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Titel
Spielräume eines Pfarrers vor der Reformation. Ulrich Krafft in Ulm


Autor(en)
Hamm, Berndt
Reihe
Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Ulm 27
Erschienen
Anzahl Seiten
451 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Auge, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Was als Festvortrag des Wahlulmers Berndt Hamm zum 500-jährigen Gründungsjubiläum der Stadtbibliothek Ulm am 1. April 2016 seinen Anfang nahm, mündete nun nach jahrelangen Studien, da die Person des Bibliotheksgründers Dr. Ulrich Krafft, sein Wirken als Ulmer Stadtpfarrer und seine erhaltenen Predigten so faszinierend waren und sind, in ein überaus eindrucksvolles Buch von 450 Seiten Umfang. Der Anlass wie das Resultat desselben verwundern eigentlich nicht: Denn genannter Ulrich Krafft (ca. 1455–1516), seit 1501 Pfarrer in Ulm, und sein Vermächtnis stellen in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung dar: Krafft war zu seiner Zeit einer der angesehensten Rechtsgelehrten Deutschlands, der sich im Selbststudium der Theologie verschrieb, dann Inhaber der größten Pfarrei im Reich wurde, sich in dieser Funktion eines doch ungewöhnlichen Reform- und Predigteifers befleißigte und nicht zuletzt deswegen der einzige spätmittelalterliche Pfarrer ist, dessen Predigten vor der Reformation in den Druck gingen. Die Predigten boten, so Hamm, „nicht die gewohnte theologische Durchschnittskost […,] sie bedienten sich […] der deutschen Sprache mit einer Ausdruckskraft und Leichtigkeit, wie man sie bei einem Professor des Römischen Rechts, der sich jahrzehntelang nur auf dem Boden der lateinischen Gelehrtensprache bewegt hatte, nicht erwarten konnte“ (S. XV). Kraffts Spielräumen im Denken, Reformstreben und Agieren möchte Hamm in seinem Buch in zweifacher Richtung nachspüren: einer verallgemeinernden „mit der These, dass in Ulrich Krafft ein bestimmter, für das beginnende 16. Jahrhundert charakteristischer Pfarrertyp hervortrat“, und einer individualisierenden, „die sich auf das Besondere Ulrich Kraffts konzentriert“ (S. XIV). Um es vorweg zu nehmen: Dieses Ziel, das Ungewöhnliche im Allgemeinen von Ulrich Kraffts Vita herauszufiltern und mit letzterem zu spiegeln, ist dem Verfasser voll und ganz gelungen.

Nach Geleit- und Vorwort sowie Danksagung (S. XI–XX) widmet sich Hamm zunächst Ulrich Kraffts Bibliotheksstiftung als solcher (S. 1–18). Das Besondere an der Gründung war, dass sie eine Pfarr- und Klerikerbibliothek sein sollte, die zugleich als reichsstädtische Bibliothek konzipiert war. Deren Umfang und Charakter geht der Autor im folgenden Kapitel nach (S. 19–31). Die Bibliothek wartete mit dem Neuesten und Besten ihrer Zeit auf, wie man bei der Lektüre erfährt: So befanden sich seinerzeit brandaktuelle Titel zur Frage des Umgangs mit Juden, zum Hexenglauben, zur Gelehrsamkeit der Astrologen, zur damals grassierenden Pest darunter, des Weiteren ein viel diskutierter Traktat Konrad Summenharts (um 1458–1502) zur Zehnt- und Zinsproblematik von 1497, ein Traktat des Tübinger Professors, Kanzlers und Humanisten Johannes Vergenhans-Naukler (um 1430–1510) zur Simonie von 1500, ebenso zeitgenössische Traktate italienischer Gelehrter. Dieser Befund, so Hamms Schlussfolgerung, korrigiere jüngere Ansichten, dass Texte, die in der Inkunabelzeit gedruckt wurden, im Regelfall alt bzw. veraltet waren.

Etwas retardierend ist sodann Kapitel 3 dem Lebens- und Bildungsweg des aus einer der angesehensten Patrizierfamilien Ulms stammenden Krafft bis zum Amtsantritt als Pfarrer seiner Geburtsstadt gewidmet (S. 33–51), woran sich das vierte Kapitel – das wegen seines nahen Bezugs zu Kapitel 2 vielleicht besser mit dem dritten vertauscht worden wäre – zu den einzelnen Wissensgebieten seiner Büchersammlung anschließt (S. 53–68). Juristische und theologische Werke dominierten darin, kann man erfahren, sowie die studia humanitatis. Moralphilosophie und Tugendlehre, Geschichte sowie Naturkunde waren bzw. sind darin vertreten, außerdem Medizin, Kulturgeographie, Kosmographie, Astronomie und Astrologie – alles Themen, die um 1500 ganz allgemein besonders interessierten. Ob Krafft als Münsterpfarrer aber noch viel Zeit fand, humanistische Studien zu betreiben, ist für Hamm fraglich. Immerhin weisen die erhaltenen Drucke seiner Bibliothek nahezu keine Randnotizen und Vermerke auf, wie er festhält. Die daran angehängte Frage, ob Krafft nun ein „waschechter“ Humanist wie etwa ein Sebastian Brant (1457/58–1521) oder Jakob Wimpfeling (1450–1528) war, beantwortet Hamm salomonisch offen, vor allem weil für die Humanisten typische Briefe mit den üblichen Indizien für einen humanistischen Habitus fehlen. Hamm möchte in ihm eher einen „Freund humanistischer Studien“ erkennen (S. 67), der von den Erziehungs-, Bildungs- und Reformidealen der (oberrheinischen) Humanisten ergriffen war und eine Synthese aus traditionell-christlichem und humanistischem Menschenbild und Naturverständnis anstrebte. Freilich wies seine Bibliothek auch mehrere Werke italienischer Humanisten auf, die sich mit dem schönen Reden, Schreiben und Dichten beschäftigten.

Mit dem fünften Kapitel wendet Hamm sich Krafft als Münsterprediger und seinen beiden gedruckten Predigtzyklen von 1503 und 1514 zu (S. 69–92), um nächstfolgend die Bildtheologie, „d.h. die emblematische, allegorische und metaphorische Konzeption“ (S. 93) beider Predigtreihen in Kapitel 6 eingehend zu behandeln (S. 93–211). Hamm veranschaulicht überzeugend Kraffts Vorliebe für eine allegorische Predigtweise anhand seines „Geistlichen Streits“ unter dem „Söldnerhauptmann Christus“ und der „Arche Noe“, die jeder Christ durch seine Lebensführung in ihren Einzelkomponenten (geistliches Holz = Furcht Gottes, geistlicher Hobel = die Geduld, geistlicher Leim = die Gottes- und Nächstenliebe, geistliche Speise = der eucharistische Leib Christi usw.) bauen müsse. Im Folgekapitel geht es um Kraffts Position als Pfarrer und Prediger der Stadt Ulm (S. 213–271). Krafft wird als Vermittler zwischen Klerus und Laienschaft ebenso sichtbar wie als „Gewissen der Stadt“ (S. 224) in moralischer und sozialer Hinsicht und zugleich mit Affinitäten zu den Lehrmeinungen Gabriel Biels und Geiler von Kaysersbergs sowie zu einem humanistischen Menschenbild. Auf markante theologische Lehren in Kraffts Münsterpredigten hebt das Kapitel 8 in sage und schreibe 33 Unterabschnitten ab (S. 273–375). Unter anderem geht es dabei um die menschliche Vernunft als Leitnorm eines guten Lebens, die Regentschaft der Vernunft und den freien Willen, das furchtbare Jenseitsgericht oder den doppelten Imperativ: Kein Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit ohne Angst vor seiner Strenge usw.

Neuntens liefert Hamm einen Rückblick samt Synthese, die nochmals um seinen zentralen Gedanken kreist, Krafft sei in seiner Zeit ein außergewöhnlicher und zugleich typischer Pfarrer gewesen (S. 377–408). Allein schon durch seine intensive Predigttätigkeit und die zeitgenössische Publikation seiner beiden Predigtzyklen behauptet Krafft, Hamm zufolge, einen Sonderstatus. Krafft sei der erste Autor der Christentumsgeschichte überhaupt, von dem eine Predigtreihe über die Arche Noah überliefert ist, die durch die Interpretation des Noah-Bauwerks als rettende Lebensarche eine anthropologische Wende beinhaltete. Letztere komme auch durch die Betonung der Vernunft und des freien Willens in Kraffts Werk zum Ausdruck. „Zugleich war er mit diesen drei Besonderheiten zeittypisch, und man kann sagen, dass das Außergewöhnliche an ihm eine Zuspitzung des Typischen war“ (S. 394). Seine außergewöhnliche Bibliotheksstiftung vermehrt diesen besonderen Rang gewissermaßen weiter. Kraffts Bibliothek lieferte Orientierungswissen für die Kirche und Stadt; ihr Begründer wirkte als konservativer Reformer vor der Reformation und erwies sich als Prediger im Spannungsfeld zwischen Modernität und Traditionsgebundenheit. Ganz typisch betrachtete sich Krafft als „religiöser Dirigent“ seiner Stadt (S. 396). Hamm sieht in ihm folglich einen „Menschenfreund“ (S. 403), der auch deswegen zum „Gewissen der Stadt“ wurde und werden konnte. Wiederum außergewöhnlich gelang es ihm dabei, den Rat von seinen sozialethischen Ansichten von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu überzeugen. Dieser Erfolg lag daran, wie Hamm erläutert, dass er ein Kind der Stadt Ulm von besonders vornehmer Herkunft war, dass er zugleich auf eine Karriere als glänzender Jurist verweisen konnte, dass es sich bei ihm zudem um einen nicht minder glänzenden Theologen handelte und dass er über ein hohes Ansehen als charakterlich integre Persönlichkeit verfügte. Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 409–425), ein hilfreiches Abbildungsverzeichnis (S. 426) und ein nützliches Register der Bibelstellen, Personen und Sachen (S. 427–449) beschließen den erfreulich ordentlich redigierten (ein wirklich seltener Tippfehler Provis[i]on, S. 43) und ansprechend, da übersichtlich aufgebauten und gestalteten Band.

Hamm ist mit seinem neuen Buch über den Ulmer Pfarrer Ulrich Krafft, seine Bibliothek und seine Predigten in der ihm eigenen sprachlichen Behändigkeit und zugleich gedanklichen Tiefenschärfe ein großer Wurf gelungen, wodurch der Inhalt voll und ganz zum großen Format des Buches (21,5 x 28,5 cm) passt. Er vermag an dem gut gewählten Ausnahme- und zugleich Allgemeinbeispiel Kraffts anschaulich wie eindrucksvoll unser Bild von der vorreformatorischen Pfarrerschaft zu erweitern und teilweise zu korrigieren. Im Ausloten zwischen Neuem und Ungewöhnlichem einer- und dem eingespielten theologischen Denken, Handeln und Wollen andererseits macht Hamm Kraffts Handlungsspielräume aus. Gerade hinsichtlich der Handlungsspielräume, die immerhin den Buchtitel dominieren, hätte man sich natürlich ein paar grundlegende, theoretische Gedanken in Anlehnung an die durchaus existierende Forschungsdebatte zu Handlungsspielräumen gewünscht – das bleibt Hamm seinen Leser:innen schuldig –, aber dieses Defizit sieht man dem Verfasser angesichts seiner wirklich Respekt erheischenden Untersuchung über den Pfarrer Ulrich Krafft in Ulm nach.

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