Title
Täter von Grafeneck. Vier Ärzte als Angeklagte im Tübinger "Euthanasie"-Prozess 1949


Author(s)
Christ, Verena
Series
Contubernium
Published
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Extent
242 S.
Price
€ 50,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Kathrin Janzen, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Im Sommer 1949 waren im Tübinger Grafeneck-Prozess acht Personen angeklagt, sich an den nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morden beteiligt zu haben. Im Zuge der sogenannten „Euthanasie“ sind zehntausende Menschen mit Krankheiten und Behinderungen in eigens dafür eingerichteten Tötungsanstalten ermordet worden. Vor dem Tübinger Gericht wurde die Beteiligung am Massenmord in einer der sechs Tötungsanstalten verhandelt: In Schloss Grafeneck wurden im Jahr 1940 mehr als 10.000 Patientinnen und Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten in der dortigen Gaskammer systematisch ermordet. Angeklagt waren unter anderem die drei Ärzte Alfons Stegmann, Max Eyrich und Otto Mauthe, sowie die Ärztin Martha Fauser.

In ihrer Publikation, die aus ihrer Dissertation am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Tübinger Eberhard-Karls-Universität hervorgegangen ist, stellt Verena Christ diese vier Angeklagten in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung. Mit dieser Fokussierung bearbeitet Christ eine Lücke in der NS-Täterforschung, da die konkrete Erforschung der Tatbeteiligten des systematischen Massenmords an Menschen mit Krankheiten und Behinderung seit dem Aufschwung der Untersuchung von Tätern des Holocaust in den 1990er-Jahren in den Hintergrund gerückt ist. Dies gilt insbesondere für die Forschung, die nach Ursachen für Tatbeteiligung und Täterhandeln sucht. Christ strebt an, diese Lücke mit ihrer Analyse zu füllen. Anhand der biografischen Daten und Lebensläufe der vier angeklagten MedizinerInnen stellt sie Bezüge zu bisherigen Erkenntnissen aus der NS-Täterforschung her und sucht außerdem nach einem „Typus des ‚Euthanasie‘-Arztes“, der anhand von „Gemeinsamkeiten im Handeln, der Gesinnung, der Wahrnehmung und des Wertesystems“ bestimmt werden soll (S. 13).

Christ beginnt mit einem kurzen Überblick über den Diskurs um Eugenik und Rassenhygiene vom 19. Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus. Dem folgen einzelne biographische Kapitel zu den vier im Grafeneck-Prozess angeklagten Personen, welche den Kern der Publikation bilden. Dabei bezieht sie sich vor allem auf Quellenmaterialen aus dem Tübinger Gerichtsverfahren, wertet aber auch die „ambivalente“ Berichterstattung der lokalen Zeitungen aus, welche über den Prozess berichteten. (S. 45) Hier wird die regionale Nähe der am Prozess Beteiligten und der Berichterstatter zu Grafeneck hervorgehoben: „[…] durch die örtliche Nähe [war] jeder irgendwie beteiligt an den Verbrechen in und um Grafeneck. Man hatte die grauen Busse gesehen, selbst der Staatsanwalt ‚hat […] den Schornstein von Münsingen aus rauchen sehen können‘“ (S. 45).

Mit viel Raum fürs Detail werden die Biografien der Angeklagten vorgestellt. In dieser detaillierten Ausarbeitung liegt die Stärke dieser Arbeit. Der Werdegang, das Engagement in Partei und Parteiorganisationen, die jeweiligen Studien- und Berufsstationen und die konkreten Tätigkeiten in der Beteiligung am Massenmord werden erläutert. Schon in diesem Teil der Arbeit wird deutlich, wie sehr sich die Lebensläufe und Beteiligungen der vorgestellten Akteure trotz ihres Bezuges zu Grafeneck voneinander unterscheiden.

Dr. Alfons Stegmann leitete die Zwischenanstalt in Zwiefalten, etwa 20km südlich von Grafeneck gelegen. Der promovierte Mediziner war bei Selektionen und Deportationen aus der Anstalt Winnental nach Zwiefalten dabei und soll außerdem Interesse an einer Tätigkeit in Grafeneck bekundet haben (S. 53f.). An der Gestaltung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik beteiligte er sich bereits Jahre vor dem Beginn der „Euthanasie“ (S. 58). Schon 1938 war er für die Erfassung der PatientInnen, die nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Württemberg zwangssterilisiert werden sollten, verantwortlich – eine Tatsache, die im Gerichtsverfahren nicht berücksichtigt wurde. Unter seiner Verantwortung wurden aus Zwiefalten 621 Patienten abtransportiert, von denen 616 in Grafeneck ermordet wurden (S. 62).

Nachdem Stegmann die Anstalt Zwiefalten im August 1940 verließ, als sein Verhältnis mit der Frau des dortigen Bürgermeisters publik geworden war, übernahm die Ärztin Dr. Martha Fauser diese Position. Als Frau und approbierte Ärztin musste sie sich in einem von Männern dominierten Feld durchsetzen. Kurz nach ihrem Dienstantritt in Zwiefalten besuchte sie die Anstalt Grafeneck, wo sie sich auf eigenen Wunsch eine Vergasung von PatientInnen ansah. Als Leiterin der Anstalt Zwiefalten war auch sie an den Deportationen nach Grafeneck beteiligt. Nach dem sogenannten „Euthanasie-Stopp“ im August 1941 wurden PatientInnen durch Giftinjektionen und Nahrungsmittelentzug in den einzelnen Anstalten getötet – im Rahmen der sogenannten dezentralen „Euthanasie“. Obwohl Fauser der Anschuldigung widersprach, selbst Erwachsene und Kinder durch das Injizieren von Medikamenten getötet zu haben, lassen die hohe Sterblichkeitsrate in Zwiefalten und die Aussage einer Pflegerin gegenteiliges vermuten. Fauser selbst führte zu ihrer Verteidigung an, „nicht getötet, sondern nur erlöst zu haben“ (S. 99).

Dr. Max Eyrich war Landesjugendarzt und Kinderpsychiater. Auch er befürwortete das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und sorgte in seiner Position vor allem für die Ausgrenzung von Sinti und Roma aus Jugendheimen und Heilanstalten für Kinder. Seine antiziganistischen Positionen gehen klar aus seinen Tätigkeitsberichten hervor (S. 114). Gemeinsam mit Dr. Otto Mauthe reiste er 1940 für einen Zeitraum von etwa fünf Wochen in verschiedene Heilanstalten, um PatientInnen zu untersuchen und Meldebögen auszufüllen. Das ärztliche Urteil auf diesen Bögen entschied über Leben oder Tod der betreffenden Person. Aus seinen Aufzeichnungen von 1944 geht hervor, dass die „Euthanasie“ für Eyrich ein „vernünftiger Gedanke“ war, was er später vor Gericht bestritt (S. 129).

Das letzte und umfangreichste biographische Kapitel widmet sie Medizinalrat Dr. Otto Mauthe, dem wohl bekanntesten der hier vorgestellten Angeklagten. Mauthe spielte bereits in den vorherigen Kapiteln eine Rolle, weswegen ein Voranstellen seiner Biografie sinnvoll gewesen wäre. Als zuständiger Beamter im Württembergischen Innenministerium war er maßgeblich für die Erfassung, Deportation und Ermordung von PatientInnen beteiligt, sowie an der Verlegung von Kindern in die sogenannten „Kinderfachabteilungen“ – Anstalten, in denen Kinder mit Krankheiten und Behinderungen systematisch getötet wurden.

Das Urteil des Gerichts sprach Max Eyrich und vier weitere Angeklagte frei. Martha Fauser wurde wegen Totschlags zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Otto Mauthe und Alfons Stegmann bekamen für Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit Haftstrafen von jeweils fünf und zwei Jahren auferlegt.

Am Ende ihrer Ausführungen muss Verena Christ ihre eingangs gestellte Forschungsfrage danach, ob es einen typischen „Euthanasie“-Mediziner gab, verneinen. (S. 212) Schon im Vorfeld war angeführt worden, dass die Zahl der vier ÄrztInnen für eine gegenteilige Schlussfolgerung zu niedrig sei (S. 16). Zudem verweist die Autorin auf den arbeitsteiligen Mordprozess und negiert ihre Fragestellung auch anhand der offensichtlichen Beobachtung, dass „nicht nur Ärzt[Innen] zu Täter[Innen] der Massentötungen wurden. […] so wäre es vielleicht richtiger zu formulieren, ob es einen Typ Mensch gab, der sich besonders leicht zum Mitmachen am Krankenmord bewegen ließ“ (S. 212). Diese Schlussfolgerung erfolgt nicht direkt als Ergebnis ihrer vorangestellten, detailreichen Analyse der vier AkteurInnen, sondern hätte sich von vornerein herleiten lassen.

Anhand der in den jeweiligen Unterkapiteln erarbeiteten „Ursachen der Tatbeteiligung“ der vorgestellten AkteurInnen werden diese schließlich in bestehende Modelle und „Tätertypen“ aus der Holocaustforschung eingeordnet: Fauser und Stegmann als „Kollaborateure“, Mauthe als „Schreibtischtäter“ und Eyrich als „Weltanschauungstäter“ (S. 212f.). Hervorgehoben wird außerdem der generationelle Ansatz mit seinem Schwerpunkt auf die Prägung durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der Wirtschaftskrise der Weimarer Republik.1 Zusätzlich führt Christ die Popularität für Eugenik in der Medizin (S. 215f.), den Stand der Anstaltspsychiatrie (S. 217f.) und weitere Faktoren wie Persönlichkeitsmerkmale und Karrierismus (S. 220f.) an, die als Gründe für die Tatbeteiligung dienen.

Die Handlungsmotive der Angeklagten werden nicht gegen diese bekannten Modelle und Faktoren gelesen oder um neue Aspekte erweitert. So generiert die Arbeit weniger neue Erkenntnisse für die allgemeine Erforschung von Handlungsmotiven Tatbeteiligter an Massenmorden, sondern ergänzt bestehende Kategorien um weitere AkteurInnen.

Verena Christs Untersuchung stellt dennoch einen wichtigen und detaillierten Beitrag für die Erforschung der Einzelbiographien, der Verbrechen um Grafeneck und Zwiefalten, und des regionalen Umgangs mit der „Euthanasie“ im Württemberg der Nachkriegszeit dar.

Anmerkung:
1 Siehe u.a. Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichsicherheitshauptamtes, Hamburg 2002; Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903–1989, Bonn 1996; Michael Ruck, Korpsgeist und Staatsbewusstsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972, München 1996.

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