S. Koschut (Hrsg.): Emotionen in den Internationalen Beziehungen

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Title
Emotionen in den Internationalen Beziehungen.


Editor(s)
Koschut, Simon
Series
Emotionen in Politik und Gesellschaft 1
Published
Baden-Baden 2020: Nomos Verlag
Extent
231 S.
Price
€ 49,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jost Dülffer, Historisches Institut, Universität zu Köln

Emotionen sind „in“, sie haben nun auch bei uns das Feld der Internationalen Beziehungen (IB) erreicht. Simon Koschut, als Politologe Privatdozent und Heisenberg-Stipendiat am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, versammelt in diesem Band neun Fallstudien, die er in das Forschungsfeld einordnet. Zugleich ist der Band Auftakt einer einschlägigen Reihe, die wohl allgemeiner aus sozialwissenschaftlicher Sicht den Emotionen gewidmet werden soll. Was Emotionen sind und wie Gefühle, Affekte und Stimmungen abgegrenzt werden können, bleibt auch nach Koschut „hoch umstritten“ (S. 9). Sie gibt es spontan, sie werden gerade in der internationalen Politik auch inszeniert. Oft finden sich mehrere Emotionen gemischt. Emotionen haben einzelne Menschen, aber auch soziale Gruppen und Verbände. Am leichtesten kann man wohl sagen: Sie ergänzen das traditionelle Modell von rational choice, ja befinden sich mit diesem in Wechselwirkungen. Eine Matrix von Koschut (S. 35f.) weitet das Forschungsfeld in andere Disziplinen aus und nennt Theoretiker.

Robin Markwica untersucht den Angriffsbefehl Saddam Husseins auf Kuwait 1990. Ob es dazu erforderlich ist, sich auf die Appraisal-Theorie der Sozialpsychologie zu stützen und sechs Hauptemotionen zu kategorisieren, steht dahin. Jedenfalls sucht er zu zeigen, dass dessen Aktion zunehmend von Wut über fehlende kuwaitische Verhandlungsbereitschaft getragen war. In ganz ähnlicher Weise nähert sich Regina Heller den Emotionen in Russlands Politik gegenüber dem Westen, konkret: der zunehmenden Wut unter anderem bei Wladimir Putin über den in seiner Sicht verweigerten Status in der Zusammenarbeit mit dem Westen. Das begann demnach ab 1990, wie narrativ dicht dargelegt wird, und reicht bis an die unmittelbare Gegenwart heran. Emotionale Erfahrung und Erwartung gingen demnach eine sich verstärkende Verbindung ein. Was nicht thematisiert wird: Wie verhielt sich die Wut eines Autokraten wie Saddam Hussein und die kollektive russische Wut bis hin zu Putin zueinander? Wie kriegsfördernd ist die eine oder andere?

Das Foto des an den Strand gespülten Flüchtlingskindes Alan Kurdi von 2015 ging um die Welt. Gabi Schlag untersucht dessen Rezeptionsgeschichte als „globale Ikone des Mitgefühls“ (S. 64). Dabei gelingt es ihr sehr gut darzustellen, dass Bildlichkeit ein zentrales Kommunikationsmedium für Emotionen bedeutet, aber auch der Wandel vom journalistischen Scoop zu einem dauerhaften Appell. Ob das internationale Politik veränderte, sei dahingestellt.

Von einem performative turn geht Jelena Cupac aus, wenn sie die Gefährdungen der liberalen Ordnung zum Thema macht. Diese werde durch Narrative bestritten, die sich nicht durch objektive („rationale“? JD) Merkmale auszeichneten, sondern eben durch Schlüssigkeit, die emotional bedingt sei. Die entsprechenden Akteure schafften es auf diese Weise mit glaubhaften Narrativen, die „grievances“ des Volkes zu bündeln. Die Schutzverantwortung, responsibility to protect (R2P) steht im Zentrum. Wer übernimmt dafür im internationalen System, das als Mehrebenensystem bis hin zum UN-Sicherheitsrat entfaltet wird, Verantwortung? Verantwortung heißt zugleich, dass ein entsprechendes „Verantwortungsgefühl“ da sein muss, und hiermit sind dann Emotionen angesprochen. Die Autorin nimmt an, dass „emotionale Überzeugungen ihre Bedeutung verlieren, wenn ihnen ihre emotionale Qualität entzogen wird“ (S. 105). Wie das passieren kann, bleibt mir unklar. Immerhin gibt Cupac durch sprechende Zitate des „gruppenspezifischen Emotionsrepertoires der R2P-Generation“ (S. 115) einen guten Überblick, liefert aber auch Unterschiede etwa der aufeinander folgenden US-Botschafterinnen bei der UN, Samantha Power oder Susan Rice.

„Midán-Momente“ sind für Bilgin Ayata und Cilja Harders (im Anschluss an eine einschlägige Buchpublikation) „Umbruchphasen, in denen festgefügte Emotionen wie etwa Angst vor Repression destabilisiert und so neue Formen des Miteinander möglich werden“ (S. 123). Das illustrieren sie gekonnt an den Manifestationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo 2011, deren Dauer mal mit 15 Tagen, mal mit 18 Tagen angegeben wird. Wichtig war die Raumerfahrung der Demonstranten, aber auch die Präsenz menschlicher Körper. Es gab also „zeitlich-räumliche Arrangements mit sehr unterschiedlichen sinnlichen Qualitäten“ von Angst, Glück, Sorge, also Emotionen, die sich zum Teil überlappten (S. 130f.). Der Blickwechsel der Autorinnen bringt es auf den – nicht unbedingt emotionalen – Begriff: Der Tahrir-Platz sei zugleich utopischer Ort und soziopolitisches Schlachtfeld gewesen (S. 133).

Emotionen in die Terrorismusforschung einbringen möchte Maéva Clément. Diese bildeten ein sinnvolles Prisma, mit dem sich etwa kumulative Radikalisierung besser untersuchen lasse, aufs Internationale gewandt: das sei auch für den Krieg gegen den Terror fruchtbar zu machen. Den sozialen Medien widmet sich Sybille Reinke de Buitrago, wenn sie emotionale Frames in islamistischen Online-Diskursen und ebenso in rechtsextremistischen oder populistischen Diskursen benennt. Der Autorin geht es bei den als extrem schwierig betrachteten Umgangsweisen letztlich um eine Stärkung von Medienkompetenz bei der Bekämpfung des Terrorismus, nicht gerade ein neuer Ausblick.

Nimmt man die bisher vorgestellten Beiträge zusammen, so haben sie gemeinsam, etwas mit Emotionen zu tun zu haben; einige sprechen gar von einem emotional turn. Einige von ihnen haben kaum etwas mit internationalen Beziehungen zu tun, postulieren nur, man könne den Ansatz auf IB anwenden. Wo die Beiträge empirisch genauer werden – bei R2P, bei Saddam Hussein und beim Russland Putins –, fügen sie einleuchtend die postulierte Dimension hinzu. Wieweit diese jedoch in sich Erklärungswert oder – für Politologen oft wichtig – prognostischen Wert haben, bleibt offen. Der Iraker war so wütend, dass er Krieg machte – die Russen heute sind auch wütend, wenn auch anders: Was folgt daraus angesichts anderer Erklärungsmöglichkeiten und weiterer Motive?

Aus dem Band heraus sticht Harald Müller, der ehemalige Direktor der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung. Unter dem Titel „Gerechtigkeit in den internationalen Beziehungen“ zieht er „Lehren aus der Revolution in den Humanwissenschaften für die Friedensforschung“. Ausgehend vom engen Bezug von Rationalität und Emotionalität in humanen Entscheidungsprozessen betont er, dass es rituelle Techniken gebe, um in der politischen und sozialen Praxis geteilte Emotionen herzustellen. „Wer nicht im Echoraum seiner Theorie-Sekte sitzt, wird sich schnell in diese Dimension internationaler Politik hineinfinden.“ (S. 174) Und hier kommt die Frage von Gerechtigkeit in der internationalen Politik und zumal unter den Kriegsursachen hinein. Distributive Konflikte, Herrschafts- und Statuskonflikte werden an einigen Beispielen plastisch. Der moralisch einzufordernde und der rational durchsetzbare Anspruch gingen und gehen oft nicht zusammen. Die Trennung von Moral einerseits und Emotionalität andererseits sei im westlichen Denken verwurzelt, lasse sich jedoch mit den Erkenntnissen der neueren Neuronalwissenschaften wohl nicht mehr halten. Hier wird ein neues Forschungsprogramm eher postuliert als ausformuliert. Gerechtigkeit und Moral mit Emotionen zu verbinden könnte eine lohnende Aufgabe sein – aber anders als es der Band sonst vorschlägt.

Noch etwas fällt auf: Die Beiträge ignorieren bis auf Ausnahmen einerseits deutsche und andererseits geschichtswissenschaftliche Studien; von Historikern hochgeschätzte sozialwissenschaftliche MethodikerInnen wie Barbara Rosenwein, William Reddy, Jan Plamper oder Ute Frevert (um nur einige zu nennen) sind weitgehend unbekannt.1 Die Beiträge hier listen jeweils seitenweise einschlägige englischsprachige Literatur auf, die erstmals in den deutschen Sprachbereich eingebracht wird (ein Beitrag bleibt aber auf Englisch stehen); 42 Seiten im Buch sind Literaturlisten. Trotz gemeinsamer sozialwissenschaftlicher Grundierung von Historie und Politologie bleiben zwei Welten nebeneinander stehen, was nicht nur an letzterem Fach liegen dürfte. Mindestens vier Aufsätze sind zugespitzte Zweitverwertungen von Aufsätzen oder Büchern. Es wäre sicher zu despektierlich, Müllers gerade zitiertes Diktum vom Echoraum einer Theoriesekte auf diesen Band anzuwenden – dafür sind die Ansätze und Ergebnisse zu disparat. Der allgemeine Eindruck dieses mit dem Anspruch eines innovativen Forschungsfeldes eingebrachten Bandes ist bis auf Weiteres: ein bunter Blumenstrauß von widersprüchlichen Ansätzen, deren anwendbarer Stellenwert für empirische Erkenntnis oder künftige Forschungen unklar bleibt.

Anmerkung:
1 Vgl. z.B. Hélène Miard-Delacroix / Andreas Wirsching (Hrsg.), Emotionen und internationale Beziehungen im Kalten Krieg, München 2020.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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