E. Walter-Busch: Formen angewandter Sozialforschung

Titel
Faktor Mensch. Formen angewandter Sozialforschung der Wirtschaft in Europa und den USA 1890-1950


Autor(en)
Walter-Busch, Emil
Reihe
Analyse und Forschung 46
Erschienen
Konstanz 2006: UVK Verlag
Anzahl Seiten
494 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karsten Uhl

Emil Walter-Busch, der als Titularprofessor für Sozialpsychologie und angewandte Sozialforschung und zudem als Direktor am Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitsrecht in St. Gallen tätig ist, hat sich der Aufgabe angenommen, eine „Formengeschichte angewandter Sozialforschung der Wirtschaft” (S. 9) zu schreiben. Walter-Busch zeigt sich dabei als ausgezeichneter Kenner der Materie, der in einigen Kapiteln auch auf eigenen Forschungsergebnissen der letzten Jahre aufbauen kann. Der Titel „Faktor Mensch“ mag die Erwartungshaltung auslösen, es liege eine Kultur- und Wissenschaftsgeschichte verbindende Studie vor, wie sie etwa zu einem verwandten Thema Anson Rabinbach mit „The Human Motor“ 1 geschrieben hat. Walter-Busch hat sich aber andere Ziele gesteckt; er möchte an die Verdienste von „Pionieren der Erforschung des Faktors Mensch in der Wirtschaft erinnern“ (S. 23).

In diesem ideengeschichtlichen Sinne ist das Buch gegliedert: Die zwölf Kapitel stellen jeweils ein oder zwei „Pioniere“ der angewandten Sozialforschung vor. Walter-Busch ist sich der Problematik bewusst, dass diese Auswahl letztlich einen willkürlichen Charakter tragen muss. Es geht ihm in der Auswahl zum einen darum, die „ganze Bandbreite sozialwissenschaftlicher Argumentationsstile“ (S. 25) darzustellen, zum anderen verfolgt er das Ziel, verkannten Autoren und Autorinnen zu einer Würdigung zu verhelfen. Bei der Interpretation der Texte räumt Walter-Busch der biografischen Methode großen Raum ein, von einer „nüchtern strukturgeschichtlichen“ (S. 38) Vorgehensweise distanziert er sich. Der Methode entsprechend sind nicht strukturelle Kriterien, sondern die Persönlichkeit der untersuchten Autoren und Autorinnen ausschlaggebend für die Untergliederung des Buches in vier Teile. Die einzelnen Kapitel lassen sich dabei als von einander weitgehend unabhängige Aufsätze lesen, in denen der Zugang zum Werk des/r jeweiligen Autors/in durch ein Close Reading längerer Zitatpassagen gesucht wird. Zunächst stellt Walter-Busch „gemeinnützige Unternehmer“ in den USA und Deutschland vor, anschließend widmet er sich der Verwissenschaftlichung des Managements in Frankreich, Großbritannien und der Schweiz. Im dritten Teil werden Forscherinnen verschiedener Nationalität und Richtung vorgestellt, im vierten Teil geht es einerseits um die Human Relations-Bewegung, andererseits um ihre marxistischen Kritiker.

In den ersten Kapiteln verfolgt Walter-Busch am Beispiel von John D. Rockefeller senior und junior sowie Wilhelm Merton und Walther Rathenau die Frage, wodurch diese Unternehmer zur Förderung der ökonomischen Sozialforschung motiviert worden seien. Anhand von Textauszügen und biografischen Episoden kommt Walter-Busch zu dem Schluss, dass in diesen Fällen entweder eine religiöse Ethik oder ein sozialliberaler Fortschrittsglaube bzw. eine Kombination dieser beiden Faktoren ausschlaggebend war. Walter-Buschs Konzept einer „erzählbaren Lebens- und Werkgeschichte“ (S. 23) geht mit der bewussten Entscheidung für einen stark narrativ geprägten Stil einher. Eine kurze, durchaus repräsentative Passage über Walther Rathenau soll dieses Vorgehen Walter-Buschs verdeutlichen: „Walthers Beziehung zu seinem Vater war lange Zeit ziemlich problematisch, da dieser den ihm näher stehenden, 1871 geborenen Sohn Erich bevorzugte. Walther waren von der Mutter, der er sich lebenslang eng verbunden fühlte, beachtliche künstlerische Talente vererbt worden“ (S. 64).

Im zweiten Teil des Buches beschäftigt sich Walter-Busch mit dem Einfluss der vor allem von den Amerikanern Frederick Taylor und Henry Ford inspirierten Rationalisierungsbewegung, die nach dem Ersten Weltkrieg alle Industrienationen erfasst habe. Walter-Busch besticht mit dem Argument, das Entscheidende an der europäischen Taylor-Rezeption sei weniger in der direkten Anwendung von dessen Zeit- und Bewegungsstudien, sondern in einem mit Taylors Überlegungen in Zusammenhang stehenden „Paradigmenwechsel“ (S. 146) zu sehen. Taylors Ideen hätten Ingenieure und Sozialforscher in Europa von der „ebenso überragenden wie verkannten Bedeutung des Faktors Mensch im Betrieb“ (S. 151) überzeugt. Stark arbeitet Walter-Busch heraus, dass die in der Forschung vorherrschende Betonung eines vermeintlichen Dualismus zwischen Tayloristen und der ab den 1940er-Jahren einsetzenden Human Relations-Schule an den Gemeinsamkeiten beider Ansätze vorbeigehe. So seien viele Wirtschaftspraktiker im Gewand des Taylorismus bereits in den 1930er-Jahren „Human Relations-Theoretiker im weiteren Sinne und avant la lettre“ (S. 171) gewesen. Am Beispiel des Direktors des Internationalen Arbeitsamtes, des französischen Sozialisten Albert Thomas, zeigt Walter-Busch, dass Taylorismus und Fordismus auch auf die Linke, sofern sie auf soziale Reformen im Einklang mit der Steigerung der Produktivität hoffte, eine Ausstrahlungskraft haben konnte.

Die im dritten Teil untersuchten Autorinnen eint allein ihr Geschlecht: Ansonsten reicht das disparate Spektrum von der einflussreichen sozialistischen Sozialforscherin Beatrice Webb bis zur konservativen Sozialfürsorgerin Else Zübler-Spiller. Offensichtlich scheint Walter-Busch in der Geschlechtsidentität einen adäquaten Zugang zum Werk der Autorinnen zu sehen. So erklärt er eine unglückliche Liebe zum Ausgangspunkt der Karriere der durch ihre Sozialreportagen berühmt gewordenen Beatrice Webb. Die Sozialforschung habe für die spätere Mitgründerin der London School of Economics „die Bedeutung einer kompensatorischen Sekundärpassion“ (S. 179) gehabt. Überzeugender gelingt Walter-Busch der Zugang zur „avantgardistischen Managementphilosophie“ (S. 225) Mary P. Folletts. Deren aus der Praxis der amerikanischen Nachbarschaftsbewegung gewonnenen basisdemokratischen Überzeugungen ließen sich nach dem Niedergang dieser sozialen Bewegung in den 1920er-Jahren ohne größere Veränderungen für die Professionalisierung des Managements nutzbar machen. Wissen über Organisation, Mitarbeiterführung und Konfliktmanagement unter dem Leitbegriff der Integration machten Follett zu einer „Starreferentin“ (S. 225) in Managementkursen. Walter-Busch erklärt diesen Erfolg, wie überhaupt jeden Erfolg angewandter Sozialforschung, mit der Nähe der Forschung zur Praxis und zum Common Sense. Allein am Beispiel Mary van Kleeks, der Direktorin des International Institute of Industrial Relations, spielt das Geschlecht des Forschungsobjektes „Faktor Mensch“ implizit eine Rolle. 2 Van Kleek konzentrierte sich in ihren Forschungen auf Arbeiterinnen, deren Lage sie durch eine konsequente Umsetzung von Taylors Ideen verbessert sehen wollte: „When management in industry has become completely scientific, exploitation of women workers will be impossible“ (S. 253).

Im letzten Teil geht Walter-Busch auf Elton Mayo und die Human Relations-Bewegung ein. Zu diesem Thema hat derselbe Autor bereits 1989 eine Monografie vorgelegt. 3 Walter-Busch billigt Mayos Schriften eine „geringe wissenschaftliche Substanz“ (S. 346), aber zugleich großen Einfluss wegen ihrer Anwendbarkeit zu. Mayo sei Zeit seines Schaffens seinen industriepsychiatrischen Vorstellungen treu geblieben: In seiner Heimat Australien habe er sich als Therapeut damit gebrüstet, einen neurotisch erkrankten Arbeiter gleichzeitig von seiner Krankheit als auch von seiner Klassenkampfneurose zu heilen, und auch nach der Übersiedlung in die USA sei sein Ziel zunächst gewesen, „eine Fabrik als eine psychiatrische Klinik aufzufassen“ (S. 326). Diese Vorstellung ließ sich nicht ohne Weiteres umsetzen, erst in den späten 1920er-Jahren ermöglichte die „zeitgemäßere Sprache der Human Relations“, also die Betonung von Partizipation und Integration, es ihm, seine „industriepsychiatrischen Vorstellungen“ weitgehend umzusetzen (S. 335). In den beiden folgenden Kapiteln stellt Walter-Busch als Kontrast „kritische Konzepte angewandter Sozialwissenschaft“ (S. 347) am Beispiel des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und Paul Lazarsfelds vor. So reizvoll der Gedanke ist, in diesem Zusammenhang die kritische Theorie zu besprechen, wirken diese – in sich überzeugenden – Abschnitte doch letztlich in dem vorliegenden Buch fehl am Platze. Walter-Busch, der selbst bei Adorno promovierte, stellt treffend fest, dass Pollock und Horkheimer nicht daran glaubten, „dass man Managementpraktiken im Kapitalismus entscheidend humanisieren könne“ (S. 436). Folglich analysierte Pollock im Gegensatz zu den anderen vorgestellten Autoren nicht einzelne Betriebe, sondern das System des „Staatskapitalismus“. Der ebenfalls in die USA emigrierte Austromarxist Paul Lazarsfeld war eine wichtige Figur bei der Verwissenschaftlichung der Marktforschung, aber auch dieses Kapitel fällt aus dem Rahmen, weil hier nicht wie in den anderen Kapiteln die Produktions-, sondern die Konsumptionsforschung im Mittelpunkt steht.

Emil Walter-Busch gelingt es in seiner ideengeschichtlichen Arbeit, profund in das Werk einzelner Autoren/-innen der ökonomischen Sozialforschung einzuführen, wobei er unpublizierte Briefwechsel und Vorträge sinnvoll in seine Interpretation einbaut. Gleichzeitig entsteht durch die Zusammenstellung weitgehend autonomer Einzelkapitel ein Eindruck sowohl von der Tendenz als auch von der Vielfalt der angewandten Sozialforschung der Wirtschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Allerdings hat Walter-Busch sein Vorhaben nicht umsetzen können, „darzustellen, wie sich der unumkehrbare Langfristtrend der Verwissenschaftlichung in Wirtschaft und Gesellschaft ausgewählter Nationen auch als Prozess ihrer Versozialwissenschaftlichung durchgesetzt hat“ (S. 449). Für diese Zielsetzung ist der von ihm gewählte personenzentrierte Aufbau des Buches weniger geeignet, als es ein struktureller Zugang gewesen wäre.

Anmerkungen:
1 Rabinbach, Anson, The Human Motor. Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, Berkeley, Los Angeles 1990.
2 Ausführlich behandelt dieses Thema die von Walter-Busch nicht rezipierte Habilitationsschrift von: Weyrather, Irmgard, Die Frau am Fließband. Das Bild der Fabrikarbeiterin in der Sozialforschung, 1870-1985, Frankfurt am Main 2003.
3 Walter-Busch, Emil, Das Auge der Firma. Mayos Hawthorne-Experimente und die Harvard Business School, 1900-1960, Stuttgart 1989.