

Nach der Machteroberung der Nationalsozialisten blieb Fraenkel noch bis 1938 in Deutschland und konnte aufgrund der Ausnahmebestimmung des Berufsbeamtengesetzes, das ehemaligen Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges zunächst eine Betätigung im öffentlichen Dienst weiter ermöglichte, was analog für die rechtliche Vertretung vor Gericht galt, noch als Rechtsanwalt wirken.

Simone Ladwig-Winters hat bereits in ihrer Fraenkel-Biographie dargestellt, dass er als Anwalt wie als Publizist aktiven Widerstand gegen das NS-Regime geleistet hat.1 Nun jedoch liegt mit Douglas G. Morris‘ Buch eine quellenintensive, ausführliche Untersuchung über Fraenkels Widerstand im NS-Deutschland vor, die die Forschung wesentlich bereichert.

Morris, Rechtshistoriker und Strafverteidiger in New York, zeichnet auf der Grundlage einer akribischen Quellenrecherche in etlichen Archiven, Nachlässen, Entschädigungsakten und anderen mehr die anwaltliche und publizistische Tätigkeit Fraenkels nach und zeigt damit auch, wie dieser verfolgte Sozialdemokraten und Gewerkschafter vor Gericht verteidigte und zum Teil deren Freilassung erreichen konnte. Morris betont dabei die Zusammenarbeit Fraenkels mit anderen, nicht-jüdischen Anwälten wie Heinrich Reinefeld oder Gerhard Wille, die oftmals zu dritt arbeitsteilig vorgingen. Die detailliert recherchierten Fallanalysen belegen nicht nur Fraenkels unerschrockenes, gleichwohl kluges und bedachtes Auftreten vor Gericht, sondern vermitteln auch einen anschaulichen Einblick in die Verfolgung von Antifaschisten wie in die Gerichtspraxis im Nationalsozialismus, vor allem im Hinblick auf die Handlungsmöglichkeiten, die sich den Verteidigern in den ersten Jahren des Regimes noch boten.

Fraenkel war ebenso als Verfasser von Artikeln über die NS-Diktatur tätig, die unter Pseudonymen in der „Sozialistischen Warte“, der Exil-Zeitschrift des linkssozialistischen Internationalen Sozialistischen Kampfbundes ISK, veröffentlicht wurden. Fraenkels Artikel, in denen er über die Zerstörung des Rechtsstaates, die Prinzipien illegaler Arbeit und erste Skizzen zum „Doppelstaat“ schrieb, sind in der Werkausgabe von Ernst Fraenkel nachzulesen.2 Morris stellt ihren Inhalt einem englischsprachigen Publikum vor, interpretiert und kontextualisiert sie aber darüber hinaus, sodass dieses Kapitel auch für Leserinnen und Leser, die mit den deutschen Originaltexten vertraut sind, von Gewinn ist.

Einen eigenen innovativen Akzent setzt Morris in dem Kapitel zur Entstehung des „Doppelstaates“, mit dem Fraenkel zwischen einem „Normenstaat“, der „mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangen“, und einem „Maßnahmenstaat“ unterscheidet, dem „Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist“.3 Ausdrücklich hob Fraenkel hervor, dass damit nicht das Nebeneinander von Staats- und Parteibürokratie gemeint sei, sondern der gesamte öffentliche Apparat in den Blick genommen werde. Die Institutionen des NS-Staates konnten sowohl zum Normen- als auch zum Maßnahmenstaat gehören, wobei den eindeutig zum Maßnahmenstaat gehörende SS- und Polizeiapparat gerade die Verbindung von staatlicher Polizei und nationalsozialistischer Organisation auszeichnete.

Ernst Fraenkel hat 1937/38 an dem Manuskript zum „Doppelstaat“ (der sogenannte „Urdoppelstaat“4) gearbeitet, das durch glückliche Umstände aus Deutschland herausgebracht werden konnte und als Vorlage für die englische Publikation diente. Mit einer deutschen Ausgabe hat sich Fraenkel, der 1951 nach Deutschland zurückkehrte und Politikwissenschaft an der Freien Universität in Berlin lehrte, erst kurz vor seinem Tod befasst, die dann, weil damals das Originalmanuskript als verloren galt, als Übersetzung der englischen Fassung erschien.5

Morris begreift Fraenkels Buch auch als eine theoretische Rechtfertigung des Widerstands. Gerade im mittleren Teil des „Doppelstaats“, in dem Fraenkel die nationalsozialistische Rechtslehre untersucht, entfaltet er eine naturrechtliche Begründung des Widerstands, gerechtfertigt durch eine Legitimation, die in einer langen Tradition europäischen Denkens die Freiheit und Gleichheit von Menschen als natürliche Rechte auffasst. Dagegen stehe, so Fraenkel, die nationalsozialistische Vorstellung von der Gemeinschaft als alleinige Quelle allen Rechts. „Wer außerhalb der Gemeinschaft steht, ist der wirkliche oder potentielle Feind. Innerhalb der Gemeinschaft gelten Friede, Ordnung und Recht. Außerhalb der Gemeinschaft gelten Macht, Kampf und Vernichtung.“6

Morris macht damit auf einen Aspekt in Fraenkels Buch aufmerksam, der bislang nur wenig beachtet worden ist, dass der Widerstand gegen das NS-Regime nicht allein deswegen geboten sei, weil es die Gesetze missachtete und Menschen aus politischen wie rassistischen Gründen verfolgte, sondern weil es fundamental das Naturrecht von Menschen angreife und daher allen Menschen, gleich welcher religiösen, politischen Überzeugung oder ethnischen Herkunft sie seien, das Recht auf Widerstand zustehe. Damit unterschied sich Fraenkel auch von der NS-Kritik seines Freundes und Mitkämpfers Franz Neumann, der den Nationalsozialismus vor allem wegen der Zerstörung des Rechtsstaates („rule of law“) und damit des Staates überhaupt kritisierte. Folgerichtig war das NS-Regime für Neumann ein „Unstaat“, ein Ungeheuer namens „Behemoth“.7

Es ist konsequent und erhellend, dass Morris in einem weiteren Kapitel Fraenkels Konzeption mit denen anderer Weggenossen vergleicht wie dem Sozialdemokraten, Widerständler und KZ-Häftling Hermann Brill, dem konservativen Kirchenrechtler und Verteidiger der „Bekennenden Kirche“ Martin Gauger und eben Franz Neumann. Fraenkels Navigieren als Anwalt vor Gericht, der die noch vorhandenen Handlungsmöglichkeiten für seine Klienten zu nutzen verstand, einerseits und als klandestiner Publizist und beobachtender Analytiker auf der anderen Seite, bildete, so Morris, die Erfahrungsgrundlage seines Konzepts des „Doppelstaats“ – und umgekehrt, die theoretische Analyse des NS-Regimes bot ihm Orientierung für das eigene praktische Widerstandshandeln.

Woher er seinen Mut nahm, wird sein Geheimnis bleiben. Fraenkel sprach nach dem Krieg nie öffentlich über seinen Widerstand. Die Gestapo hatte ihn in diesen Jahren im Visier. 1935 stand sein Name auf einer Gestapo-Liste von Rechtsanwälten, die Sozialdemokraten verteidigten; im Januar 1938 sollte er bereits verhaftet werden. Bevor sich die Schlinge im September zuzog, konnte Fraenkel buchstäblich in letzter Sekunde seinen Verfolgern entkommen. Mit der Würdigung und Analyse von Fraenkels Widerstand gegen das NS-Regime hat Douglas G. Morris einen beachtlichen, künftig unverzichtbaren Beitrag zur Forschung geleistet.

Anmerkungen:
1 Simone Ladwig-Winters, Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben, Frankfurt am Main 2009, S. 88–128.
2 Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 2: Nationalsozialismus und Widerstand, hrsg. v. Alexander von Brünneck, Baden-Baden 1999, S. 475–519.
3 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat (1974), in: ebd., S. 33–266, hier S. 49.
4 Ernst Fraenkel, Der Urdoppelstaat (1938), in: ebd., S. 267–473.
5 Zur Editionsgeschichte vgl. Alexander von Brünneck, Der Doppelstaat von Ernst Fraenkel, in: ders. / Horst Dreier / Michael Wildt, ad Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Hamburg 2021, S. 7–24.
6 Fraenkel, Doppelstaat, S. 193.
7 Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944, neu herausgegeben von Alfons Söllner und Michael Wildt, Hamburg 2018, S. 16. Zu Neumann siehe das Vorwort von Alfons Söllner, in: ebd., S. III–XXXVI.

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