Der Sänger Rio Reiser sang im Oktober 1988 auf zwei Konzerten im Osten Berlins. Als die Liedzeile erklang: „Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist? ... Dieses Land ist es nicht!“ soll tosender Beifall aufgebrandet sein. Das Lied ging allerdings weiter: „Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, damit er Wirklichkeit wird.“ Was damit gemeint sein kann, vermittelt die Habilitationsschrift von Katharina Kunter über den konziliaren Prozess und seine Auswirkungen auf die Evangelischen Kirchen in Deutschland. Sie ist als Teilstudie aus dem EKD-Forschungsprojekt „Die Rolle der evangelischen Kirche im geteilten Deutschland“ erwachsen.
Der in dieser Studie im Mittelpunkt stehende „konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung“ war eine alternative Sammlungsbewegung in beiden Deutschlands, die auf der Ebene der Ökumene insbesondere an den zu Beginn der 1980er-Jahre gewachsenen Friedenshoffnungen anknüpfen und sie international weitertreiben wollte. Mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Verlust der Blockpolarität verlor die Bewegung freilich ihre Schubkraft. Vielfach machte sich Enttäuschung breit.
Viele Prominente in Politik und Evangelischer Kirche aus Ost- wie Westdeutschland spielten darin eine Rolle, auch wenn ihr Engagement meist nur eine Etappe im Rahmen ihrer weiteren Karriere darstellte. Die Namen lassen aufhorchen: Margot Käßmann (heute Bischöfin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Niedersachsens), Wolfgang Huber (seit 1993 Bischof der Berlin-Brandenburgischen Landeskirche und seit 2003 auch Ratsvorsitzender der EKD), Rainer Eppelmann (seit 1990 MdB für die CDU), Markus Meckel (1990 kurzzeitig letzter Außenminister der DDR, danach MdB für die SPD) oder Reinhard Höppner (seit 1994 über zwei Wahlperioden SPD-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt), um nur einige zu nennen. Der konziliare Prozess hatte also offenbar eine Bedeutung für den Ebenenwechsel, den einige der Genannten zwischen aktiven, hierarchiefernen kirchlichen Basisgruppen und den kirchlichen bzw. politischen Hierarchien vollzogen. Hier profilierten sie sich als Organisatoren, Mediatoren und Vorbilder eines zivilgesellschaftlichen Engagements.
Katharina Kunter kommt es nicht auf eine historisch vollständige Rekonstruktion des konziliaren Prozesses an, vielmehr auf die Kenntlichmachung der verschiedenen kirchlichen Handlungs- und Konsultationsebenen in der Bundesrepublik wie in der DDR. Nachdem sie bereits im Jahre 2000 eine einschlägige Studie über die Kirchen im KSZE-Prozess vorlegte, gilt ihr Augenmerk nun besonders den Motiven und Leitideen der Akteure. Einleitend skizziert sie die Weltlage seit dem Ausgang der 1970er-Jahre. Die Stimmungslage war seit der Stationierung der atomaren Mittelstreckenraketen in Westeuropa 1984 bei vielen der beschriebenen Protagonisten durch eine gewisse Frustration gekennzeichnet. Hatten bisherige Arbeiten meist Protagonisten der späteren Wende in der DDR interviewt, ohne deren Aussagen über ihre Vergangenheit quellenkritisch zu hinterfragen, setzt sich Kunter nun genau dies zum Ziel. Neben breiten, auch internationalen Quellenstudien erhielt sie zwischen 1999 und 2001 von insgesamt 40 Personen ausgefüllte Fragebögen mit Fragen zur zeitgeschichtlichen und biografischen Einordung im konziliaren Prozess. Darüber hinaus ergänzte sie ihre Erhebung in Einzelfällen durch Zeitzeugeninterviews, die sie zeitgeschichtlich kontextualisiert. Bei der Auswertung bezog sie auch zeitgenössische schriftliche Äußerungen mit ein und will damit auf die historische Relevanz der unterschiedlichen Prägungen ost- und westdeutscher Christen aufmerksam machen.
Ein aufschlussreiches Ergebnis ihrer Recherchen ist die Rekonstruktion eines informellen Netzwerks einer deutsch-deutschen Freundesgruppe. Sie bestand auf westdeutscher Seite aus dem Missions- und Ökumenebeauftragten der badischen Kirche, Ulrich Duchrow, aus dem Umweltbeauftragten der badischen Kirche, Gerhard Liedke, sowie aus Konrad Raiser, seit 1983 stellvertretender Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen. Auf ostdeutscher Seite handelte es sich um den Erfurter Probst Heino Falcke, den Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer, den Ökumenereferenten des Magdeburger Konsistoriums, Christfried Berger, den katholischen Theologen Joachim Garstecki sowie den Mathematiker Reinhard Höppner, der Präses der Synode der Kirchenprovinz Sachsen war. Diese Männergruppe traf sich seit Ende der 1970er-Jahre auch privat, wobei neben dem christlichen Charakter der Zusammenkünfte auch politische Diskussionen geführt und gemeinsame politische Strategien ersonnen wurden. Kunter unterliegt allerdings nicht der Verführung, dieser Gruppe nun den Schlüssel für die Epoche des konziliaren Prozesses zuzuweisen. Dafür waren die Entwicklungen zu heterogen, die Anstöße und auch die Resonanzen in West wie Ost zu zahlreich.
Kunter beschreibt das Leiden an der ‚Risikogesellschaft‘ Bundesrepublik, die Frustration und Orientierungslosigkeit nach der Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses im Jahr 1984, den Zusammenhang alternativer Lebensstile mit dem Engagement im konziliaren Prozess wie auch das zunehmende Engagement in der ‚Eine-Welt-Bewegung‘ im Westen. Im Osten verweist sie darauf, dass angesichts der Sehnsucht nach internationaler Anerkennung die offizielle Politik ökumenische Kontakte durchaus begrüßte. Dies konnte im SED-Staat Freiheitsräume schaffen, wie dies z.B. an den Kursen für „Ökumenisches Englisch“ von Herlind Kastner deutlich wird. In diesen Kursen der Mutter der heutigen Bundeskanzlerin lasen die Teilnehmer Texte zu Menschenrechten wie auch Reden Gorbatschows oder andere Zeitungsartikel der englischsprachigen Presse. Zudem hatten die ökumenischen Kontakte eine hohe symbolische Bedeutung für die Teilnehmer aus der DDR. Gerade die erfahrene Solidarität und etwa die Impulse aus den Niederlanden stärkten das eigene Selbstwertgefühl. International wirkte die Profilierung des DDR-Kirchenbundmodells als einer konzentriert bekenntnisorientierten Kirche unter säkularisierten Bedingungen, was in der Ökumene zugleich die offensichtliche Abgrenzung von der volkskirchlichen Identität der EKD förderte. Gerade dadurch jedoch wurde die ‚besondere Gemeinschaft‘ beider Kirchen zunehmend in Frage gestellt.
Die zwischen Oktober 1987 und Februar 1988 durch den Erfurter Probst Heino Falcke, den Dresdener Superintendenten Christoph Ziemer und die Ärztin Erika Drees gesammelten zehntausend persönlichen Defiziterfahrungen im SED-Staat markierten eindrücklich die politischen Veränderungsimpulse, die aus dem konziliaren Prozess im Osten hervorgehen konnten. Kunter sieht darin mehrheitlich Voten für Demokratie, Freiheit, Rechtssicherheit, Transparenz und Gerechtigkeit. Mit ihrer Analyse dieser zeitgeschichtlichen Quellen widerspricht sie dem Urteil Friedrich Schorlemmers, der meinte, im Wahlentscheid vom 19. März 1990 sei nur ein Votum für den schnellstmöglichen materiellen Wohlstand zu sehen. In Katharina Kunters Perspektive erscheint der Wahlausgang dagegen als „folgerichtig und wenig überraschend“ (S. 175).
Kunter unterscheidet in West wie Ost protestantische Vertreter eines utopistischen, auf sozialistische Entwürfe orientierten Gerechtigkeitsbegriffs von den Protagonisten eines eher realistischen, auf pluralistischen Vorstellungen basierten Gerechtigkeitsbegriffs. Mehrheitsfähig waren auf beiden deutschen Seiten die Realisten, die ihre „erfüllten Hoffnungen“ feiern konnten, wohingegen die Utopisten nach dem Realitätsschock von 1990 als kleine enttäuschte Minderheit zurückblieben und ihre „zerbrochenen Träume“ bedauerten. Dennoch gaben auch die Utopisten einen wichtigen Widerpart in der Diskussion und rundeten damit im Diskurs das demokratische Spektrum ab.
Die Arbeit Katharina Kunters ist eine erste Bahnung für die Beschreibung des sehr differenzierten konziliaren Prozesses, in der die Unterschiede zwischen West und Ost sichtbar werden. Ein Übergewicht liegt jedoch auf der Betrachtung des konziliaren Prozesses in der DDR, wo er sehr viel größere Auswirkungen zeitigte als im Westen. Im Westen wurden die von der „Neuen Zürcher Zeitung“ als „Mustermesse des Idealismus“ (S. 62) charakterisierten Ökumenischen Versammlungen angesichts des Auftretens von „Berufsökumenikern“ und „Konferenzroutiniers“ ohnehin stärker kritisiert. Kunter verweist darauf, dass die ökumenische Diskussion in der DDR, wenn über Menschenrechte gesprochen wurde, oft eine Art Flucht in die Internationalität vollzog, was Ausblendungen der konkreten Lage in der DDR nach sich zog. Dennoch haben letztlich gerade die eindeutigen Menschenrechtsforderungen der kirchlichen Basis den Veränderungsdruck von 1989/90 mit hervorgerufen. Die deutsche Wiedervereinigung erscheint bei Kunter letztlich als „Störung“ des konziliaren Prozesses, die eine kirchliche Identitätssuche und Krisen in den deutsch-deutschen Partnerschaften zur Folge hatte.
An Kunters Monografie beeindruckt die breite Rezeption internationaler wie privater Quellen auf der einen Seite sowie die Konzentration auf aussagefähige Dokumente aus der jüngsten Vergangenheit andererseits. Manche der zeitnahen Aussagen stützen sich jedoch nur auf wenige Dokumente. Nicht alle heute noch politisch aktiven Zeitgenossen werden mit den Beschreibungen einverstanden sein, doch die Differenz zwischen historischer Rekonstruktion und persönlicher Erinnerung ist eben nicht aufhebbar. Aus dieser Spannung lebt eine Arbeit, die in guter angelsächsischer Tradition die jüngste Vergangenheit zum Thema hat.