Cover
Titel
Postkommunistische Schreibweisen. Formen der Darstellung des Kommunismus in Romanen zu Beginn des 21. Jahrhunderts


Autor(en)
Heinritz, Alena
Reihe
Beiträge zu Literaturtheorie und Wissenspoetik
Erschienen
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Reus, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Die kommunistische Ära wirkt bis heute prägend auf Erinnerungskulturen und geschichtspolitische Deutungen postkommunistischer Staaten – und darüber hinaus. Deutungskämpfe über die Vergangenheit zeigen sich präsent in Geschichtsinstrumentalisierungen wie auch aktuellen (Kriegs-)Rhetoriken. Literatur besitzt eine gesellschaftsprägende Funktion, zugleich ist sie Teil innergesellschaftlicher Debatten und an der Formung von Erinnerungsdiskursen beteiligt. In der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung erlangte postkommunistische, postsowjetische oder spezifische nationale Literatur (etwa post-DDR/post-Wende-Literatur) in den letzten Jahren zunehmende Aufmerksamkeit, verbunden mit zahlreichen literarischen Neuerscheinungen. Alena Heinritz knüpft an dieses seit der Jahrtausendwende gewachsene Forschungsfeld mit ihrer 2021 erschienenen Studie zu postkommunistischen Schreibweisen an. Das Buch ist die überarbeitete Fassung ihrer 2019 an der Universität Graz eingereichten Dissertation. Heinritz untersucht darin Schreibweisen und Darstellungsformen des Kommunismus in sieben Romanen aus dem frühen 21. Jahrhundert und zeigt deren bestechend aktuelle Verflechtungen mit gesellschaftspolitischen Erinnerungsdebatten auf.

Zur Herangehensweise schreibt sie einleitend: „Der Roman als prozessuale Form wird hier als Bühne untersucht, auf der postkommunistische Schreibweisen als Textpraktiken mit Kommunismus und Postkommunismus als Praktiken- und Diskurskomplexe interagieren.“ (S. 16) Die Verfasserin folgt Boris Groys‘ Kommunismusdefinition, die sowohl Utopie als auch historische Ereignisse sowie ideologische Komponenten umfasst. Ebenso begrifflich an Groys angelehnt ist die „postkommunistische Situation“, mit der sie die Nachwehen und gegenwartsprägenden Momente der kommunistischen Ära greifen und dadurch „Schreibweisen, die sich produktiv und sowohl explizit als auch implizit mit ästhetischen, politischen, sozialen und kulturellen Dimensionen von Kommunismus des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen“ (S. 39), untersuchen möchte.

Heinritz geht klassisch im Fünfschritt von Einleitung, Theorie und Methode, kommunistische Schreibweisen, komparatistisch-praxeologische Analysen, Zusammenfassung und Schluss vor. Für die Analyse wurden sieben in russischer, tschechischer, deutscher und französischer Sprache verfasste Romane ausgewählt, die Perspektiven aus und auf Russland, Belarus, Tschechien und Bulgarien abbilden. Zwar kommen Studien zur (Post-)DDR punktuell vor, etwa bezüglich des ästhetisch-politischen Paradigmenwechsels seit der Jahrtausendwende, darüber hinaus bleiben die DDR bzw. Ostdeutschland, wie etwas knapp in einer Fußnote vermerkt, als „Sonderfall“ ausgeklammert (S. 19ff.). Die Grenzziehung ist arbeitspraktisch nachvollziehbar, zugleich zeigen die Romananalysen deutliche Bezugsmöglichkeiten zur „Post-DDR“ bzw. „Wendeliteratur“ und fächern damit spannende Forschungspotentiale auf.

Grundlegend formuliert Heinritz, dass „Literatur über den Kommunismus als ‚poiesis‘ zu verstehen“ sei, was mit Astrid Erll das „Hervorbringen von Wirklichkeiten als ästhetische Verfahren“ (S. 55) meint und in Anschluss an Ansgar Nünnings Kulturnarratologie Literatur als wissensproduzierenden Diskurs auffasst. Mit Andreas Reckwitz‘ praxeologisch-kulturtheoretischem Ansatz werden „literarische Darstellungen des Kommunismus aus der Retrospektive als integraler Bestandteil gesellschaftlicher Praxis“ (S. 60) und Kommunismus „als ein Komplex von Praktiken, Diskursen und ihren Trägern“ (S. 61) verstanden. Die Nutzung des uneinheitlichen, für die Analyse präzisierten Schreibweisen-Begriffs begründet die Autorin damit, dass dieser die „postkommunistische Verwobenheit mit kommunistischen Diskursen und Aussageweisen, Plotstrukturen und narrativen Schemata“ aufzeige, wodurch herausgestellt werden könne, „wie diese Elemente ‚semantisch reinszeniert‘ und damit weitergeschrieben, modifiziert oder gegebenenfalls auch dekonstruiert werden“ (S. 70).

Die postkommunistische Schreibweise des Grotesken besitze etwa eine Tradition in der russischen und sowjetischen Literatur, um innere Widersprüche und Ambivalenzen des kommunistischen „Ideensystems“ produktiv darzustellen. In der postkommunistischen Situation liege dem Grotesken eine „aus den Fugen geratene Zeit“ (Derrida) (S. 94) zugrunde, verknüpft mit postkommunistischen Heimsuchungen oder dem „Gespenst des Kommunismus“ (S. 79ff.). Mit der Schreibweise des Dokumentarischen werde Literatur zum Ort der Reflexion und wirke korrigierend oder intervenierend auf Kontroversen und die (Deutungs-)Macht verschiedener Erinnerungsregime ein. Die Schreibweise des Satirischen sei schließlich mit dem Verhältnis von Literatur und Staat in der postkommunistischen Literatur verknüpft, das verklärt oder auch dekonstruiert werde. Angelehnt an subversive Praktiken der sowjetischen Zeit werde etwa die Trennung zwischen offiziellen und inoffiziellen Sphären in Schelmenromanen humoristisch aufgegriffen und instrumentalisiert. Dabei entziehe sich die beliebte Figur des Tricksters durch seine ambivalente Nutzung für und gegen bestehende Machtverhältnisse „jeglichen festen Zuordnungen“ (S. 145) zwischen Subversion und Affirmation.

Von diesen drei Schreibweisen ausgehend beginnt Heinritz im vierten und vorletzten Kapitel mit der Analyse sieben ausgewählter Romane. „2017“ von Olga Slavnikova wird als „groteske[r] Roman mit satirischer Funktion“ (S. 155) eingeordnet, der die nationalistische Geschichtsschreibung in Russland seit der Jahrtausendwende und begleitende Deutungskämpfe über die Vergangenheit thematisiert. Aus einer Kostümparade zum 100-jährigen Jahrestag der Oktoberrevolution wird ein an marxsche Geschichtswiederholungswarnungen erinnernder Kampf zwischen Weißgardisten und Rotarmisten. Die groteske Zeitdarstellung, in der die Gegenwart unauflösbar von der (sowjetischen) Vergangenheit heimgesucht wird und „die Romanerzählung elliptisch die Leerstelle des diskursiven Erfassens“ umkreist, macht, wie Heinritz hervorhebt, „auf die Notwendigkeit aufmerksam, die nationale und nationalistische Geschichtsschreibung und ihre Deutungsmacht kritisch zu reflektieren“ (S. 175). Sergej Lebedev treibe in „Predel zabvenija/Der Himmel auf ihren Schultern" die „Frage nach den Tätern und nach der Schuld im Kommunismus“ (S. 177) in der postkommunistischen Gesellschaft um. Durch das Erkennen und Benennen vergangener und verschwiegener Verbrechen kann der Erzähler die Heimsuchungen bannen und die verwirbelten Zeiten ordnen. Im Roman „Kloktat dehet/Zirkuszone" von Jáchym Topol agiert eine Trickster-Figur vermittelnd und übersetzend zwischen unvereinbaren zeitlichen Ordnungen und ermöglicht so eine eigene Erzählung des Prager Frühlings abseits tradierter Narrative.

Mit Svetlana Aleksievics Roman „Vremja sekond chènd/Secondhand-Zeit" rückt das Dokumentarische in den Fokus: Der Text versammelt russische und belarussische Stimmen über das Leben in der Sowjetunion, die Umbruchsphase und die postsowjetische Zeit. Die Analyse multiperspektivischer Narrationen, unvereinbarer Erinnerungsregime und des Dokumentarischen als Reflexionsmittel bestehender Erinnerungskontroversen zeigt interessante Perspektiven auf Geschichtswahrnehmungen in Belarus und Russland. Anschließend ringen in Ilija Trojanows Roman „Macht und Widerstand" antagonistische Figuren um die Deutungsmacht über die kommunistische Ära Bulgariens. Das Dokumentarische schlägt sich etwa in Authentifizierungsstrategien nieder: Mit Dokumenten und narrativen Elementen wird die Deutungshoheit der (ehemaligen) Machteliten unterwandert, um die Gegenerinnerung in der literarischen Utopie durchzusetzen.

Die letzten beiden Romane sind der Schreibweise des Satirischen gewidmet. Paul Greveillac lässt in „Les âmes rouge" eine allwissende und bisweilen unzuverlässige Trickster-Figur retrospektiv die Geschichte eines sowjetischen Zensurbehördenmitarbeiters erzählen. Das Verhältnis von Staat und Literatur sowie ambivalente bis paradoxe Verhaltensmuster im System werden am Doppelspiel des Zensors dargestellt, der Erzähler vermittelt zudem als „Fremdenführer“ zwischen den Welten und Zeiten. Eine andere Perspektive auf den Kulturbetrieb der Sowjetunion bietet Viktor Erofeev in „Chorošij Stalin/Der gute Stalin", indem er den Skandal um den 1979 veröffentlichten Almanach Metropol aufgreift. Heinritz liest den Text als Schelmenroman und zeigt, wie Erofeev dokumentarische Elemente für satirische Zwecke in der dualistisch aufgebauten Romanwelt nutzt, zwischen denen die subversive Figur des Tricksters steht. In der neuen Zeit ohne Zensur geht die kritische Satire in einen Künstlerroman über.

Abschließend greift Heinritz nach einer ausführlichen Zusammenfassung erneut den von Groys formulierten „antinationalen Charakter“ des Kommunismus auf, der „den Rahmen eines nationalen Narrativs“ (S. 356) sprenge. Den dadurch entstehenden historischen „Leerstellen“ wirken die postkommunistischen Schreibweisen mittels transnationaler Transkriptionsprozesse literarisch entgegen, denn sie seien zugleich kontextgebunden, also „als Textpraktiken […] in ein konkretes Geflecht aus Praktiken und Diskursen“ (S. 357) eingebettet. Diese Verflechtung von postkommunistischen Räumen und nationalen Staaten ist eine gewinnbringende Perspektive der Studie, beim Lesen fallen jedoch gelegentlich schwammige Begriffsverwendungen auf, wo punktuell stärker (post-)kommunistische, (post-)sowjetische Räume oder einzelne Staaten hätten abgegrenzt werden können. Ab und an erschweren Nominalstil und Wiederholungen den Lesefluss; als besonders anregend sind demgegenüber die Textanalysen hervorzuheben. Zusammenfassend bereichert die Studie von Alena Heinritz die bestehende Forschung zu postkommunistischer Literatur produktiv. Besonders das transnationale Korpus und die detaillierte Textanalyse, verflochten mit den nationalen Erinnerungspolitiken und gesellschaftlichen Debatten, bieten spannende Einblicke in vergangene wie gegenwärtige Auseinandersetzungen im Spannungsfeld von Literatur, Staat und Gesellschaft.

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